: Der alte Mann Edmond Maire
■ Heute tritt nach 17 Jahren Frankreichs legendärer Gewerkschaftsführer ab / Ein gescheiterter Vordenker oder ein Pessimist, der Recht bekam? / Abkehr von der Staatsfixiertheit: Die Krise als Chance für einen historischen Kurswechsel / CFDT-Kongreß in Straßburg
Paris (taz) - Er denkt der Gesellschaft voraus. Seine Heimat ist das Proletariat. Er haßt Kommunisten und sozialistische Dogmen. Politische Parteien sind ihm verdächtig. Er ist ein Störenfried. Seine Ideen und Konzepte entwickelt er ohne Rücksichtnahme auf andere. Edmond Maire, heute 57 Jahre alt, ist Frankreichs - und vielleicht Westeuropas? bedeutendster Gewerkschafter der Nachkriegszeit. 17 Jahre lang stand er konkurrenzlos an der Spitze von Frankreichs zweitstärkster Gewerkschaft, der CFDT. Wie kein anderer, der eine solche Machtposition über einen vergleichbaren Zeitraum innehielt, versuchte Edmond Maire, der Arbeiterbewegung neue Wege zu weisen. Dabei ist er gescheitert. Deshalb tritt er heute von seinem Amt zurück.
Am Anfang stand ein Wort: „autogestion“, die Selbstverwaltung. Aus diesem Wort, das im Mai '68 sowohl Zauberformel als auch Worthülse ist, macht Edmond Maire mit der CFDT in den siebziger Jahren Gewerkschaftstheorie und -praxis. Am 16.August 1973 erlebt die französische Gewerkschaftsbewegung einen nie wieder erreichten Höhepunkt. Hunderttausend sind in Paris zu einer Solidaritätskundgebung für die Uhrenmacher bei LIP zusammengekommen. Der „aktive Streik“ bei LIP, wo die Arbeiter, zumeist CFDT-Mitgleider, die Produktionsmittel selbst in die Hand genommen haben, erregt zu dieser Zeit die Gewerkschaften in ganz Westeuropa. Edmond Maire spricht in Paris: „Die LIP-Arbeiter haben gezeigt, daß in dem Augenblick, wo überall die kapitalistische Arbeitsorganisation zerbricht, eine andere Organisation der Arbeit möglich ist; daß in dem Moment, wo die Unternehmensleitungen ihre Macht mit der Kompetenz begründen, auch andere diese Kompetenz haben.“ Bei LIP führen die Arbeiter einen demokratischen Streik, ausgehend vom Votum der Basis. Maire nennt das die „Selbstverwaltung der kollektiven Kämpfe“. Bei LIP haben die Arbeiter ihre Lohnherren enteignet. Maire sieht darin die „neue Legalität von morgen“. Der CFDT, so schien es damals, gehört die Zukunft der Gewerkschaftsbewegung. Edmond Maire führt sie an.
Zehn Jahre später, am 31.Januar 1983, steht der gleiche Edmond Maire auf der Schwelle des französischen Präsidentenpalasts. Er kommt von einer Audienz bei Fran?ois Mitterrand, von der der Präsident später sagt, Maire habe sie nur benutzt, um seine anschließende Erklärung auszufeilen. An diesem Tag verkündet der CFDT -Generalsekretär den Franzosen: „Wir müssen heute eine neue Sparpolitik ins Auge fassen.“ Die Worte Maries treffen die französische Linke ins Genick. Im Januar 1983 hat die sozialistische Regierung noch nicht ihren rigiden Wirtschaftskurs festgelegt, mit dem sie in den nächsten Jahren der Arbeiterschaft die Last der Krise auferlegen wird. Zur Empörung von Sozialisten und Kommunisten verlangt Edmond Maire, der Störenfried, eine Abkehr von der bis dahin an Kaufkraftzuwachs und staatlicher Lenkung orientierten sozialistischen Wirtschaftspolitik. In Wirklichkeit unternimmt der Generalsekretär seinen letzten großen Versuch, die französische Arbeiterschaft - nun unter der Linksregierung - zu mobilisieren.
„Ich träume nicht mehr“
Seine Initiative gründet auf einer bereits 1982 gemachten Feststellung: „Ich träumte einmal von einer Partei, die gleichzeitig für den Staat und die Gesellschaft handelt. Fran?ois Mitterrand hat mir in der Politik zu einem großen Sprung verholfen: Ich träume nicht mehr.“ Nachdem es der CFDT bis in die achtziger Jahre hinein nicht gelungen war, sich von den Illusionen zu befreien, die die gesamte französische Linke mit einem Wahlsieg der Linksunion verband, setzt Edmond Maire mit seiner Rede einen Schlußstrich.
Er verlangt nun die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft und ergreift dabei für letztere Partei. Sparpolitik heißt für Maire 1983: weniger Staat in Frankreich und neuer Spielraum für die Gewerkschaften. Doch diesmal spielt der Generalsekretär eine riskante Partie: Hinter ihm steht jetzt nur noch die CFDT. Mitterrand regiert alsbald gegen die Gewerkschaften, und die Kommunisten samt ihrer mächtigen CGT-Gewerkschaft treiben in die gesellschaftliche Isolation.
Neue historische Aufgabe
In einer Streitschrift, mit der er seinen westeuropäischen Kollegen um Jahre voraus ist, stellt Maire bereits im Dezember 1981 der Arbeiterbewegung eine neue historische Aufgabe: „Alle unsere Situationsanalysen, unsere Perspektiven, unsere Strategien“, schreibt Marie, „führen zu dieser ersten Schlußfolgerung: Wir haben die Verantwortung, neue Formen der Solidarität in der Gesellschaft aufzubauen, und das auch innerhalb der Arbeiterklasse.“ Erbarmungslos geht Maire mit der herkömmlichen Gewerkschaftspraxis ins Gericht: „Wenn Not herrscht, dann dienen die Errungenschaften der am besten gewerkschaftlich organisierten Schicht, der sozial am besten gesicherten Schicht nicht mehr als Lokomotive oder Modell für die am meisten Bedürftigen; sie vermehren nur die Distanz.“
Von diesem Ziel leitet Maire letzendlich das CFDT-Votum für die Sparpolitik her. Nunmehr sieht er in der Krise „die Möglichkeit, die sozialen Verhältnisse in den Unternehmen und die Machtverhältnisse in der Gesellschaft auf sehr bedeutende Art zu verändern“. Mit der Krise will Maire Abstand von Lohnforderungen gewinnen: „Von einer Krise überhaupt zu reden, das heißt, sich schon wieder der Idee unterzuordnen, Fortschritt beschränke sich auf den Zuwachs der Kaufkraft.“ Fünf Jahre vor Oskar Lafontaine ist mit Edmond Maire ein westeuropäischer Spitzengewerkschafter der Meinung, daß für Arbeitszeitverkürzung Lohneinbußen hingenommen werden können. Für das „einzige Ziel“. Maire formuliert es als erster. Vergeblich.
Von über einer Million Mitglieder auf dem Höhepunkt der LIP -Affäre ist die Anhängerschaft der CFDT bis heute entsprechend inoffiziellen Angaben der Gewerkschaftsspitze auf annähernd 400.000 Mitglieder geschmolzen. Frankreich, das in den achtziger Jahren versucht, sich den kommunistischen Teufel auszutreiben, verdrängt im gleichen Zuge die Existenz der Gewerkschaften. Die CFDT und ihr Generalsekretär sind nicht stark genug, dem Trend zu widerstehen. Edmond Maire treibt sogar noch selbst die Entwicklung voran. Als der Generalsekretär im Herbst 1985 die Bemerkung fallen läßt, daß der Streik „nicht das einzige Mittel“ der Gewerkschaftsbewegung im Arbeitskampf sei, fühlt sich die gewerkschaftlich noch aktive Arbeiterschaft verschaukelt. Die gesellschaftliche Marginalisierung der Gewerkschaften ist inzwischen so weit fortgeschritten, daß die Basis sich radikalisiert und lokal begrenzt immer häufiger zur alten, längst überlebt geglaubten Aktionsfront von CFDT und kommunistischer CGT zurückfindet. Edmond Maire ist kein Gewerkschaftsführer mehr, er ist nur noch ein einsamer Intellektueller.
In dieser Rolle hat sich Edmond Maire vor dem Kongreß der CFDT, der diese Woche in Straßburg tagt, mit seiner letzten großen Rede als CFDT-Generalsekretär von seinen Anhängern verabschiedet. Maire fordert heute - entgegen dem offenkundigen Willen seiner Basis - den Zusammenschluß seiner Gewerkschaft mit der französischen Lehrergewerkschaft FEN und der konservativen Arbeiterorganisation „Force Ouvriere“. „Diese großen Ströme der französischen Gewerkschaftsbewegung fließen in denselben Ozean.“ So lautet die letzte Prophezeiung des Edmond Maire. Nach der „Selbstverwaltung der kollektiven Kämpfe“, nach der Suche nach „neuen Formen der Solidarität“ blickt er heute auf einen fernen „Ozean“. Er gleicht dem alten Mann, der aufs Meer fuhr. Er weiß nicht, wie seine Beute verloren ging.
Georg Blume
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