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Es tropft von der Decke

■ „Cinzano“, ein Stück der Moskauer Autorin Ljudmila Petruschewskaja in der deutschen Erstaufführung in Freiburg

Jürgen Berger

Ein Theaterstück in zwei Teilen nennt Ljudmila Petruschewskaja ihr Cinzano aus dem heutugen Moskau. Mit „Zwei Teilen“ meint sie nicht nur die Form des Theaterstücks, in dem sich zuerst drei Männer mit dem gleichnamigen italienischen Wermut besaufen und nach der Pause drei Frauen dem Getränk zusprechen. Zweigeteilt ist auch das Verhältnis der Geschlechter. Sie haben wenig miteinander zu tun; Familienglück gibt es in der Glasnost -UdSSR so gut wie nicht mehr. Das ist das zentrale Thema der russischen Autorin, die dreizehn Jahre bei Funk und Fernsehen arbeitete, bis sie eines Tages nicht mehr wollte. Grund: Die Arbeit, die sie dort in einem Jahr erledigte, hätte sie auch in drei Tagen hinter sich bringen können, erzählt sie. Bis heute hat sie mehr als dreißig Stücke fürs Theater geschrieben.

Am Tag nach der Premiere kommt Frau Petruschewskaja zu einem Gespräch ins Freiburger Theatercafe. Sie liebt und sie genießt das Erzählen. Zuerst aber liest die deutsche Übersetzerin aus einer ihrer Erzählungen, die 1971 geschrieben und erst im Herbst 1988 in der UdSSR erschienen ist (der Luchterhand-Verlag bereitet derzeit einen deutschen Erzählband vor).

Auch in der Erzählung wieder das Thema von Ljudmila Petruschewskaja: Eine Familie will sich nicht finden, über die Kinder könnte noch Zusammengehörigkeit hergestellt werden, aber entweder wollen die Frauen keine, oder die Männer lassen sie im Stich. Die junge, schwangere Heldin der Erzählung sucht ein Heim, der Vater des Kindes will sie loshaben, dessen Mutter zweifelt, ob ihr Sohn wirklich der Vater ist. Zum Schluß ist sie wieder bei ihm, aber nur, weil er die Tochter abgöttisch liebt.

Cinzano. Im zweiten Teil finden sich zwei Frauen in der Wohnung einer dritten ein. Rita Druschinina (Dina Sikiric) nimmt jede Gelegenheit wahr, ihrem Kind zu entfliehen, mit dem sie der Erzeuger sitzen ließ. Polina Schestakowa (Lisbeth Felder) ist gekommen, weil sie einen Tip erhalten hat. Ihr Mann, der Kostja aus dem ersten Teil von Cinzano, soll sich heute abend in dieser Wohnung einfinden, bei Elja Smirnowa (Meike Sang). Die ist, was man bei uns eine Single nennen würde. Von ihr haben die Männer im ersten Teil gesprochen, gelegentlich besuchen sie die Smirnova. Polina ist die einzige der drei, die so etwas wie eine Familie hat. Aber wie morsch das Haus ist, zeigt sich in ihren buchhalterischen Erzählungen, in denen sie die Familienmitglieder nach ihrem Gebrauchswert abklopft. Eltern und Großeltern haben das russische Planwirtschafts-Desaster jahrzehntelang ertragen und sich Vergünstigungen ersessen. Allein auf die sind die Kinder scharf, das ist das verbindende Familiendach.

Die drei Frauen verbindet sehr wenig und es gibt für sie nichts zu tun, als zu erzählen - wie das alles so gekommen ist. Polina leiernd-öde, Rita resigniert, Elja trotzig. „Dort tropft's von der Decke“ - mit diesem Satz endet Mädchen in Blau, ein anderes Theaterstück von Ljudmila Petruschewskaja. Das entspreche in etwa dem Lebensgefühl vieler Sowjetrussen, sagt sie. Auch dieses Stück durfte lange nicht gespielt werden, wird aber inzwischen mit Tschechows Drei Schwestern verglichen. Der Vergleich stimmt zumindest in einem Punkt. Die 51jährige russische Autorin führt Tschechows Thema weiter: In seinen Stücken werden Grund und Boden den persönlichen Interessen geopfert. Ljudmila Petruschewskaja zeigt die Folgen: den Niedergang der Familie.

Die Männer in Cinzano sind kraftvoller als die Frauen, obwohl ihre Art der Flucht aus der Familienrealität weitaus erbärmlicher ist. Kostja (Dietrich Schulz) ist der Anschaffer ohne Geld. Mit Pascha (Lutz Zeidler) verbindet ihn eine eigenartige Männerfreundschaft. Von seiner Frau Polina spricht er nur mit Verachtung, aber um sich Pascha zu nähern verkleidet er sich sogar als Frau.Paschas Mutter ist gerade gestorben. Während des Cinzano-Besäufnisses spricht er immer wieder davon, daß er ihr Begräbnis am nächsten Tag nicht verpassen darf - und verpaßt es natürlich doch.

Walja (Ueli Schweizer) hat als einziger Geld, ist eine Art Ost-Yuppie, von den beiden clownesken Outlaws mit Verachtung behandelt, obwohl er die Cinzano-Flaschen finanziert. Den Männer-Teil von Cinzano hat Ljudmila Petruschewskaja lange vor dem Part der Frauen geschrieben. Dann wurde sie vom Moskauer Künstlertheater gebeten, einen zweiten Teil zu schreiben, damit es ein großes Stück werde.

Das wurde es, allerdings sind sie unterschiedlich getönt und unwillkürlich muß sich das später geschriebene Stück am ersten messen lassen. Denn dieses steigert sich mehr und mehr in eine clownesk-absurde Atmosphäre und ist wesentlich vielschichtiger als das folgende.

Am Ende sitzen Pascha und Kostja wie zwei verunglückte Slapstick-Helden an der Wand. Kai Braak, dem Regisseur der Freiburger Inszenierung, ist dabei ein grandioses Bild gelungen. Man geht in die Pause, gespannt auf den Fortgang und wird enttäuscht. Denn die Frauen bleiben in Freiburg zu sehr im Erzählton, die Inszenierung verläuft im zweiten Teil ohne nennenswerte Spannungskurven. Das liegt auch am Text. Zwischen den Frauen entwickelt sich nichts, so daß es gezwungen wirkt, wenn Rita von ihrem Kind erzählt und Polina solidarisch lächelt. Die Frauen sind zu weich gezeichnet und Polinas biedere Bösartigkeit leider nur angedeutet.

„Meine Stücke kriechen in alle Ecken und Winkel wie Küchenschaben.“ Ljudmila Petruschewskaja sagt das stolz und verschmitzt.

Gerade hat man in den USA eine dramatisierte Fassung der Erzählung aufgeführt, die in Freiburg gelesen wurde. Es hat ihr ganz und gar nicht gefallen. 24 Stunden sei sie im Flugzeug gesessen, erzählt sie - für nichts. In Freiburg hat es ihr sehr gut gefallen. Wenn sie jetzt gehe, habe sie ein Gefühl, als verlasse sie eine Familie, sagt sie.

Wahrscheinlich wird man Cinzano und andere ihrer Stücke demnächst häufiger bei uns zu sehen bekommen - die Übersetzer scharren in den Startlöchern, die Theater fiebern dem Stoff entgegen. Während einer Fahrt in den Schwarzwald will Frau Petruschewskaja die Idee zu einem neuen Stück gehabt haben, das allerdings wieder in Moskau spielt. Vielleicht wird sie es ja auch wieder zu einer deutscher Erstaufführung in Freiburg kommen - wenn sich dort nicht alles ändert. Denn auch von der Decke des Freiburger Theaters tropft es. Intendant Ulrich Brecht verläßt demnächst die Städtischen Bühnen, und sein Nachfolger soll schon mit dem eisernen Entlassungsbesen bereitstehen. Es sieht so aus, als stünden dem Theater in der Perle des Schwarzwaldes turbulente Zeiten bevor.

Weitere Vorstellungen:

24. und 25. Februar

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