: Chaos nach der Flut
In Bangladesch sind die HauptstädterInnen nach der Flutkatastrophe vom Sommer 1988 mit Hilfe versorgt worden - auf dem Land gingen viele leer aus ■ Aus Dhaka Uwe Hoering
„Hilfe für die Katastrophen-Opfer ist nicht mehr als eine Aspirin“, meint Parvez, Mitarbeiter einer nicht-staatlichen Entwicklungsorganisation. „Was wir brauchen, ist eine langfristige, umfassende Strategie.“ Auch der stellvertretende Leiter der UN-Entwicklungsorganisation UNDP, David Barker, wirkt frustriert, wenn er klagt: „Es hat keinen Sinn, jährlich Milliarden zu investieren, die dann weggewaschen werden.“ Ursache für Zorn und Frust ist die „Jahrhundert-Flutkatastrophe“ vom Sommer vergangenen Jahres, die Präsident Ershad sogar veranlaßte, einen „Nationalen Rat für Katastrophenschutz“ ins Leben zu rufen, der über alle Parteigrenzen hinweg Lösungen diskutieren soll.
Überschwemmungen sind in dem riesigen Flußdelta von Ganges, Brahmaputra und Meghna, in dem Bangladesch liegt, an der Tagesordnung; doch die Flut vom September war etwas Besonderes. Nicht so sehr wegen ihres Ausmaßes, auch nicht wegen der offiziell 2.359 Todesopfer oder der Zerstörung der Ernte auf mehreren Millionen Hektar Land, sondern wegen der ungewohnten Tatsache, daß erstmals die Hauptstadt Dhaka selbst unter Wasser stand und daß diejenigen, die sonst bei allen Katastrophen stets im Trockenen saßen, nun selbst nasse Füße bekamen, daß ihre großen Villen in dem Nobelviertel Gulshan, die kostbare Einrichtung einschließlich Video-Set bedroht waren. Selbst das Haus des Präsidenten blieb nicht verschont. „Die Flut war für uns eine große Lehre“, hört man plötzlich von allen Seiten, und seit die Metropole erstmalig das alljährliche Schicksal der Landbevölkerung teilt, herrscht nationaler Konsens darüber, daß man künftig auf Überschwemmungen besser vorbereitet sein müsse. Katastrophenschutz, bessere Vorbeugung, Schadensbegrenzung sind stets wiederkehrende Stichworte, das Wort 'Umwelt‘, das bislang im staatlichen Fünfjahresplan nicht einmal vorkam, ist nun in aller Munde.
Dhakas Slumbewohner, deren Siedlungen in den niedrig gelegenen Stadtgebieten am stärksten betroffen waren, wurden mit Fladenbrot, Kleidung und Trinkwasser reichlich versorgt. Auf dem Lande wurden Hilfsgüter häufig nach dem Gießkannenprinzip verteilt, anstatt sie zu konzentrieren, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Manche bekamen doppelt, andere gingen leer aus. Frühwarnsystem fehlt
„Niemand sammelt und verwertet die Erfahrungen, die gemacht werden“, kritisierte Parvez das alljährlich wiederkehrende, oft spontane und unkoordinierte Katastrophenhilfe-Flickwerk. „Uns fehlt ein Flutwarnsystem“, stellten Beobachter nach den Überschwemmungen ernüchtert fest. Satellitenbilder zeigten zwar die Flutwellen, die nach kräftigen Regenfällen im Himalaya den Brahmaputra, Meghna und, nicht ganz so bedrohlich, den Ganges herunter auf Bangladesh zukamen, doch Vorkehrungen, die Bevölkerung zu warnen, gibt es nicht.
Ausländische Ratgeber haben vorgeschlagen, die Flüsse auszubaggern und riesige Deiche aufzuschütten. „Einfältig“ sei das, meinen Bangladesch-Kenner, nicht nur wegen der wahnsinnigen Kosten. Eine solche Einzwängung der Wassermassen würde nur ihre zerstörerische Kraft vergrößern. Außerdem schwemmt die Flut Nährstoffe auf die Felder der Kleinbauern, die sich Kunstdünger (i.e. Mineraldünger, d. s -in) kaum leisten können - nur: falls das Wasser zu hoch oder zu lange auf den Feldern steht, verdirbt die Ernte. Statt Flutkontrolle wäre daher eine „kontrollierte Flut“ erforderlich, und bei Entwicklungsprojekten wie Straßen, die oft erhöht auf Dämmen angelegt werden, müßten überprüft werden, ob sie nicht den Abfluß der Wassermassen blockieren.
Maßnahmen müßten im Oberlauf der Ströme beginnen, in Nepal, besonders aber in Indien, mit Auffangbecken, mit Aufforstung und Regeneration des Wasserhaushalts im entwaldeten Himalaya. Doch über den Modus, vor allem über die Wasserverteilung streitet man seit Jahren, in Bangladesch mißtrauen viele dem „großen Bruder“ Indien, daß er nicht nur die Fluten kontrollieren würde, sondern in den Trockenmonaten den bengalischen Bauern auch den Wasserhahn abdrehen könnte.
Daß ein Warnsystem allein unter den Bedingungen eines Landes wie Bangladesch nur geringen Wert hat, zeigen lange Erfahrungen. Warnungen über Rundfunk und das Netz der mit Empfangsgeräten ausgerüsteten Helfer, das nach dem Wirbelstrum 1970 mit seinen möglicherweise 500.000 Toten in einigen besonders gefährdeten Landesteilen eingerichtet wurde, erreichen nur einen Teil der Bevölkerung. Empfangsgeräte sind kaputt, Schutzräume, die mit Weltbank -Geldern angelegt wurden, verfallen, Distriktverwaltungen haben keine ausreichenden Vorräte an Hilfsgütern. Doch selbst wenn die Sturmwarnungen sie erreichen, stehen viele vor der Wahl zwischen Sicherheit oder Lebensunterhalt, Evakuierung oder Dableiben und Hoffen, daß die Katastrophe woanders zuschlägt - ein Vabanque-Spiel, das viele mit dem Leben bezahlen. Da niemand weiß, wieviele Menschen in dem Katastrophengebiet, auf frisch aufgeschwemmten flachen Inseln lebten, wieviele in den ausgedehnten, von tausend Wasserarmen durchzogenen riesigen Mangrovewäldern als illegale Honig- oder Holzsammler arbeiteten, wieviele Fischer zum Fang ausgefahren waren, wird die genaue Zahl der Opfer nie festgestellt werden. Offiziell wurden bislang knapp zweitausend Tote gefunden, doch mehrere tausend Fischer werden noch immer vermißt. Täglich werden in den abgelegenen Flußläufen und Buschgebieten weitere Leichen gefunden, aufgedunsen, verwest, von Hunden angefressen.
Anders als drei Monate zuvor im überschwemmten Dhaka läuft die Hilfsmaschinerie für die Sturmopfer eher schleppend an, auch wenn allabendlich in der 'Tagesschau‘ telegen Armeehubschrauber gen Khulna starten, beladen mit Decken, Kochtöpfen, Kinderkleidung'Medikamenten und Saris aus den Vorratskammern des Präsidenten. „Für Ershad ist der Wirbelsturm gut“, hört man allenthalben in Dhaka, nicht nur weil er und die Armee, deren Soldaten nach Parvez‘ Worten wunderlicherweise „bei ihrem Katastrophen-Einsatz immer saubere Uniformen und blitzblanke Schuhe haben“, sich imageträchtig in Szene setzen können. Der Flut vom Sommer etwa folgte eine Hundert-Millionen-Dollar-Flut von Hilfszusagen.
Hilfslieferungen sind allerdings in ihrem Nutzen umstritten. „Wir haben lieber Geldspenden“, sagt Jeffrey Pereira, während er überwacht, wie drei Lastwagen mit Plastikeimern und knallbunten Wolldecken beladen werden. „Soweit wie möglich kaufen wir dann auf dem einheimischen Markt oder in den Nachbarländern.“ Sachspenden bleiben dagegen wochenlang im Zoll hängen, wie die Decken, Kleidung und Stoffe, die Katholiken aus der DDR gespendet haben.
Doch die Möglichkeiten, sich selbst zu helfen und nicht nur auf ausländische Hilfe zu bauen, sind gering. Denn zu bequem und verlockend ist für Staat, Verwaltung und Armee der Bonus an Katastrophenhilfe, der zusätzlich zur Wirtschafts- und Militärhilfe in Millionenhöhe ins Land geschwemmt wird.
In Dhaka ist längst wieder der Alltag eingekehrt. Der große Brunnen an einer Kreuzung der breiten, frisch asphaltierten Hauptstraße, dessen bunte Mosaiken sorglose Szenen aus dem bengalischen Alltag zeigen, ist fast fertig. während die Arbeiten mit Hochdruck vorangetrieben werden, werden die Passanten durch ein großes Schild darüber informiert, daß hier „Entwicklungsarbeit im Gange“ ist. „Dafür geben sie Geld aus“, brummt der Taxifahrer.
Und Dhakas Slumbewohner haben sich die gleichen wackeligen Hütten aus Stroh, Holz und Lehm wie zuvor wieder aufgebaut, in denselben flutgefährdeten Gebieten - Lebensbedingungen, die dazu beitragen, daß die Naturgewalten zur Katastrophe werden. „Sie haben die Fähigkeit entwickelt, Schläge wegzustecken, abzufedern“, sagt Parvez. Er meint es als Feststellung, ein bißchen bewundernd sogar - doch es klingt zynisch.
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