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Bologneser Doktorhut für einen Perestroiker

Andrej Sacharow auf Kurzvisite in Bologna / Die älteste Alma mater der Welt verleiht dem sowjetischen Wissenschaftler und Bürgerrechtler die Ehrendoktorwürde / Kaum politische Gespräche - viel intellektueller Glanz  ■  Aus Bologna Werner Raith

Was hat sie nicht schon alles gesehen, die ehrwürdige, älteste Alma mater der Welt, vulgo Universität Bologna: schwere Kämpfe schon im 11. Jahrhundert mit der intellektuellenfeindlichen Kirche, Kriege zwischen papsttreuen Welfen und kaisertreuen Staufern, im 14. Jahrhundert gar einen Total-Exodus der Professoren, weil der Präfekt sich unterstanden hatte, einen Studenten festzunehmen, der während eines Liebeshandels einen Pfarrer getötet hatte. Jahrhundertelang pilgerten die Jurastudiker aus ganz Europa dorthin, denn fast alle abendländischen Gesetzessysteme beruhen auf der dort entwickelten, deshalb nach Bologneser Ansicht völlig zu unrecht „römisch“ genannten Rechtsphilosophie. Eine aufmüpfige, richtungsweisende Geistesschmiede also, auch wenn in neuerer Zeit nur noch wenig Spektakuläres von dort zu vermelden war.

Doch nun, seit einem guten halben Jahrzehnt, weiß man wieder, wo der Geist des Landes weht, jedenfalls was die Selbstdarstellung angeht. Nicht nur, daß Italiens philosophisch-literarische Allzweckwaffe Umberto Eco (Der Name der Rose) inzwischen hier lehrt: Seit Mitte der 80er Jahre hat man, neben der Vorbereitung des 1988 abgefeierten 900jährigen, in geradezu rührender Weise alle möglichen Kandidaten ausfindig gemacht, denen man mit universalem Aufsehen Doktorhüte aufsetzen kann. Im November zum Beispiel war Alexander Dubcek dran; er bekam die Laurea honoris causa in Rechtsgelehrsamkeit. Nun hat es einen weiteren Perestroiker erwischt, Andrej Sacharow. Der hat zwar schon seinen Physik-Doktor, ist gemeinhin auch eher als Atomfachmann bekannt, doch die Bologneser brachten heraus, daß ihm auch ein Ehrendoktorat in Astronomie genehm wäre, und so weilt er nun, vier Tage lang, zwischen den Geistesgrößen Italiens.

Das heißt, „eigentlich“, wie er sagt, „dürfte ich gar nicht da sein“: der Wahlkampf zu Hause für die Deputiertenversammlung fordert den ganzen Mann, „eigentlich“ 24 Stunden am Tag. Nur drei Stunden habe er geschlafen. Seine Frau Elena Bonner schiebt die beiden als eine Art Leibwache angereisten Empfangschefs vor sich her: den ewig in Verbeugung verharrenden Vorsitzenden des Komitees „Wissenschaft für den Frieden“, Antonio Zichichi, und den Präsidenten der Region Sizilien, Rino Nicolosi, die den Nobelpreisträger unbedingt für das jährliche Welt -Atomphysikertreffen gewinnen möchten. Nicht viel Aussicht auf Nachtruhe also.

Tatsächlich sieht der Langersehnte auch am Nachmittag noch nicht besser aus, obwohl ihn da eine Visite beim Papst lockt: „eigentlich“ ... wir wußten es bereits. Immerhin: Da er sich noch mit Sozialistenchef Bettino Craxi trifft (während die Kommunisten zu langsam schalteten und noch immer keinen Termin mit ihm haben), kann man ihm einige politische Vokabeln herauswinden: „Noch ist in der UdSSR nichts gewonnen“, erklärt er, „aber ich habe ein präzises Programm: Niemand darf mehr gegen seinen Willen ausgebürgert werden.“ Von einer Demokratie sei man „noch weit“ entfernt, die Widerstände seien unheimlich - doch überraschend dann ein uneingeschränkt optimistischer Satz: „Gorbatschow wird's aber schaffen.“ Jetzt muß er weiter, zu einem gehetzten Halbstundentreff mit den Größen italienischer Wissenschaft an der Akademie und dann in die Franziskuskirche nach Assisi, Frau Bonner zuliebe.

Nun, Mittwoch nachmittag, also Bologna. Feierlicher Einzug der Professoren. Der „rettore magnifico“ Fabio Roversi erklärt eine halbe Stunde lang mit vielen Zitaten von Galilei und Campanella, was man unter Geistesfreiheit zu verstehen hat, der Dekan der mathematischen Fakultät, Sergio Focardi, erklärt, daß Sacharow seinen Doktorhut wegen seiner Forschungen über Schwarze Löcher bekommt, und der Sprecher des staatlichen Fernsehens neben mir erklärt dem Publikum, warum man ausgerechnet jetzt, wo der Geehrte zu sprechen beginnt, die Übertragung abschaltet - die Sendezeit ist um. Und Sacharow? Ja, der sitzt noch müder als zuvor da. Dann erhebt er sich und spricht. Er berichtet über die Unterbrechung seiner Karriere, äußert wieder seine Zweifel an der Haltbarkeit der Perestroika, die offenbar während der Italienreise wieder stärker geworden sind, und widmet sich dann „seinem“ Thema: Die Wissenschaft, sagt er, müsse einen „essentiellen Beitrag leisten, die Spaltung der Welt in Blöcke zu überwinden“. Und: Freiheit der Wissenschaft sei auch Freiheit der Kultur und damit auch Freiheit der Menschen schlechthin.

Die Zeitungskollegen ringsum sind wieder abgerückt: Man bekomme den Text schriftlich, heißt es. Und wozu braucht man eigentlich den Geehrten persönlich, wo doch schon alle, die in seiner Sonne strahlen, fotografiert und fernsehbildlich übertragen worden sind. Die Geste am Ende der Rede Sacharows drückt viel aus: Er hebt nur noch hilflos die Arme, unsicher, ob ihm einer zugehört hat. Vielleicht war es aber auch nur nicht klar, ob er noch weitere Reden hören mußte.

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