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Der große Entwurf geht nicht recht auf

■ Ausgerechnet im Dienstleistungsbereich stagniert die Zuwachsrate, und die Schere zum Bundesgebiet öffnet sich wieder / Der Einzelhandel baut ab, und der öffentliche Dienst meldet „Nullwachstum“ - aber die genauen Gründe kennt auch die Behörde nicht

Als Wirtschaftssenator Pieroth Anfang Januar die Wirtschaftsstatistik für 1988 präsentierte, gab es unter dem gewohnt düsteren Bild vom Berliner Arbeitsmarkt auch irritierende Untertöne. Die Zahl der Arbeitslosen bleibt hoch, das verwundert niemanden, der die Entwicklung verfolgt hat. Daß aber auch die Beschäftigung im Dienstleistungsbereich als der Wachstumsbranche der postindustriellen Gesellschaft nicht in ausreichendem Maße wächst, ist neu; der große Entwurf mit „jeder Menge Zukunft“ geht nicht recht auf.

Denn wie der Senator selbst konstatiert, gilt für den Dienstleistungsbereich, daß „sich der Zuwachs auf dem erreichten Niveau tendenziell abgeschwächt haben dürfte“. Nach wie vor ist zwar der Anstieg der absoluten Beschäftigungszahlen seit 1985 ganz wesentlich der Arbeitsplatzzunahme im Dienstleistungssektor zu verdanken. Die Zahl dieser jährlich neuen Arbeitsplätze ist aber von durchschnittlich 11.000 (1985) auf geschätzte 6.000 im letzten Quartal 1988 zurückgegangen.

Auch in anderer Hinsicht hat die Entwicklung des Berliner Dienstleistungssektors die in sie gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllt. Die Wachstumsquote der Dienstleistungsunternehmen hat Berlin bisher nicht zur westdeutschen Wirtschaftsentwicklung aufschließen lassen. Im Gegenteil, laut Pieroth ist festzustellen, „daß die Berliner Dienstleistungsunternehmen deutlich im Wachstum gegenüber dem Bundesdurchschnitt zurückgeblieben sind.“

Motor Industrieaufträge

Woran das nun liegt, weiß nicht einmal die Grundsatzabteilung des Wirtschaftssenators. Hinreichend aufgeschlüsselte Statistiken fehlen ebenso wie arbeitsmarktpolitische Regionaluntersuchungen.

Der Grund für den Boom war zu Beginn der Legislaturperiode jedoch schnell gefunden. 1985 profitierte das Wachstum der Dienstleistungsunternehmen von den gestiegenen Industrieaufträgen. Damit fiel einmalig die Wachstumsquote der einzelnen Dienstleistungsbranchen um einen halben Prozentpunkt höher aus als die der westdeutschen Unternehmen. In den folgenden Jahren zehrte sich dieser geringfügige Wachstumsvorsprung auf, und die bundesrepublikanische Dienstleistungsbranche kam in Führung. Der Bereich „private Dienstleistungen“ verzeichnete in der BRD ein um 2,1 Prozent höheres Wachstum als in Berlin. Die „privaten Organisationen und Staat“ lagen mit 1,8 Prozent ebenfalls höher.

Die verminderte Anzahl neuentstandener Dienstleistungs -Arbeitsplätze, die sich bei geschätzten 6.000 pro Jahr eingependelt hat - und damit als die ungünstige Wachstumsrelation im Vergleich zum Bundesgebiet - zeigt, daß der ökonomische Strukturwandel zur aufgehenden Dienstleistungsmetropole bisher nur begrenzte Schubkraft entfaltet. Der Dienstleistungsbereich scheint nur begrenzt den industriellen Arbeitsplatzverlust auffangen zu können, zumal Berlins Bevölkerung wächst. Im Bundesgebiet und in Berlin liegt seit Mitte der siebziger Jahre die Produktivität der geleisteten Arbeit über den Wirtschaftswachstumsraten. Bei gleichbleibender Arbeitszeit sinkt demzufolge die Beschäftigung. Dieser Zusammenhang kommt auch im Dienstleistungssektor zum Tragen.

Für die Stagnation bei der Zunahme neuer Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor dürfte insbesondere die Beschäftigungsentwicklung zweier Dienstleistungsbereiche verantwortlich sein.

Einzelhandel

Die Beschäftigung im Berliner Einzelhandel geht trotz Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitarbeitsstellen unaufhaltsam zurück. Computerkassen und EDV -Warenwirtschaftssystem rationalisieren die Arbeitsabläufe und reduzieren die Stammbelegschaften. Als flexible Reservearmee fungieren zunehmend die Arbeitnehmer, die in den von der Sozialversicherungspflicht befreiten sogenannten „Taschengeldverhältnissen“ arbeiten. Ihr Anteil an den Beschäftigten des Einzelhandels ist laut der Gewerkschaft HBV „in den achtziger Jahren explosionsartig gestiegen“. Insgesamt meldet sie eine „weit offene Schere zwischen Umsatz und Beschäftigung“.

Öffentlicher Dienst

Der hervorstechendste Grund für den Rückgang neuer Arbeitsplätze ist allerdings das „Nullwachstum“ des öffentlichen Dienstes. Seit er zuletzt 1985 die Anzahl seiner Beschäftigten um 3.000 ausgeweitet hat, hat dieser Bereich unter der Ägide der christliberalen Koalition nichts zur Entwicklung Berlins als Dienstleistungsmetropole beigetragen. Freiwerdende Stellen wurden nicht mehr besetzt oder gleich ganz gestrichen, Planstellen in befristete ABM -Stellen umgewandelt.

Der Deutsche Beamtenbund und die ÖTV melden so zum Jahresbeginn 1989 3.000 offene Stellen im öffentlichen Dienst, die zur Wiederbesetzung anstünden. Dazu kommen etwa 1.700 Stellen, die im Zuge der Arbeitszeitverkürzung bei der Wochenarbeitszeit um eine Stunde zum 1.4. 1989 entstehen. Der momentane Zwist zwischen der Schulsenatorin Laurien und den Lehrern und Schülern um die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung in neue Lehrerstellen zeigt, wohin die Reise geht. Statt die Beschäftigung im öffentlichen Dienst aus- und Arbeitslosigkeit abzubauen, wird lieber das Leistungsangebot der schulischen Bildung gekürzt.

Bei der Entwicklung der Dienstleistungsmetropole bewegt der Senat nicht den Hebel, den er in der Hand hat: den öffentlichen Dienst. Statt den Spatz in der Hand zu füttern, versucht er mittels allerlei Aufwendungen, die Taube „Privates Kapital“ aus Westdeutschland einzufangen und den Dienstleistungsbereich als eine Investition in Rationalisierung auszubauen. Dabei vergißt er bloß, daß die Mehrzahl der Beschäftigten in Berlin Arbeitnehmer, aber nicht Unternehmensgründer und High-Tech-Dienstleister sind.

Klara Furth

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