: Norwegen fürchtet die „Freiheit der Meere“
Bei den Anrainern des Nordmeers wächst die Unruhe über die militärische Entwicklung zu Land und zu Wasser / Kompensieren Großmächte mögliche Truppenverminderungen in Mitteleuropa mit mehr Horchposten, Flugzeugträgern und Raketen im Norden? / U-Boot-Manöver hinter dem Treibeis häufen sich ■ Von Reinhard Wolff
Von „Wursttheorien“ kann man seit einiger Zeit viel in norwegischen Medien lesen. Nicht in Metzgerfachblättern oder Verbraucherzeitschriften, sondern in den Kommentarspalten der großen Tageszeitungen. Das anschauliche Bild: Drückt man die Mitte oder ein Ende einer der - unsäglichen einheimischen - Fleischwürste zusammen, wird der Inhalt an das jeweils andere Ende gequetscht. An diesem immer dicker werdenden Ende liegen nach Ansicht der Kommentatoren Norwegen und vor allem das Nordmeer.
Waffen sind es, die da in der zusammengequetschten Wursthülle immer weiter nördlich wandern, dieses Wurstende bis zum Zerplatzen aufblasen. Die „Wursttheorien“ sind der bildliche Ausdruck für die in Norwegen in den letzten beiden Jahren gewachsenen Unruhe. Wenn von Raketenabbau und Truppenverminderung zwischen den Militärblöcken die Rede war und ist, ist damit vor allem Mitteleuropa gemeint.
Skandinavien fürchtet, daß die USA und die Sowjetunion Abrüstungsschritte in Mitteleuropa, das Verschrotten von Raketen und Panzern, durch eine Aufrüstung bei den Seestreitkräften kompensieren werden. Wohin entwickelt sich etwa die sowjetische Flottenstrategie und was bedeutete vor allem konkret die Verlegung des Trägerschiffes „Baku“ und des atomgetriebenen Zerstörers „Michail Kalinin“ zur Nordmeerflotte gerade vor einem Monat?
Gorbatschow hüllt sich
in Schweigen
Seit Mitte der siebziger Jahre hatte die in den Häfen der Kola-Halbinsel stationierte sowjetische Nordmeerflotte ihren Aktionsradius immer weiter in den Nordatlantik vorgeschoben. Kola selbst werde, so klagen Regierungskreise in Oslo, immer weiter aufgerüstet. Aus sowjetischen Seemanövern entnahmen die Nato-Militärs, daß die UdSSR das Einsatzgebiet der Flotte bei einem militärischen Konflikt aus dem Nordmeer in das Seegebiet zwischen England und Island vorverlegen wollte. Die Nordmeerflotten und Flottenbasen beider Seiten wurden stetig verstärkt, Norwegen lag plötzlich mitten in einem potentiellen Kriegsschauplatz.
Breschnew hieß damals der Parteichef, in seine Regierungszeit fiel nicht nur diese Aufrüstung im Norden, sondern auch die Stationierung der SS-20 und die Invasion Afghanistans. Was Afghanistan und die SS-20 angeht, hat Gorbatschow bereits klare Zeichen gesetzt, was aber geschieht mit dem Nordmeer? Um diese Frage ranken sich die Spekulationen in Norwegen. Die Nato will noch keine neuen Signale aus Moskau bemerkt haben, aber unabhängige Militär und Friedensforscher weisen darauf hin, daß sich der Manöveraufbau der sowjetischen Nordflotte seit 1986 nach und nach verändert hat. Die Seemanöver wurden an Zahl und Umfang immer mehr vermindert, das Manövergebiet in das eigene Seegebiet vor der Kola-Halbinsel zurückgenommen. Eine offizielle Kritik an der Flottenstrategie der Breschnew-Zeit - darauf warten die Norweger bislang vergeblich.
Das könnte aber auch viel mit der Politik der Nato zu tun haben. Die organisierte nämlich im September vergangenen Jahres das größte Nato-Seemanöver, das jemals in dieser Region stattgefunden hatte. An diesem alljährlich stattfindenden Manöver „Teamwork“ hatte Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland schon 1987 Kritik geübt, mit dem Resultat, daß die Nato das Kriegsspektakel noch weiter aufplusterte.
Aber es geht nicht allein um den Umfang dieser Nato -Manöver, sondern um die dabei sichtbar werdende Strategie, die von der Sowjetunion als Bedrohung ihrer nördlichen Militärbasen verstanden werden muß. „Vorgeschobene Verteidigung“ heißt das Ganze verschleiernd. Inhaltlich bedeutet diese Nato-Strategie für den Nordatlantik, daß eine Spannungssituation im Mittleren Osten, Mittelamerika oder wo auch immer auf der Erde von den USA mit einem „vorbeugenden Angriff“ auf die sowjetischen Basen auf der Kola-Halbinsel beantwortet werden kann.
Allem Abrüstungs- und Entspannungsgerede zum Trotz unterhalten die USA in Mittelnorwegen mehrere Basen, vollgestopft mit Kriegsmaterial. Radarstationen und U-Boot -Abhörstationen sind über den ganzen Norden verteilt. Die Nato-Militärs dringen auf Genehmigungen zur Errichtung weiterer Nachschubbasen und zum Ausbau von Flugplätzen in Norwegen. Ihr Argument: Ohne eine solche Infrastruktur seien die Kriegsschiffe, vor allem die Flugzeugträger, nur bedingt einsatzfähig. Auch die weit draußen im Eismeer liegenden Inseln Jan Mayen und die Bäreninsel stehen auf der Wunschliste der Nato, zumindest um dort Treibstofflager und Hubschrauberbasen einzurichten.
Ola Tunander, Forscher am norwegischen Friedensforschungsinstitut PRIO, wirft der Nato vor, die auf „defensive Verteidigung“ gerichteten sowjetischen Signale bewußt nicht verstehen zu wollen.
Nato: „Vorgeschobene Verteidigung“
In der norwegischen Diskussion mehren sich die Stimmen, die Nato müsse ihre Strategie der immer deutlicher werdenden „Bastionsstrategie“ der UdSSR anpassen. Sowjetische Nordmeerflotte und Luftwaffe seien vorwiegend darauf ausgerichtet worden, die mit Atomraketen bestückten U-Boote und deren Flottenbasen abzusichern. Selbst Verteidigungsminister Johan Jörgen Holst sprach im Oktober von einem möglichen Signal der UdSSR, das von der Nato nicht übersehen werden dürfte.
Denkbar ist aber auch die Entwicklung in eine ganz andere Richtung. Für Ola Tunander beispielsweise ist der Abbau der Mittelstreckenraketen in Zentraleuropa nur eine Augenwischerei. Ihre Rolle hätten schon längst auf See stationierte Raketen übernommen, gerichtet auf exakt die gleichen Ziele. Die U-Boot-Flotten beider Großmächte scheinen in steigendem Maße auf die geographischen Vorteile zu setzen, die das Eis des Nordpolgebietes bietet. Sind die U-Boote unter der festen Eisdecke relativ leicht zu orten, geben die vorgelagerten großen Treibeisgebiete einen hervorragenden Schutz, der teilweise auch die Unterstützung der U-Boote durch Überwasserschiffe und Luftwaffe überflüssig macht.
Sowjetunion und USA verstärken und modernisieren jedenfalls gleichermaßen ihre Unterwasserflotten: Die USA setzen ihr Programm für den Bau von 4.000 neuen seestationierten Raketen fort, von denen 20 bis 30 Prozent mit atomaren Sprengköpfen versehen werden sollen. Die UdSSR modernisiert die älteren U-Boote der Yankee-Klasse, um diese mit neuen Raketen ausrüsten zu können. Für beide Seiten ist das Nordmeer ein bevorzugtes Einsatz- und potentielles Abschußgebiet. In Washington diskutierte Pläne, „Killer-U -Boote“ gegen die sowjetische Unterwasserflotte einzusetzen, die dann ebenfalls vor der Haustür der Norweger stationiert würden, verstärken die Unruhe in Oslo.
Auf den militärischen Schutz seiner Seeverbindungen will Norwegen nicht verzichten. Überdacht werden solle aber der Teil der amerikanischen Marinestrategie, der das Nordmeer zu einem Hilfskriegsschauplatz für einen ganz woanders ausgebrochenen Konflikt machen wolle. Mit dieser Linie versucht die Regierung in Oslo, innerhalb der Nato Unterstützung für eine Änderung der Marinestrategie zu finden. Als ersten Schritt propagierte Ministerpräsidentin Brundtland eine Übernahme der Regelungen für Manöver Anmeldung, Zulassung von Beobachtern -, die durch die Europäische Sicherheitskonferenz eingeführt worden sind. Für Seemanöver gibt es entsprechende Vereinbarungen nämlich noch nicht. Die USA und Großbritannien haben diese Regelungen für Seemanöver bereits abgelehnt. Ihre Begründung: Die „Freiheit der Meere“ dürfe nicht beeinträchtigt werden.
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