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DDR-Christen in der Offensive

Klimawechsel gefordert / Auszüge aus einem Papier aller christlichen Kirchen der DDR  ■ D O K U M E N T A T I O N

Ost-Berlin (taz) - Schon im vergangenen Oktober hat die ökomenische Versammlung aller christlichen Kirchen in der DDR in Magdeburg drei Diskussionspapiere beschlossen, die erst jetzt bekannt geworden sind. Auf Bitte der katholischen Kirche wurden die Papiere zunächst zurückgehalten. Sie sollten das strapazierte Verhältnis zwischen Staat und Kirche nicht zusätzlich belasten. Die Texte ergänzen ein Thesen-Paket, das bereits im Oktober vorgelegt wurde. Brisantestes Papier neben einem über Wehrdienstverweigerung und einem über Schwangerschaftsabbruch, ein vierseitiger Text unter dem Titel: „Mehr Gerechtigkeit in der DDR unsere Aufgabe, unsere Erwartung“. Die taz veröffentlicht in Auszügen die Forderungen der Kirchengemeinden. Die Thesen selbst sollen auf einer weiteren ökomenischen Versammlung im April in Dresden beschlossen werden. Erfahrungen und Einsichten

In unserem Lande leben viel zu viele Menschen mit enttäuschten Erwartungen an die Gesellschaft. (...) Der Anspruch von Staats- und Parteiführung in Politik und Wirtschaft, grundsätzlich zu wissen, was für den einzelnen und die Gesellschaft als Ganzes notwendig und gut ist, führt dazu, daß der Bürger sich als Objekt von Maßnahmen, als „umsorgt“ erfährt, aber viel zu wenig eigenständige, kritische und schöpferische Mitarbeit entfalten kann. Gängelung und Frustration behindern die Lösung anstehender sozialer, ökologischer und ökonomischer Probleme unseres Landes; sie verstellen aber auch zugleich den Blick auf die weltweiten Probleme, in die auch wir unauflösbar verflochten sind. Die dadurch gegebene Spannung zwischen Regierenden und Regierten verhindert den inneren Frieden, beeinträchtigt aber auch den Hausfrieden im gemeinsamen europäischen Haus. Warum sind so wenige bereit, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen? Die meisten werden antworten: „Es lohnt sich nicht, es bringt nur Nachteile.“ Solche Antworten entspringen alltäglichen Erfahrungen:

-Wenn sich Bürger aufgrund gemeinsamer Interessen zusammenfinden, geraten sie schnell in den Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten.

-Wer Vorschläge unterbreitet, begegnet oft einem Funktionär, der vor allem Richtlinien durchsetzen muß, und selten einem Amtsträger, der bereit und in der Lage ist, sachgerechte Entscheidungen für seinen Verantwortungsbereich zu treffen.

-Wer irgendwie auffällt und sich nicht, wie erwartet, angepaßt verhält, muß mit Rückwirkungen in ganz anderen Lebensbereichen rechnen.

Durch solche Ohnmachtserfahrungen werden Menschen entmutigt oder verbittert, jedenfalls aber entmündigt. Es fehlt in der DDR eine Öffentlichkeit, in der die Probleme unseres Landes und Lösungsmöglichkeiten von Politikern, Fachleuten und Betroffenen ehrlich besprochen werden. Es fehlt in der DDR an Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit. (...) Viele in unserem Lande sehen ihre Besonderheiten oder besonderen Probleme nicht hinreichend berücksichtigt; sie fühlen sich deshalb an den Rand gedrängt und ungerecht behandelt. Ihre Möglichkeiten, sich zu organisieren und zu artikulieren, sind eingeschränkt. Andere suchen vergeblich nach Hilfe zur Selbsthilfe. Aus der unwirtlichen Öffentlichkeit suchen viele Zuflucht in der Familie. Auch hier treffen sie nicht auf eine heile Welt, denn auch die Familie ist vom rapiden sozialen Wandel erfaßt, wie die hohe Scheidungsrate und die große Zahl Alleinerziehender augenfällig machen. (...)

Erfordernisse und Erwartungen

(...)Wir brauchen, um uns in unserer Gesellschaft zurechtzufinden und an ihrer Gestaltung teilzunehmen, einen gesellschaftlichen Grundkonsens über das, was ist, was bleiben und was werden soll. Damit er sich zeigen und wachsen kann und damit wir wissen, woran wir miteinander sind, brauchen wir dringend die dafür notwendigen Informationen und den freimütigen und ehrlichen Meinungsaustausch überall dort, wo es um gemeinsame Angelegenheiten geht, sowohl in Versammlungen als auch in den Medien. (...)

Wir brauchen eine Atmosphäre, die den Mut zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten befördert. Diese wird verdorben durch geheime Überwachung und fehlenden Datenschutz, sie würde aber befördert durch mehr Rechtssicherheit, in der klar ist, welche Rechte und Pflichten der Bürger hat und auf welchen Rechtswegen er zu seinem Recht kommen und unberechtigte Zumutungen abwehren kann. Dazu müssen die Rechtswege vervollständigt werden. (...)

Wahlen, in denen die Urteilsfähigkeit der Bürger wirklich gefordert wird, geben den Gewählten ein tragfähiges Mandat. Auf solchen Wegen kann das Mißtrauen in die Absichten des Staates abgebaut werden.

Unsere Gesellschaft braucht Bürger, die in der DDR ihre Heimat sehen können. Dem möchten alle bisher beschriebenen Erwartungen dienen. Die verkrampfte Situation in der Reise-, Auswanderungs- und Rückkehrfrage erschwert es vielen Bürgern, hier ihre Heimat zu finden. (...)

In unserer Gesellschaft brauchen diejenigen, die nicht den allgemeinen Erwartungen entsprechen und anders sind oder sein wollen, mehr Verständnis und Toleranz.(...) „Maßnahmen“ aber - in Familie, Schule, Arbeitsstelle, Öffentlichkeit oder in der Kirche - sind nur dann gerechtfertigt, wenn Andersartigkeit wirklich anderen unzumutbare Nachteile aufbürdet.

In unserer Gesellschaft brauchen diejenigen, die mit sich und der Gesellschaft nicht allein zurechtkommen, genügend und qualifizierte Helfer, die sich der Sache der Betroffenen annehmen, sowie Hilfe zur Selbsthilfe und zur Eingliederung in die Gesellschaft leisten. Um zu wissen, wie es bei uns wirklich steht, zum Beispiel mit Alkoholmißbrauch, Kriminalität, Probleme in und nach dem Strafvollzug, Gewalt in der Familie, Selbstmord, und um helfen zu können, brauchen wir gerade hier umfassende Information und Aufklärung. (...)

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