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Das Mädchen und die Jungfrau

■ Zu Martin Scorseses '68er Film „Who's that knocking at my door“

Thierry Chervel

Das Mädchen ist blond. Ein hübsches Mädchen - sehr amerikanisches Gesicht, offen und weit, das machen die großen grauen Augen und ihr Aufschlag. Einen Namen hat sie (Zina Bethune) im Film nicht, auch im Vorspann firmiert sie nur als the girl. Für J.R. - Harvey Keitel in seiner allerersten Hauptrolle in Scorseses allererstem Film, 1965 -68 - ist sie das Mädchen.

Who's that knocking at my door spielt in Little Italy, Lower East Side, Manhattan, New York. Eine italienische Mamma, Scorseses Mutter selbst, bäckt und bricht das Brot und reicht es ihren Kindern. Die erste Szene des Films, eines der Rituale, die er stumm zelebriert.

In der Küche steht eine Madonna aus weißem Porzellan. Sie verweist nicht allein auf die Verwurzelung Little Italys in der alten Heimat und religiösen Traditionen. Man muß sie sich angucken: Sie ist mindestens ebenso amerikanisch wie italienisch. Ihre Referenz ist nicht, wie verkitscht auch immer, die italienische Renaissance. Sie erinnert mit ihrer zierlichen Gestalt und ihrem langen Haar eher an den Kitsch Amerikas, an Kinderbuchillustrationen, Comic strips, Zeichentrickfilm: eine Art Walt-Disney-Schneewittchen mit dem Kinde.

Kein Wunder also, daß sich J.R. in das Mädchen verliebt, das dieser Madonna so ähnelt. Aber seine Maria heißt ganz bestimmt nicht Maria, sie ist ein WASP (White Anglo-Saxon Protestant, d.Korr), übrigens auch ein Mädchen aus besseren Kreisen als er. Sie hat ein eigenes Apartment, liest französische Zeitschriften, hört Jazz.

Die Porzellanmadonna wird noch einmal fast aufdringlich ins Bild gerückt. J.R. und das Mädchen liegen in seiner elterlichen Wohnung auf dem Bett. Sie küssen sich, steigern sich in ihre Erregung, die Kamera ist äußerst interessiert an dem Vorgang, geht ganz nah ran, so nah, daß man als Zuschauer oft nicht mehr erkennt, wessen Nasenflügel oder Augenlid sie da gerade zeigt. So versinnbildlicht sie, selbst extrem bewegt, die süße Konfusion vor der Fusion. Dann bricht J.R. ab und sagt: „Just not now.“

Diesen Moment zeigt die nun distanzierte Kamera durch den Spiegel, der dem Bett gegenüber an der Wand hängt. Auf dem Sims steht aus weißem Porzellan die Jungfrau Maria.

Sie, der das Mädchen so verteufelt ähnlich sieht, ist das Verbotszeichen: Hier kein Geschlechtsverkehr. Gerade weil J.R. sie liebt, kann er nicht mit ihr schlafen. Er träumt von Heirat. Dafür muß sie Jungfrau sein.

Es ist auffällig, wie losgelöst J.R.s Szenen mit dem Mädchen vom übrigen Film sind. Der zeigt J.R.s Wirklichkeit, sein zielloses Stromern mit den Freunden aus Little Italy in New York - Stadt und Land sind unüberschaubar, um so enger dafür die Innenräume -, seine Halbstarkenexistenz, Besäufnisse, Schlägereien, Feixen mit losen Mädchen, Männerbündelei, latente Homosexualität reagiert sich ab in Gewalt und Frauenfeindlichkeit.

Niemals kommt diese Wirklichkeit in Kontakt mit der anderen der Liebesgeschichte, in keiner einzigen Szene sieht man J.R.s Freunde und das Mädchen zusammen. Die Liebesgeschichte inszeniert Scorsese in Rückblenden, als Bilder, die J.R. nicht loslassen, Erinnerungen an die Liebe und ihr Scheitern, die ihm in der fröhlichen, sprachlosen Männerwelt den Boden unter den Füßen wegreißen.

J.R. und das Mädchen trinken Kaffee in seiner Wohnng. Sie erzählt ihm, daß sie nicht mehr Jungfrau ist. Sie ist vergewaltigt worden - auch diese Bilder werden ihn nicht mehr loslassen. Aber sie liebt ihn, und für sie wäre es mit ihm das erste Mal. Er glaubt ihr nicht. Eine unverheiratete Frau, die nicht Jungfrau ist, ist eine Hure. Er beschimpft sie. Das Problem ist: Die Liebe hört nicht so einfach auf. Er geht noch einmal zu ihr. Er will sie trotzdem heiraten. Er verzeiht ihr. Sie weist diese Zumutung von sich und schickt ihn weg. „Go home!“

So ungerecht und schön ist dieser Film, weil er trotz seiner traurigen Geschichte glücklich wirkt. Der Glückliche ist Scorsese, glücklich, dieser Geschichte zu entrinnen, indem er sie noch einmal inszeniert. Durch den Film ist Scorsese über Little Italy hinausgewachsen, und nur durch den Film. Zwar kehrt er nach Little Italy zurück, aber als Regisseur seiner Geschichte, nicht als eine ihrer von Mächten, die wir nicht durchschauen können, getriebenen Figuren.

Beide Bewegungen - die des Hinauswachsens und die der Rückkehr - finden sich übrigens als Kamerabewegungen im Film wieder. Oft wählt Scorsese die Oberperspektive und macht die Figuren klein, dann geht er wieder ganz nah ran ans Geschehen, als sein intimster Kenner, und treibt die Figuren vor der Kamera her wie mit Pistolenschüssen. Beide Techniken - der distanzierte Blick von oben und die agierende Kamera charakterisieren Scorseses Filme bis heute, die letztlich göttliche Vogelperspektive ist im Jesus-Film natürlich besonders blasphemisch. Eine Liebe scheitert, eine Kamera tanzt. Das Besäufnis J.R.s und seiner Freunde - eine Orgie in Zeitlupe aus lauter Schwenks von links nach rechts, dann das gefährliche Spiel mit der Pistole, bis sie sich entlädt und wie im Western eine Whiskyflasche birst. Die hektische Bergtour auf dem Land bei New York - ein Kraftakt. „It's beautiful“, rufen J.R.s Freunde pflichtgemäß, als sie auf dem Gipfel angelangt sind. Aber J.R.s Gesicht entspannt sich im Widerschein der untergehenden Sonne. Auch er findet es schön, alles unter sich zu sehen. J.R.s Phantasie von den dream girls - so heißen sie im Vorspann - die Kamera leckt die Körper ab, kreist sie ein, wirbelt sie herum (Scorsese hat diese mit The End von den Doors unterlegte Szene erst 1968 nachgedreht, auf Wunsch seines Verleihers, der eigentlich auf Pornos spezialisiert war und eine Sexszene wollte). Die hingerissene und hinreißende Lust am Sehen: abgeschabte Fahrstuhlwände, Straßen und Hausdächer von New York, der Wartesaal der Staten-Island-Fähre, zuschlagende Türen, elektrisch gehobene Straßenkreuzerfenster, die parallel hochsteigen und sich erst im allerletzten Moment zur geschlossenen Fläche fügen.

Scorseses Glück kommt durch die Macht. Er genießt es, daß er über die Mittel verfügt, seine Geschichte zu erzählen, über Kamera, Schneidetisch, Mitarbeiter, und daß er sich im Gegensatz zu seinen Figuren artikulieren kann. Er erkauft sich dieses Glück mit einer Art Verrat: Little Italys an die Welt, der Intimität an die Öffentlichkeit, zuletzt der Kirche an die Rockmusik. Who's that knocking at my door von den Genies ist die Coverversion eines amerikanischen Kirchenlieds. J.R. küßt dazu einem Holzjesus die Füße und ritzt sich am Nagel die Lippe. Scorsese entfesselt einen Bildersturm aus heiligen Figuren und Madonnen, daß man Angst hat, die Kirche stürzt ein. Scorseses erster Film hat 35.000 geliehene Dollar gekostet. Wir sind Scorseses Gläubigern noch heute dankbar.

Who's that knocking at my door von Martin Scorsese, mit Harvey Keitel und Zina Bethune, USA 1965-68, 96 min.

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