: Die Macht des Lärms
■ Murray Schafers „Klang und Krach“
Christoph Asendorf
Was war das lauteste Geräusch, das je auf der Erde gehört wurde? Wem die Frage als nicht besonders sinnvoll und auch als nicht beantwortbar erscheint, der täuscht sich zumindest im zweiten Punkt. Das lauteste Geräusch verursachte der Ausbruch des Vulkans Krakatau am 26. und 27.August 1883. Man kann das erschließen aus der Tatsache, daß der Ausbruch noch auf der viereinhalbtausend Kilometer entfernten Insel Rodriguez - also fast auf einem Dreizehntel der Erdoberfläche - zu hören war. Schafer stützt sich auf einen Bericht des dortigen Polizeichefs, und das gibt einen Hinweis auf seine Methode, auf indirektem Weg vergangene Lautereignisse zu rekonstruieren. Nun handelt es sich aber auch bei diesem Beispiel nicht um einen Beitrag zum Guinness Book of Records, sondern Krakatau ist einer von vielen Knotenpunkten in seiner Argumentation: ein apokalyptisches Geräusch, etwas also, dessen Simulation in der Geschichte der Kriegsführung eine wichtige Rolle spielt.
Schafer ist von Haus aus Komponist, und sein Vorgehen ist in einer grundsätzlichen Voraussetzung John Cage verpflichtet. Wie in dessen Stück4'33'‘ Silence die Komposition lediglich eine verlängerte Zäsur ist, so daß der Konzertsaal gleichsam zum großen Ohr wird, in das die Laute der Außenwelt eindringen, so begreift Schafer das uns umgebende Lautuniversum als Teil einer unendlichen, nie abgeschlossenen Komposition. Damit überschreitet er den Rahmen der Musiksoziologie. Wo Adorno diesseits der Schönbergschule bei Komponisten und Hörern nurmehr Regression vermutete, da geht Schafer aus von der Gleichberechtigung aller Lautereignisse.
Der Musik kommt dabei die Rolle eines Archivs vergangener Laute zu. Auch ohne Lektüre von Lichtenbergs Briefen aus London wird dem Klanghistoriker die großstädtische Lautsphäre durch das Hören bestimmter Partien bei Händel gegenwärtig, in denen das geschäftige Gemurmel der Straßen umgesetzt wird. Die schwachen Spuren einer veränderten Lautsphäre, die sich hier in die Musik einzeichnen, werden im 19.Jahrhundert deutlicher sichtbar. Die Orchester treten in Konkurrenz zur wachsenden Lärmproduktion der Fabriken; ihre innere Organisation verweist auf die Arbeitsteilung. Die Ersetzung des Cembalos durch das Klavier, also von gezupften Saiten durch angeschlagene Saiten, wird zum Signum der Aggressivität des Zeitalters von Dampf und Eisen, gilt Schafer als Indikator neuer Produktionsformen, des Hämmerns, Klopfens und Schlagens anstelle des Schnitzens oder Gießens. Die Schlaginstrumente, die im frühen 20.Jahrhundert ins Orchester einziehen, verstärken diese Entwicklung, die sich mit der Erhöhung der Modulationsgeschwindigkeit in der Musik verbindet.
Schafers eigentliches Thema aber ist eine Bestandsaufnahme unserer akustischen Umwelt. Dabei unterscheidet er die ländliche und traditionelle „Hi-fi„-Lautsphäre von der „Lo -fi„-Lautsphäre der Stadt. Das bedeutet: im ersten Fall sind einzelne Laute wegen des umgebenden niedrigen Geräuschpegels deutlich zu hören - eine Möglichkeit zur Orientierung, der perspektivischen Unterscheidung von Vorder- und Hintergrund, die in der Stadt verschwunden ist. Weit zu hören ist, wie weit zu sehen, unmöglich geworden. Der Vielfalt der Schallereignisse korrespondiert ihre elektromechanische Aufzeichnung und Vervielfältigung - „Genau zu dem Zeitpunkt, als Hi-fi bewerkstelligt wurde, glitt die Lautsphäre der Welt bereits in einen permanenten Lo-fi-Zustand ab.“ Hi-fi -Technik als akustische Gegenrevolution, die doch selbst nur zur Erhöhung des allgemeinen Geräuschpegels beiträgt.
Niederfrequente Laute sind Kennzeichen der modernen Schallumwelt und zugleich der Popmusik. Eine Lokalisierung der Schallquelle ist bei Niederfrequenztönen schwieriger, sie stehen diffus im Raum und scheinen den Hörer einzuhüllen. Darin liegt ein signifikanter Unterschied etwa zur klassischen Musik, die, eindeutiger richtungsbetont, Vorder- und Hintergrundszenen aufbaut. Statt derartiger Separation konstatiert Schafer in der Gegenwart „die Rückkehr in die Tauchstation“ und schlägt zugleich einen Bogen zu mönchischen Gesängen, die in den hallenden Kathedralen auch nicht von einem Punkt ausgehen, sondern das ganze Gebäude erfüllen. Die musikalisch-perspektivische Organisation erscheint so nur als historisches Zwischenspiel.
Nun aber gibt sich Schafer in seinem außerordentlich anregendem Buch nicht mit derartigen Bestandsaufnahmen zufrieden. Ein Satz, ein Aphorismus fast, bringt seine Kritik auf den Punkt - „Wo immer dem Lärm Immunität gewährt wird, ist er mit Macht verbunden.“ Die Zentren der Musik sind auch zugleich die größten Lärmproduzenten, was mehr noch als die industrielle die militärische Lärmproduktion zeigt. Angesichts aber dieser Emissionen und der Allgegenwart von Radio, Moozak und von Architekten, die, statt die Lautstärke zu verringern, Klimaanlagen zur Produktion von Überdeckungsgeräuschen einsetzen, nimmt sich Schafers Forderung nach akustischer Ökologie und Akustikdesign ein wenig pfadfinderhaft aus. Auch leisere Flugzeuge verwandeln die Welt in einen einzigen Flughafen, auf dem wir die „Nachricht, die aus Stille sich bildet“ (Rilke), kaum empfangen werden.
Murray Schafer, Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt (Äthenäum Verlag) 1988, 318 Seiten, 48 Mark
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