piwik no script img

Das lange Warten auf Rocky

■ Box-Weltmeisterschaft in der Deutschlandhalle: Die Atmosphäre ist auch nicht mehr das, was sie mal war / Dennoch: Stöhn-Orgien auf den oberen Rängen

Im weiten Rund der Deutschlandhalle sind die Rollen gut verteilt. Auf den Rängen, den billigen Plätzen, herrscht Bier und Stimmung. „Rockiii...“ brüllt sich einer die Lunge aus dem Leib. Und ruiniert damit endgültig seine kaputtgehauenen Stimmbänder.

Im Innenraum aber, unmittelbar am Ring, da, wo die Karte um die 400 Mark kostet, gibt sich die Halbwelt vornehm und nippt am Sektglas. Die ganz schlanken, ganz langbeinigen Frauen mit der Langeweile im Gesicht ziehen sich die Lippen nach oder zupfen an ihren Lederminis. Sie sind hier genauso Beiwerk wie die Girls im Ring, die auf Pappschildern jeweils die nächste Runde ankündigen. In ihren knappen Trikots lösen sie auf den oberen Rängen wahre Stöhn-Orgien aus.

Die Vorkämpfe sind so lala. Sie sind nicht gut, aber auch nicht richtig schlecht. Dabei wäre das Publikum wohl bereit, sich begeistern zu lassen. Beim einzigen Sieg durch k.o. „Mann war det een Jötterschlag“ - springt alles auf, stöhnt, applaudiert. Bei diesem Kampf bekomme ich auch eine Ahnung, daß Boxen ein hochinteressanter Sport sein könnte. Die Boxer im Ring haben etwas von Raubtieren. Da ist dieses Getänzel. Sie umschleichen sich, landen blitzschnell einen Treffer, die Muskeln spielen, glänzen feucht.

Boxen, das war in den zwanziger Jahren der Sport der Arbeiter und auch mancher der linken Intelligenz - Bert Brecht zum Beispiel schwärmte für die Männer mit den ehrlichen Fäusten.

Heute ist davon nicht viel übrig geblieben. Das Publikum ist Berliner Mischung aus gröhlenden Prollis, mausgrauen Angestellten und solariengebräunten Zuhältertypen. „Richtige“ Prominenz ist ohnehin nicht da. Die Politiker können es sich nicht leisten - so kurz vor dem Wahltag. Ja gut, Gustav „Bubi“ Scholz ist gekommen - aber er erntet Sprechchöre: „Verbrecher, Mörder“.

Der letzte Vorkampf vor dem Fight „Rocky“ gegen „Sugar Boy“ Malinga ist ein Reinfall. Die Schwergewichtler „klammern“, d.h. beide Boxer hauen sich ihre Pranken um den Leib und verharren wie zwei ineinander verkeilte Stiere, bis der Ringrichter sie trennt. Das Publikum, immerhin hat es schon drei Stunden durchgehalten, reagiert gereizt. „Aufhören, aufhören“, skandieren die oberen Ränge. Man will endlich Rocky - den Star. Um Punkt 23 Uhr ist es dann soweit. Die Live-Übertragungen der privaten Sender - auch nach Südafrika - beginnen.

Fanfaren- und Trompetenklänge, rote und blaue Scheinwerfer flammen auf, der Champion zieht im Triumpfmarsch ein. Das Publikum rast. Die aufgestaute Libido entlädt sich. Selbst die vornehme Halbwelt läßt sich zu „Rocky„-Rufen herab. Rocky sieht aus wie ein Rumpelstilzchen in seinem goldenen Mäntelchen mit Kapuze und seinen goldenen Stiefelchen. Er sieht sympathisch aus, trotz zerknautschter Nase. Er hat eine angepunkte Frisur, oben blond gefärbt. Er sieht aus wie ein Junge aus der U-Bahn.

Aber dann. Selbst ich erkenne, daß er nicht in Form ist. Hat er keine Kraft oder keine Lust, anzugreifen? Will er nur seinen Titel verteidigen? Jedenfalls ist es schwer, bei Malinga einen Treffer zu landen. Der ist schnell, sehr schnell und hat eine gute Deckung. Dem Publikum wird es langsam anders. „Hau ihn“, „leg ihn um“, rufen zwar noch ein paar Unermüdliche, aber ab der siebten, achten Runde ersterben auch diese Aufforderungen. Man bringt den Kampf so hinter sich. Sieg nach Punkten für Graciano Rocchigiani, verkündet der Sprecher um zwölf Uhr Mitternacht. Mäßiger Applaus. Rocchigiani, obwohl als entsetzlich mundfaul verschrien - entscheidet sich, zum Publikum zu sprechen: „Ick weeß, det war nich mein bester Kampf.“

Eine Sympathieprämie über 1.000 Mark vom Club „Lady Mina“ hat er trotzdem bekommen.

Naja Rocky. Du bist zwar Champion, aber das Publikum ist unerbittlich. Solche Kämpfe darf man nicht ungestraft in den Kampf setzen. Es wittert, wenn einer nur Geld machen will. Sonst wird es dir ergehen wie Bayern München - Champion, aber ungeliebt.

Helga Lukoschat

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen