: Reagans letzter Vorhang
Nach acht Jahren republikanischer Präsidentschaft erwacht das amerikanische Volk mit einem schweren Kater: Haushaltsdefizit, technologischer Rückstand, Sozialabbau, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit... ■ Aus Washington Stefan Schaaf
Im Juni 1982 demonstrierte die amerikanische Friedensbewegung in den Hochhausschluchten von Manhatten, daß sie Reagans leichtfertigen Umfang mit der Bombe und seine aggressive Rhetorik nicht billigt. Unübersehbar große Menschenmassen korrigierten an dem Tag das Bild von jenem Amerika, das sich nur zwei Jahre vorher einen Polit-Cowboy ins Weiße Haus gewählt hatte. Zugleich staunte die vielgestaltige Schar der MaschiererInnen über ihre eigene, ihnen zuvor gar nicht bewußte Macht. Wohlwissend, daß diese Macht am nächsten Tag wieder in alle Richtungen des Landes auseinanderstreben würde.
Ein Jahr darauf war es die Bürgerrechtsbewegung, die in Washington auf den drohenden Rollback der Bemühungen um soziale Gerechtigkeit und um Gleichheit der Rassen aufmerksam machte. Eine Viertelmillion Menschen spürte an diesem heißen Augusttag für einen kurzen Moment, daß sie eine Macht sein könnten, wenn es Kanäle gäbe, auf denen sie ihr Gewicht geltend machen könnten.
Immer wieder hat es in den acht Reagan-Jahren solche Kristallisationspunkte gesellschaftlicher Gegenmacht gegeben, doch meist sind sie rasch zusammengeschmolzen, haben ihre Angelegenheiten professionell betriebenen Lobby -Gruppen anvertraut und sich im Land verstreut. Den Anfang der legendären Mega-Demonstrationen der Reagan-Ära bildete 1981 der „Solidarity Day“ der Gewerkschaften, im nächsten Jahr folgte die Friedensbewegung, 1983 die Bürgerrechtsbewegung und 1987 zum einen die Zentralamerika und Südafrika-Solidaritätsgruppen und später, im selben Jahr, die durch die rapide wachsende Zahl von AIDS-Kranken aufgerüttelte Schwulen-Bewegung.
Doch der auf diese Weise dargebotene Forderungskatalog war unvollständig und kaum ausreichend, um die Probleme der amerikanischen Gesellschaft anzugehen. Die unter Reagan eingeleiteten schleichenden Veränderungen auf vielen anderen Gebieten, ob es der landesweite Abbau sozialer Versorgung war oder die Aushöhlung der seit Jahrzehnten gültigen Verfassungsinterpretation, haben zu praktisch keinen Gegenbewegungen geführt. Vor allem haben sie keine negativen Auswirkungen auf Reagans Popularität gehabt. Weder hat die Rezession von 1982 Reagans Wiederwahl zwei Jahre später vereitelt, noch hat der Iran- Contra-Skandal von 1986 verhindert, daß Reagan heute mit einer beispiellosen Popularitätsrate sein Amt verläßt.
Härte nach außen,
Laissez-faire nach innen
Reagan war 1980 angetreten, um eine konservative Revolution von oben durchzusetzen, einen wahrhaft höllischen Plan, der bis zu jenem Zeitpunkt nicht einmal in seiner eigenen Partei mehrheitsfähig war. 1984 war der konservative Flügel der Republikaner mit Barry Goldwater kläglich gescheitert, doch 1986 hatte Reagan die Präsidentschaftsnominierung seiner Partei nur noch knapp an den amtierenden Präsidenten Gerald Ford verloren. 1980 war es soweit: Reagan wurde gewählt, so der konservative Publizist George Will, weil „in demoralisierender Weise klar geworden war, daß die Nation die Kontrolle über ihr Schicksal verloren hatte“.
Die durch steigende Ölpreise ausgelöste Inflation und die Geiselkrise im Iran hatten bei den Wählern den Ausschlag gegeben, für Reagan und damit für eine grundsätzlich andere Herangehensweise an die Lenkung des Staates zu stimmen. Reagan versprach Härte nach außen und Laissez-faire nach innen. Die Fundamente dieser grundsätzlich anderen Philosophie unterschieden sich wesentlich von dem, was das Land seit dem „New Deal“ Roosevelts gewohnt war, als der Staat zum erstenmal in der amerikanischen Geschichte massiv ins soziale und ökonomische Gefüge eingriff. „Es ist meine Absicht, die Größe und den Einfluß des staatlichen Establishments einzuschränken“, sagte Reagan bei seiner Amtseinführung; bei der Verabschiedung seiner radikalen Steuerkürzungen ein halbes Jahr darauf bekannte er, daß „die Wurzel unseres ökonomischen Problems“ sei, wenn „die Regierung besser zu wissen glaubt als die Bürger, was mit ihrem Einkommen geschehen soll“.
Acht Jahre später jedoch ächzt die Nation unter einem gigantischen Budgetdefizit, für das jährlich 150 Milliarden Dollar an Zinsen ausgegeben werden müssen, denn die Reaganisten hatten nicht nur Steuern gekürzt, sondern auch den Rüstungshaushalt kräftig erhöht. Sie hinterließen damit ein politisches Erbe, das eine Rekonstruktion des Sozialstaates vorerst unmöglich macht. Die Abschaffung der staatlichen Kontrolle vieler Industrien hat zu Chaos geführt, die Kürzung der landesweiten Wohnungsbauprogramme um 80 Prozent hat zur steigenden Zahl von Obdachlosen beigetragen, und das Fehlen ziviler staatlicher Forschungsanstrengungen lassen das Land technologisch immer weiter hinter die internationale Konkurrenz zurückfallen.
Die Aussicht, daß die Vereinigten Staaten die „Kontrolle über ihr Schicksal verlieren“, ist in den letzten beiden Jahren immer konkreter geworden. Die Politik des Laissez -faire nach innen hat längst ihre Grenzen erreicht. Nachdem sich Washington acht Jahre lang aus immer mehr gesellschaftlichen Bereichen schlicht zurückgezogen hat, wird nun allerorten die Rechnung präsentiert: die Reinigung der Umgebung der Atomwaffenfabriken kann nach jüngsten Schätzungen bis zu 200 Milliarden Dollar verschlingen, die Sanierung der kränkelnden Sparkassenindustrie weitere 85 Milliarden Dollar. Weitere Riesensummen würden eigentlich für die Infrastruktur benötigt, von Brücken über Flughäfen bis zu Giftmülldeponien.
Der wahre Skandal der Reagan-Jahre ist jedoch die blanke Mißachtung, die der Unterschicht entgegengeschlagen ist, der bezahlbare Wohnungen, Bildungschancen und eine elementare Gesundheitsversorgung verweigert wurden. Obwohl es seit 1986 illegal ist, werden immer noch Notfälle von Hospitälern abgewiesen, weil die Erkrankten nicht bezahlen können. Statt, wie Jesse Jackson im Wahlkampf forderte, „in die Vorderseite des Lebens zu investieren“, wachsen die Kosten für „die Rückseite“, also für Polizei und Knäste, die die Desintegration der urbanen Gesellschaft nur noch durch Zwangsmaßnahmen bremsen können. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen: Die Obdachlosen, so Reagan, würden viel lieber auf den U-Bahn-Schächten schlafen, da es ihnen offenbar in den Asylen nicht gefiele.
Langer nationaler Tagtraum
Doch Reagans höllischer Plan, den Staat und seine Rolle für die amerikanische Gesellschaft neu zu definieren, ist auf bemerkenswert geringen Widerstand gestoßen. Erst jetzt, da sein Nachfolger George Bush mit dem Erbe Reagans zu regieren beginnen muß, beginnt das Land aus seinem „langen nationalen Tagtraum“ - so der Journalist Sidney Blumenthal im Titel seiner Abrechnung mit der Reagan-Ära - aufzuwachen. Der konservative Kolumnist George Will stimmt seinem liberalen Kollegen dabei zu: die Reagan-Jahre seien „wie eine Droge“ gewesen, die „die Sinnesorgane der Nation über die hinter dem Horizont lauernden Gefahren betäubt haben“.
Reagan führte das Landwie eine Kreuzung aus einem Monarchen und einem Hollywood-Star, wobei er nur letztere Rolle jemals gelernt hatte. Verantwortung für die Details der täglichen Regierungsarbeit weigerte er sich zu übernehmen, doch er ließ sich umso lieber für die spektakulären Schauspiele feiern, die seine Amtszeit prägten. Ob es seine Inauguration 1980 - laut Blumenthal „eine Zelebrierung des Reichtums durch die Reichen für diejenigen, die gerne reich wären“ war, die Olympischen Spiele von 1984 oder das Jubiläum der Freiheitsstatue im Juli 1986, jedes dieser Spektakel war von ebensoviel nostalgischem Rückblick wie falschem Patriotismus getragen. Das Geheimnis der Wirkung dieser Spektakel war, daß sie eingebunden waren in eine Öffentlichkeitsstrategie der Reagan-Mitarbeiter, die danach strebten, täglich genauso emsig am Image des Präsidenten weiterzuzimmern wie an seiner Politik. Die Reagan-Präsidentschaft war eine einzige Show, mit einem einzigen Star: ihm selbst.
Politische Mehrheit
verloren
Hat der Reaganismus seine politischen Ziele ausgeschöpft? Selbst konservative Kommentatoren bejahen diese Frage. Der ultrakonservative Aktivist Paul Weyrich beklagt, daß die sogenannte Reagan-Revolution nur ein „vorübergehender unblutiger Staatsstreich“ gewesen sei. Der linksliberale Publizist John Judis urteilt, daß der republikanische Konservatismus zunächst „seine politische Mehrheit verloren, seinen legislativen Forderungskatalog erschöpft und seine erprobten Anführer ausgelaugt hat“. Umfragen zeigen, daß in den acht Reagan-Jahren die Unterstützung für seine ursprünglichen Ziele rapide zurückgegangen ist. 1981 befürworteten noch 72 Prozent der US-Bürger eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts'doch 1987 taten dies nur noch 31 Prozent, außerdem befürwortete erstmals wieder eine Mehrheit eine Erhöhung staatlicher Sozialleistungen.
Auf zahlreichen Gebieten hat Reagan seine begeistertsten Anhänger bitter enttäuscht: die antikommunistischen Hardliner nahmen ihm den INF-Vertrag und die Annäherung mit Gorbatschows Sowjetunion übel, seine Gefolgsleute unter religiösen Fundamentalisten verlangen nach wie vor das Verbot der Abtreibung, die Einführung des obligatorischen Schulgebets und die Verbannung der Evolutionstheorie von den Lehrplänen.
Doch die ideologische Debatte ist verändert worden, denn die Forderungen der konservativen Ultras haben in der öffentlichen Diskussion zunehmend Legitimation gewonnen, während der traditionelle Liberalismus in die Defensive gedrängt wurde. „Wenn es um die Lähmung des liberalen Impulses geht, war Reagan bemerkenswert erfolgreich“. Vor allem haben die acht fetten Jahre, in denen einer der ihren im Weißen Haus saß, aus einer desorganisierten konservativen Bewegung eine werden lassen, die sich im Umgang mit der Macht auskennt.
Die konservative Bewegung in den USA, die es so in den sechziger Jahren noch gar nicht gab, verfügt erstmals über eine Infrastruktur, die sich mit der seit dem New Deal geschaffenen Basis der Demokratischen Partei messen kann. Es gibt Denkfabriken, Brückenköpfe in den akademischen Institutionen, Publikationen und ansatzweise etwas wie eine organisierte Massenbasis in den weißen evangelischen Kirchen vor allem der Südstaaten, die erst in den achtziger Jahren zur Republikanischen Partei überliefen. Das politische Fundament dieser losen Koalition beruht auf zwei Hauptsäulen: einem erbitterten Antikommunismus und einem politischen Widerstand gegen die gesellschaftlichen Reformen der sechziger Jahre, ob sie sich im Wohlfahrtsstaat oder in staatlichen Förderungsprogrammen für Schwarze niederschlugen.
Die Demokratische Partei hat dagegen auf allen wichtigen Feldern Federn lassen müssen. Ihr Rückgrat, die Gewerkschaftsbewegung, hat durch den Niedergang der Stahl und Automobilindustrie im Nordosten in dramatischer Weise Mitglieder verloren und in der Folge Zugeständnisse an das Kapital machen müssen. Der Zensus im nächsten Jahr wird obendrein erbringen, daß der Partei in ihren stärksten Regionen die Basis davonläuft. Die Migration der amerikanischen Bevölkerung in die republikanischen Hochburgen im Süden und Westen der USA werden etwa 15 Parlamentssitze in die gleiche Richtung verschieben. Vor allem hat das Reagan-Programm viele Elemente aus der traditionellen demokratischen Koalition herausgebrochen. Die Frage, wie man die ehemalig felsenfeste Wählerbasis in den Südstaaten, wo die Demokratische Partei bis in die sechziger Jahre fast Einheitspartei war, zurückgewinnen kann, wird die Partei bis zur nächsten Präsidentschaftswahl 1992 vor eine politische Zerreißprobe stellen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen