: Außer Landes
■ Von der Blutwurst bis zur Visitenkarte
Gabriele Goettle
Nach siebenwöchiger Abwesenheit wirkt die eigene Wohnung wie eine Zumutung. Vollgestopft mit Privateigentum und angeschlossen ans allgemeine Versorgungsnetz, droht sie mit überflüssigem Reichtum und unbezahlbaren Kosten zugleich. Man selbst ist dem Augenschein nach hier zu Hause. Das hat so gar nichts Vernünftiges mehr. Unsere beiden Hunde hingegen genießen ihre geglückte Rückkehr. Hingerissen vom vertrauten Geruch, wälzen sie sich genüßlich neben der aufgestapelten Post und den erschütternden Rechnungen.
Mit dem Ausräumen des Autos sind Elisabeth und ich einen halben Tag lang beschäftigt. Neben der spartanischen Grundausstattung wie Matratzen, Decken, Geschirr, Tauchutensilien undsoweiter hat sich unterwegs ein Berg von Gegenständen aufgehäuft, deren Brauchbarkeit vor einer Woche noch zweifelsfrei feststand.
Ist aber die Reise erst einmal vorbei, so nehmen es die mitgebrachten Dinge schwer damit, so allein in der Fremde herumzuliegen. Sie verlieren zusehends ihre Farbe, ihren Geschmack und alle Unschuld. Die Entscheidung darüber, ob sie jeweils gegessen, fortgeworfen oder weggepackt werden, scheint von Tag zu Tag leichter zu werden. Einstweilen sind alle noch da und verweisen stur auf ihre Herkunft.
Beispielsweise die luftgetrocknete SCHWARZE BLUTWURST. Sie stammt aus einem Dorf in Kastillien, nahe Toledo. Frühmorgens fragten wir auf dem Hauptplatz nach einer Metzgerei. Ein Betrunkener redete freundlich auf uns ein, nicht enden wollend, bis eine alte Frau kam und uns den Weg wies. An der bezeichneten Tür war keinerlei Schild. Durch einen Perlenvorhang trat man ein. Im düsteren Verkaufsraum standen ein großer Hackklotz und ein schlichter Tisch, auf dem ein Bündel Blutwürste lag. Ich wollte etwas für die Hunde kaufen. Der Metzger, ein ernst blickender Mann mit grauem Schnurrbart und weißen Armen, ging in den Nebenraum und kehrte mit einer Handvoll Hühnern zurück. Sie bestanden nur noch aus Kopf, Hals, Rückgrat und Beinen, sämtliche Fleischteile waren abgeschabt worden. Als ich zögerte, holte er vier Schafsköpfe, legte sie auf den Hackklotz, riß das Beil in die Luft und ließ es mit derartiger Wucht niedergehen, daß aus den zersplitternden Kiefern die braunen Zähne rechts und links in die Luft sprangen. Zwei Blutwürste kaufte ich auch noch.
Mehrere ORANGEN pflückte ich bei Benidorm aus Rache für ein miserables Essen. In den Zweigen saß ein Chamäleon. Das Restaurant liegt zwischen Orangenhainen. Der Besitzer ist, so steht es auf den Servietten, zugleich Chefkoch mit internationaler Erfahrung, Kommerzienrat und Bürgermeister des naheliegenden Dorfes.
Das Buffet bietet in irdenen Kasserollen fertige Speisen zur Auswahl. Darüber, auf einer Konsole, steht blumenumkränzt eine kleine Franco-Statue aus hellblauem Kunststoff. Die Figur weist mit einem Stöckchen auf den Vogelkäfig zu ihren Füßen. Wir deuten das Gebilde als wichtige Verhöhnung, der zweite Blick belehrt zusehends. Über dem Caudillowinkel hängen ein präparierter schwarzer Stierkopf von unerhörter Größe und daneben, die übrige Wand bedeckend, grell kolorierte, gerahmte Fotografien der männlichen Verwandtschaft des Wirtes in Guardia-Civil -Uniformen. Besonders hart sind die Glanzlichter auf den schwarz lackierten Papphütchen herausgearbeitet. Der Chefkoch, Kommerzienrat, Bürgermeister und bekennende Faschist serviert die Speisen halbwarm aus dem Mikrowellenherd.
Das Stück WÜRFELZUCKER mit der Aufschrift „Daddy Suc“ blieb übrig in Kaysersberg, wo wir eine Freundin besuchen wollten. Statt zuhause, war sie in Strasbourg im Theater, um Heiner Müller live zu erleben, den Mann im Aufzug. So macht die Kultur alle menschlichen Kontakte zunichte.
Der Laib KÄSE aus den Appenninen ist schon deshalb unvergeßlich, weil wir 36 Mark für ihn bezahlten. Direkt neben der Autobahn - die, wie in allen Ländern, die Autobahngebühren erheben, durch Zäune vom übrigen Land abgeriegelt ist - standen in Abständen Gruppen von Frauen und Kindern hinter dem Zaun. Rätselhafterweise schwangen sie lange Stücke, an denen sich festgebundene Plastiktüten im Wind blähten. Allmählich begriffen wir, daß sie etwas zum Kauf anboten. Der Verkehr brauste an ihnen vorbei. In der nächsten Pannenbucht stand eine Frau in der eisigen Kälte. Ihre Waren hatte sie in Plastiktüten am Zaun aufgehängt, Käse, Maroni und Äpfel. Wir zahlten ohne Bedenken den geforderten Preis, beeindruckt von solch malerischer Armut, die ja auch nicht zuletzt den Käse adelt. Später im Auto verging die kitschige Phantasie vom bitterarmen Bergbauern, der mit eigenen Händen den hart erwirtschafteten Schafskäse formt. Vermutlich geht es den Frauen noch schlechter. Der Käse wird als Kommissionsware einer Fabrik zu den übelsten Bedingungen bei geringem Verdienst verkauft. Dennoch: Mit dem Gefühl, für ein ehrliches Elend und einen echten Käse betrogen worden zu sein, fuhren wir weiter.
Drei ROTE KARTOFFELN erinnern an den Losverkäufer in Sorbas, der 20 Jahre in einer Kölner Fabrik hinter sich hatte. Als wir am Marktplatz ausstiegen, sagte er in akzentfreiem Deutsch: „Schließen Sie alles ab, es wird viel gestohlen.“ Seine Hand war verkrüppelt durch einen Unfall in Deutschland. Verkrüppelung ist in Spanien die Voraussetzung, um staatlicher Lotterieverkäufer werden zu können. „Meine Frau lebt hier, meine Kinder, also muß es mir wohl gefallen.“ Er begleitete uns noch bis zur Markthalle, dann ging er weiter, seine Lose ausrufend. In der großen Halle waren nur drei Stände aufgebaut, zwei für Obst und Gemüse, einer für Fleisch und Geflügel. Daneben saß auf dem Fußboden ein alter Mann mit einem Korb voll Granatäpfel und roten Kartoffeln.
Drei BÜROABLAGEN aus verchromtem Draht, in Din-A4-Format zum Übereinanderstapeln, fanden wir an einem langen Badestrand in der Nähe von Valencia. Auf den Wellenbrechern saßen einige Angler. Wir gingen am Strand auf und ab, hoben Steine auf und ließen sie wieder fallen. Es gab sie in allen Farben, sogar in blau. Dazwischen lag in beachtlichen Mengen angeschwemmter Krankenhausmüll: Infusionsflaschen, Einwegspritzen, leere Beutel von Dauerkathetern und Blutplasma. An einer etwas abgelegeneren Stelle stand ein Schild, auf dem in vier Sprachen das Baden als verboten und das Wasser als verseucht bezeichnet wurde.
Auf der Suche nach Holz für ein Feuer durchstreiften wir die Macchia oberhalb des Meeres. Zwischen den Büschen lagen, etwas entfernt voneinander, vollständige Skelette von Schafen in seltsam verdrehten Haltungen. Es sah aus, als hätten sich die Tiere in Krämpfen gewälzt, seien dann mit offenem Maul und halb auf dem Rücken liegend verendet und in dieser Lage ungestört verwest. Unweit davon hatte man ganze Büroeinrichtungen in die Landschaft gekippt, und verstreut lagen Schaumstoffmatratzen, Sessel, Stahlrohrstühle, Holzpaletten und ein aufblasbarer Wickeltisch herum.
Gegen Abend zog eine große Herde schwarzer Stiere an all dem vorbei. In der Nacht war am einsamen Strand an Schlaf nicht zu denken. Die Geräusche und Scheinwerfer ankommender und abfahrender Autos, dazu das Bellen unserer Hunde, war zerrüttend. Am Morgen fanden wir neben den Reifenspuren im Sand überall Präservative. Dazwischen Plastiketuis in der Art, wie es sie bei uns in den fünfziger Jahren für Kamm und Spiegel gab. Sie enthielten eine Anleitung zur Familienplanung, ein Fach für Präservative und eines für ein Papiertaschentuch.
Die Reste einer WOCHENZEITUNG erinnern an gute Speisen in Andalusien. Anfangs wurde zum Feuermachen nur der vordere Teil der Zeitung benutzt. Ein Artikel „Zur Korruption der Zeit“ lag wohl verwahrt im Handschuhfach. Dann aber ging auch er ungelesen unter einem Topf voller Tintenfische in Flammen auf. Übrig blieb ein schlecht brennendes Magazin.
Ein Bausch, der aussieht wie Watte, ist BAUMWOLLE aus Dolores. Der verarmte Nachkomme einer Großgrundbesitzerfamilie zeigte uns die herrschaftliche Ruine. Im noch erhaltenen Stallgebäude stand einsam ein kräftiges kleines Ackerpferd und fraß Hafer aus einem der zwei Dutzend verzierten steinernen Futtertröge. Stolz präsentierte der alte Mann uns seine vier Felder, auf denen es mehr Schnecken als Pflanzen zu geben schien. Bei jedem Schritt knirschte es unter den Sohlen. Eingehüllt in einen Schwarm von Stechmücken, betrachteten wir Bohnen, Kartoffeln, Erdnüsse und die Baumwolle, von der uns der Bauer eine Handvoll abzupfte.
Den MILITÄRSACK aus Segeltuch erstanden wir auf dem Markt in Nerja. Mitten auf der Straße lagen aufgestapelt ausgediente Ausrüstungsteile der spanischen Armee zum Verkauf. Wer die entsprechenden Sachen aus den hiesigen US -Shops kennt, sieht sofort den Unterschied. Die spanischen Stoffe sind dünner und halten nichts aus. Die Verschlußklappen der Feldtornister sind mit Stierfell überzogen. Das wirkt geradezu rührend. Der Militärsack jedenfalls hat ein großes Fassungsvermögen und ist stabil, wenn auch sonst vollkommen ungeeignet. Der gewaltige Karabinerhaken des Schultergurtes preßt sich beim Tragen derart tief ins Fleisch, daß man den Sack kein zweites Mal mehr benutzt.
Ein menschlicher OBERSCHENKELKNOCHEN und ein Stück GRABPLATTE mit vergilbtem Frauenbild stammen aus Montenars in Friaul. Von dort kommen angeblich Elisabeths Vorfahren mütterlicherseits. Man hatte mir einen alten Friedhof versprochen, voll mit Vorfahren, darunter auch einen echten Bischof im Prachtgrab. Wir fanden einen neuen Friedhof neben einer neuen Kirche, voll mit den Erdbebenopfern von 1976, aber auch das Grab des Bischofs, das, weil es an der günstigsten Stelle liegt, als eines der wenigen Gräber nicht beim Beben in sich zusammengefallen war.
Neben der Kirche fällt der Berg steil ab in eine Schlucht mit Wildbach. Dort hinein hat man die Trümmer der zerstörten Kirche und des alten Friedhofs geworfen. Wir zündeten am Bischofsgrab ein gestohlenes ewiges Licht an und fanden dann in der Schlucht unter bemoosten Steinen obiges.
Das COCA-COLA-SCHILD aus starkem Blech fanden wir in der Camargue. Uns diente es als Tablett. Wir folgten dem Wegweiser zur Küste nach Les-Saintes-Maries-de-la-Mer. Dort angekommen, trotteten wir im Touristenstrom zur Kirche der heiligen Marien vom Meer. Wir besichtigten den wichtigsten Wallfahrtsort der Sinti und Roma. „Zigeuner - wer sind sie, woher kommen sie?“, fragt eine Broschüre in mehreren Sprachen, die aus einem Automaten im Gotteshaus für fünf Franc gezogen werden kann. Wo sie parken dürfen während der Wallfahrt, erfahren wir später. Am Meer, gleich hinter der Tafel, die strenge Anweisungen für den Aufenthalt im Nationalpark gibt, beginnt das Naturschutzgebiet. Ein großes Strandareal ist dem fahrenden Volk als Parkplatz ausdrücklich zugedacht für die Zeit der Wallfahrt.
Privates Campieren ist strengstens verboten. Tatsächlich erwies sich ein abgestellter Wohnwagen als verlassene Beobachtungsstation eines Ornitologen. Wir blieben, da es bereits dämmert, dennoch über Nacht am Strand.
Am nächsten Morgen störten die Hunde eine große Schar von Lachmöwen auf. Ich ging, um nach den Hunden zu schauen, und fand hinter den Dünen eine gewaltige Müllkippe. Der ältere Teil bestand aus aufgetürmten und verkohlten Möbeln, Kühltruhen, Plastikabfällen, Ölfässern, Autowracks und anderen, bereits verbrannten Dingen. Gegenüber türmte sich der neuere Abfall von der vom Tourismus lebenden Kleinstadt. Dazwischen, auf dem Weg, den die Fahrzeuge der Müllabfuhr aufgewühlt hatten, lagen in schillernden Pfützen Schädel und Hufe von Kampfstieren aus der Arena. Über ihnen und mir kreisten empört schreiend Unmengen von Möwen.
Ich kletterte auf den Müllberg, und von dort aus konnte man hinuntersehen auf eine große seichte Wasserfläche. Neben herumschwimmenden Autoreifen standen, elegant auf einem Bein, rosa Flamingos. Als ich zurückging, nahm ich das Coca -Cola-Schild mit, den roten Damenschuh mit hohem Absatz ließ ich ebenso liegen wie eine Kiste voll Melonen.
Hier blieb unklar, ob man die Wallfahrer zum Müllplatz gewiesen oder den Müll bei den Wallfahrern abgekippt hatte.
Aus dem französischen Tarbe stammt die VISITENKARTE eines Herrn namens F.Iglesias Gil de Bernabe, Psychiater in La Coruna in Spanien. Hinten drauf steht in Handschrift: „19.9.88, Hora: 6.30 tarde“. Elisabeth fand sie auf einer Parkbank vor dem Rathaus.
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