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Sinnlos, grundlos und fast leblos

■ Messerstecherei am Ende zweier Parties endete beinahe tödlich / Erwachsene gingen aus rätselhaften Gründen mit Schlag- und Stichwerkzeugen aufeinander los / Prozeß endete ohne Urteil aber mit einer Überraschung

Einem dem größeren Publikum aus einem besserverkauften Buche bekanntgewordenen Richter wird jene Frage zugeschrieben, die seither Tausende seiner Nachfolger beschäftigt hat: „Was ist Wahrheit?“

Pontius Pilatus, der dieses Rätsel seinerzeit unter Gesichtspunkten persönlicher und politischer Opportunität zweifellos in einem juristischen Fehlurteil auflöste, stand allerdings im Vergleich zum Bremer Amtsrichter Gerd Richter vor einer geradezu simplen Aufgabe bei der Klärung des zu verhandelnden Tatbestands. Schließlich hatte es der Bremer Richter nicht mit Schriftgelehrten im Zeugenstand zu tun, sondern mit den höchst lückenhaften Erin

nerungsvarianten einer Messerstecherei, die 10 Beteiligte im Zustand mehr oder weniger starker Alkoholisierung vor über einem Jahr am Bremer Weserdeich erlebten. Zehn mal mußte sich Richter Richter gestern die Geschehnisse des 13. Februar 1988 in der vagen chronologischen Ordnung des „und dann... und dann... und dann“ berichten lassen, wobei die inhaltlichen Füllungen entweder völlig unterschiedlich oder völlig unzureichend ausfielen.

Nur der harmlose Anfang dieses fast tödlich Geschichte gibt keinerlei Rätsel auf. Sie beginnt mit zwei Feiern, deren Gäste nichts voneinander wußten. Während die einen den Geburtstag ei

nes der Ihrenfeierten, feierten andere andernorts anderes. Nur raum-und zeitliche Zufälle wollten es, daß beider Wege sich am 14. Februar unglücklich, aber immerhin unstrittig unter einem Laternenpfahl kreuzten. Jeder Versuch, die Beschreibungen der nächsten 10 bis 15 Minuten zu synchronisieren wird wohl allein einem höheren, jenseitigen Richter möglich sein. Der sehr diesseitig verzweifelte Amtsrichter Gerd Richter scheiterte gestern bei dem Versuch, Fausthiebe, Messerstiche, als Schlagwerkzeuge eingesetzte Video-Kassetten und in unterschiedlicher Zahl benannte Riesenhunde in bissig und harmlos, motiviert und unmotiviert, angreifend und vertei

digend zu sortieren. Wer wann und warum die allgemeine Keilerei begann, war jeweils nur den Betroffenen völlig klar: Aus dunklen Gründen hatten jeweils die anderen angefangen.

Auf der Anklagebank saß gestern nur einer jener 10 wehrhaften Vergnügungswilligen mit dem „absolut schwächsten Gedächtnis“, die Richter Richter in seiner beruflichen Laufbahn eingestandenermaßen je auf Zeugen-oder Anklagebank gegenüber saßen: Der 22-jährige Michael B., der immerhin eingeräumt hatte, „in Panik“ und „aus Angst um sein Leben“ einen Angreifer mit einem Messerstich in die linke Gesäßhälfte von der Sinnlosigkeit seines Tuns überzeugt zu haben.

Das Messer habe er im allgemeinen Kampfgetümmel zufällig auf dem Boden entdeckt.

B.'s Opfer allerdings trug nicht nur die vergleichsweise harmlose Läsion seines Hinterns davon. Bei einem 10tägigen Krankenhausaufenthalt mußte B.s Opfer auch wegen zweier weiterer und weitaus gefährlicher Wunden versorgt werden. Ein Messerstich war durch die Rückenmuskultaur in die Lunge eingedrungen, ein weiterer hatte nur um Millimeter das Herz verfehlt, weil die Klinge auf das Brustbein aufgetroffen und gestoppt worden war. Beide Verletzungen konnte B. sich gestern angeblich nicht erklären.

Das Gericht sah es anders und

zumindest soviel als erwiesen: Möglicherweise oder sogar wahrscheinlich hat B. diesen Stichen sogar den Tod seines Opfers einkalkuliert. Dann hätte er statt einer von der Staatsanwaltschaft angeklagten gefährlichen Körperverletzung aber einen versuchten Totschlag begangen.

Richter Richter hielt es - nicht aus Opportunität, sondern aus juristischer Überzeugung - mit einem 2000 Jahre älteren Richter. Er wusch nach siebenstündiger Beweisaufnahme vor den einhellig verdutzten Prozeßparteien seine Hände in Unschuld. Auch Michael B. wird nun einen höheren Richter finden: Ein BremerLandgericht, zuständig für Tötungsdelikte.

K.S.

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