: HANDFESTES MENSCHENMATERIAL
■ Neukölln und der volksgebildete Musikillstar
In Neukölln war man mehr als zehn Jahre lang auf der Suche nach einer bestimmten Lücke, bis sie jetzt in der Berufsausbildung zum Musicalstar Gestalt annahm. Noch auf der Suche, war man ihr derart dicht auf den Fersen, steckte förmlich in ihr, unablässig, daß die Suche nunmehr als gemachte Erfahrung mit der Lücke bezeichnet wird. Die Gebärde des Geschreis von der Entdeckung einer Lücke, der Musicalausbildung nämlich, und ihrer Füllung, der Professionalisierung der Ausbildung, wird gemeinhin - das haben die Neuköllner gelernt - Pressekonferenz genannt.
In dem dafür geeigneten Raum hängen die toten Stadtväter in Öl von der Wand und sitzen die lebenden am Kopf des Tisch -Us. Lachs mit Meerrettich, Schinken mit Petersilie und so, das kommt schon ganz prima. Auf jedem Teller, man kennt sich aus, wird eine Serviette liebevoll zur Narrenkappe gefaltet, die jeweils einen Pressevertreter erwartet. Einige Narrenkappen wurden zwar um ihren Gast betrogen, aber ihr Anführer, der Neuköllner Pressereferent, stellte dennoch ein zahlreiches Erscheinen fest.
Die finstere Entschlossenheit des Volksbildungsstadtrats, des Musikschulleiters und der Dozenten trägt Amerikanismen und Anglismen in ihre Sätze und ist somit über jeden Zweifel erhaben. Zur Auswahl der Bewerber um einen Musicalausbildungsplatz an der Neuköllner Musikschule werden Audischens veranstaltet; es wird mal über den großen Teich geguckt in die Kollittschiss in Ämärikka; der Bäckgraund wird erhellt und die ßemmi-Profeschenäls werden von den Full -Profeschenäls getrennt. Nucht zuletzt ist es die ideelle und künstlerische Beratung eines Onne-rippel Tschärmänz, die die Bezirksgesichter zum Strahlen bringt.
Tschärmän Baumann, bisher noch bekannter in seiner Funktion als künstlerischer Direktor am Theater des Westens, hält ein Plädoyer für die Neuköllner Füllung mit Exportschlager -Fähigkeit: „Meine Damen und Herren, es hat sich herumgesprochen, daß das Musikill, die progressive Musikform, in Deutschland Fuß gefaßt hat. Die Spielpläne der Theater sind auf Musikills angewiesen, auf die Theaterform, die so vieles kann, die, tja, zunächst mal unterhält, die die Leute vom Pantoffelkino wegholt und - das ist vielleicht das Wichtigste - es ist nicht elitär, es ist volksnah, es handelt sich um handfeste Menschen.“
Getragen von den Worten des großen Vorsitzenden geht Herr Weber von der Musikschule ins Detail der „hochkarätigen Paketausbildung“ aus festverschnürtem Tanz, Gesang und Schauspiel: „Diese zwei Jahre sind Ausbildung mit dem Ziel, große Schangsen zu haben. Dafür kann man auch verlangen, daß die Auszubildenden zwei Jahre bei der Stange bleiben.“
Die Kurve von der Stange zum Material und vom Material zum Nachwuchs kratzt Frau Schulz, ansonsten für Körpersprache zuständig: „Wir wissen, daß hervorragendes Material aus England und Amerika da ist, wir wollen den deutschen Nachwuchs fördern, von dem wir wissen, daß er da ist.“
Dem Showbizzz wächst hier ein deutsches Bein, das bei Bedarf mit Dozenten noch fester verschraubt werden soll. Allein die klangvollen Namen der bisher eingeplanten oder schon beschäftigten Dozenten sorgen für einen nicht zu übersehenden Glämmer: Terence French, Vladimir Gelvan, Hans Falckner, Vivien Lee, Petra Schulz und last, not least, Reggie Moore. Von ihnen reichen die Fäden in alle Richtungen nach Hongkong, New York, Riga, Moskau und Karl-Marx-Stadt. Da gibt es jetzt auch eine Linie von Neukölln zu den Jubilee Singers, zum Bolschoi Ballett, zum Theater des Westens, zur Deutschen Oper, zum American Ballett Theatre, zur Humboldt -Universität - und dann noch die somit indirekt gesponnenen Konnäktschns zu Galina Ulanova, Asaf Messerer, Valerie Panov, Brecht, Stanislawski, Müller, Käutner, Wolf, Shaw, Piel, Vogelsang und Blank und und und all den vielen, vielen anderen. „Neukölln ist im kommen“, weiß der Pressereferent. Erst im Kontext dieses Gewebes sind die Schlußworte des Volksbildungsstadtrates zu verstehen: „Ich hoffe, daß das alles auch ein bißchen ausstrahlt - na, ich will nicht sagen auf den Rest der Welt. Und dann möchte ich noch einmal auf die Veranstaltung am 4.Februar hinweisen, die Premiere von It's a great little world.“
Hermann Bohlen
Premiere am 4.Februar um 20 Uhr, Konzertsaal der HdK, Hardenbergstraße. Weitere Aufführungen am 5., 11., 12. Februar. Eintritt 12 Mark, ermäßigt 6 Mark.
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