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Der letzte Atommeiler ist am Netz

Das Atomkraftwerk Neckarwestheim II ist ab heute am Stromnetzt / Stuttgarter Landesregierung setzt sich über die Bedenken gegenüber der geologischen Eignung des Standortes hinweg / Kein vergleichbarer Atommeiler mehr in der Planung  ■  Aus Stuttgart Dietrich Willier

„Friede auf Erden ist nicht selbstverständlich“, hatte der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth zu Weihnachten verkündet und ließ prompt Taten folgen. Seit vergangenen Donnerstag brummt der vorerst letzte Atommeiler der Republik, das Gemeinschaftskraftwerk Neckarwestheim II, weitere sind nicht geplant. Heute geht das AKW ans Stromnetz.

5,3 Milliarden Mark hat das dritte Atomkraftwerk im Neckartal seit der Baugenehmigung vor sechs Jahren verschlungen. Beteiligt sind die Neckarwerke mit 42 Prozent, die Technischen Werke Stuttgart mit 26 Prozent und neben der Energieversorgung Schwaben und den Heilbronner Elektrizitätswerken die Bundesbahn mit 18 Prozent. Mit 1.200 Megawatt Leistung wird Neckarwestheim II die jährliche bundesrepublikanische Überproduktion an Elektrizität von rund 33.000 Megawatt nur geringfügig erhöhen.

Eigentlich sollte das AKW schon im August letzten Jahres eine Betriebsgenehmigung erhalten. Doch kaum ein Jahr davor war so sehr von Protesten und Zweifeln an der Sicherheit geprägt wie 1988. Schon zu Beginn des Jahres hatten die baden-württembergischen Grünen festgestellt, daß Block I in Neckarwestheim von Beginn seines zwölfjährigen Betriebes an eine endgültige Betriebsgenehmigung fehlt. Für 113 Millionen Mark mußte außerdem die gesamte korrodierte Verschraubung des Reaktordruckgefäßes erneuert werden.

Zu Beginn des Jahres wurde bekannt, daß auch Mitarbeiter von Neckarwestheim in den Transnuklearskandal verwickelt sind. Im Sommer vergangenen Jahres hatten verschiedene Gruppen von AKW-Gegnern ihre Aktivitäten mit Dauerpräsenzen vor den Zufahrtstoren, Blockaden von ankommenden Brennstabtransporten, Demonstrationen und Informationsständen wieder aufgenommen. Seit August macht der Geologie-Experte Hermann Behmel erneut öffentlich, was in Fachkreisen schon seit Jahren bekannt ist: Das AKW Neckarwestheim steht auf der Nahtstelle zweier tektonischer Erdschichten, durch starke Grundwasserbewegungen werden unter dem AKW jährlich Lehm und Schlamm im Volumen eines Dreifamilienhauses ausgewaschen, das AKW steht auf unerforschten Gipskeuperhöhlen. Messungen, so Behmel, die seit Jahren zur Routine im Felsbau gehören, wurden nicht vorgenommen, der Standort ist der denkbar ungünstigste.

Jahrelang waren Bürgerinitiativen, Grüne und Mitglieder der SPD gegen die Absicht sturmgelaufen, den Trinkwasserstausee der kleinen Kinzig im Schwarzwald für die zusätzliche Kühlung des AKWs anzuzapfen. Im Herbst kam der Erfolg. Fortsetzung auf Seite 2

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Der Plan scheiterte an der mehrheitlichen Entscheidung der Gemeinden, den Ausschlag gab die Stimme eines CDU-Mannes. Doch was bisher dringend war, jetzt scheint es entbehrlich. Die Folge: Die letzten Fische des Neckars werden gekocht.

Halbherzig hatte mittlerweile auch die SPD begonnen, sich an ihr atomares Ausstiegsszenario zu erinnern. In einer Expertenanhörung des Stuttgarter Landtags vergangenen Dezember wurde Hermann Behmel von den Bodengutachtern des Landes in der Sache bestätigt, nicht aber in den Konsequenzen. Und noch kurz vor Weihnachten hatten die baden -württembergischen Grünen recherchiert, daß ein erheblicher Teil des Atommülls aus Neckarwestheim in die englische Katastrophen-Anlage Sellafield zur Ver

wertung gekarrt werden soll, als atomarer Entsorgungsnachweis. Täglich werden dort 4,7 Millionen Liter leicht radioaktives Wasser in die irische See abgegeben, die Krebsrate in dem Ort Seascale beträgt das Zehnfache des sonstigen Durchschnitts. Sellafield ist die größte Quelle radioaktiver Ausscheidungen in der Welt, urteilte das Europaparlament.

„Versuchen wir, Frieden zu stiften, jeder an seinem Platz“, so die Weihnachtsrede des baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Und tags darauf erteilt sein Wirtschaftsminister die Betriebsgenehmigung für Block 2 in Neckarwestheim. Ein Coup, plötzlich und zum günstigsten Zeitpunkt, kommentieren Atomkraftgegner. Entsprechend klein war die Gruppe demonstrierender AKW-Gegner, die sich am vergangenen Freitag zum Protest und zu öffentlicher Information vor dem Stuttgarter Landtagsgebäude versammelt hatten. Vorbeieilende

BürgerInnen waren mit anderem beschäftigt. Es galt, Munition zum Einschießen des neuen Jahrs zu besorgen. Weitere Aktionen sind erst wieder fürs kommende Frühjahr geplant. Die „Aktion Strom ohne Atom“ hält jetzt den Übergang vom Protest zum direkten, gewaltfreien Widerstand für dringend notwendig.

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