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Scheibengericht: Alice/Joseph Haydn/Stravinsky/Haindling/Steve Moore/III. International Music Festival Leningrad 1988/Christoph Delz/Revolution Francaise/Ravi Shankar/Franz Schubert/John Cage

MONTAG, 13/3/8915 oALICE:

Melodie passagere. Alice canta Satie, Faure, Ravel. Michele Fedrigotti, Pianofotte. EMT 64-7917111.

Es handelt sich zweifellos nicht um dieselbe, überraschenderweise aber um die gleiche Alice, die 1981 in San Remo mit starkem Bariton Alt „Per Elisa“ schmetterte. Damals war ich beeindruckt. Jetzt, da sie Chansons von Satie, Faure und Ravel singt, bin ich entzückt. Frei von allen Konventionen des Liedgesangs eignet sie sich die scheinbar schlichten Miniaturen an und gestaltet sie so fein nuanciert, daß das Grundrauschen der Platte zum Problem wird. Alice singt mit einer sanften Ausdruckskraft, die wendig in die Charaktere der Chasons schlüpft, und einer enormen Sorgfalt in den Details, daß man sich der Suggestion, die davon ausgeht, kaum entziehen kann. Ein Holzklotz, wer unberührt bleibt, wenn sie Saties „Sylvie“ oder Faures „Chanson d'amour“ interpretiert. Völlig überflüssig ist der weiche Synthesizerklang, mit dem der sonst so zurückhaltende Pianist Fedrigotti Saties erste und vierte „Gnossienne“ grundiert, dessen „Hymne“ versüßt und Faures „Pie Jesu“ aus dem Requiem op. 48 zu religiösem Kitsch verwandelt. Auf Alice aber laß ich nichts kommen. oJOSEPH HAYDN:

Symphonies Nos. 101 & 103. Orchestra of the 18th Century, Frans Brüggen, Philips CD 422 240-2

Ein langer Paukenwirbel, als hätte man das Schafott vor der Nase, dann die tiefen Bläser mit dem „Dies irae“ - Irrtum, es geht ganz anders weiter: Das Adagio reflektiert das düstere Motiv, dann bricht das Allegro mit einem übermütigen Tanz los, der in akkordische Warnungen mündet. Prompt und final ist er wieder da, der Paukenwirbel und die tiefen Bläser, worauf das baßbetonte Schreiten im Moll-Andante folgt. Im Beiheft steht, der Wirbel symbolisiere eher das Aufsteigen des Klanges aus den Tiefen des Elementaren. Im Jahr zuvor (1794) waren Danton und Robespierre hingerichtet worden, jetzt, im Uraufführungsjahr 1795 regierte das Direktorium in Paris. Und da soll ich dem gewitzten Haydn, der in London freischaffend vor dem Publikum bestehen mußte, die Tiefen des Elementaren abkaufen? Frans Brüggen und das Orchestra of the 18th Century haben die Sinfonie mit dem Paukenwirbel (wie auch Nr. 101 „Die Uhr“) streng und präzise wiedergegeben, mit jener engagierten Sachlichkeit, die diese Kompositionen am ehesten im Kopfhörer sich entfalten läßt. oSTRAVINSKY:

The Soldier's Tale. Vanessa Redgrave, Sting, Ian McKellen. London Sinfonietta, Kent Nagano. Pangaea PEA 4610481

Sting als naiver Soldat, Vanessa Redgrave als beeindruckend chargierender Teufel und Ian McKellen der Erzähler, dem die Worte charaktervoll von den Lippen springen. Dazu Strawinskys kühle, karikierende Musik, präzis zwischen die Texte gepflanzt - alles federleicht inszeniert, und doch in keinem Moment oberflächlich. Diese sehr britische „Erzählung vom Soldaten“ ist verbindlich. oHAINDLING:

Muh. Polydor 837810-1

Am schönsten ist das Titelstück „Muh“ mit dem enigmatischen Text „Votter ziag dein‘ Anzug o/Es wird Zeit für di“. Wenn sich das Kuhgeblök in die Kircheglocken mischt und das Horn einsetzt, entwischt Hans-Jürgen Buchner aus Haindling in eine abseitige Poesie, die er mit all seinen engagierten Songs nicht erreicht und wahrscheinlich auch nicht anstrebt: „Himmel Arsch und Zwirn/Der Mensch, der hat kein Hirn“ oder „Männer hart wie Stahl/Die sind der Menschheit Qual„; ja doch. Aber was macht die Musik? Egal? Falsch? Die markigen, aus der Rolle fallenden Bläsersätze, die Buchner einst komponierte, gibt es auf „Muh“ nicht mehr. Seine Sprüche hat Buchner mit Schwing, Tango oder Funk-Rock verpackt, sich also mit Text und Musik aufs sehr Allgemeine verlassen, und das ist eben nichts Besonderes. oSTEVE MOORE:

A quiet gathering. ReR 30, Recommended No Man's Land

„Chamber music or environment sounds“ nennt der Engländer Steve Moore seine Kompositionen aus Alltagsgeräuschen. Der Franzose Luc Ferrari, früher dem Kreis der „musique concrete„-Komponisten zugehörig, hatte in den 70er Jahren die Kunst, Naturklänge nach musikalischer Logik zu arrangieren, zu einer qualitativen Perfektion getrieben, an die Moore jetzt anknüpft. Da korrespondiert das Kindergeschrei auf dem Schulhof mit den Vogelstimmen im Wald, Gebet und Predigt in der Kirche mit den Sportfans und der Lautsprecherstimme auf dem Rennplatz, das Glockengeläut mit dem Einstimmen des Sinfonieorchesters. Steve Moore argumentiert nicht. Er verwendet den Naturklang mit fast unmerklichen Manipulationen: die Tonhöhenkoinzidenzen stiften einen trügerischen Zusammenhang, innerhalb dessen heimlich die Arrangements der Materialien irritierende Ergebnisse herstellen. Auf der Rückseite befinden sich „Eight Openings onto a Vermilion Sky“: effektvolle elektronische Studien, die zum Teil instrumental angereichert sind. oIII. INTERNATIONAL MUSIC FESTIVAL LENINGRAD 1988.

Live. Col legno 0647 284. Polygram Musik Vertrieb

Ein kleines Label für zeitgenössische Musik präsentiert auf sechs CDs das Leningrader Festival vom letzten Jahr. Werke von 20 Komponisten (darunter eine Frau: Sofja Gubaidulina) sind darauf technisch und - nach meinem spontanen Eindruck interpretatorisch tadellos dokumentiert, darunter Franz Hummel, Ladislav Kubik, Krzysztof Penderocki, Alfred Schnittke, Rodion Shchedrin, John Adams, Alexander Tchaikovsky (Präsident des sowjetischen Komponistenverbands, Ehrensache), Wolfgang Rihm und Siegfried Matthuas. Das hat sicher alles viel Geld gekostet, deshalb mußte man an den schriftlichen Informationen sparen: Für den Komponisten und seine Auszeichnungen fielen ein paar Zeilen ab, für seinen Festivalbeitrag nur der Titel. Das Programm vereinigt durchweg Musik, die sich stilistisch der - im Gegensatz zur spröden „Avantgarde“ - „gemäßigten Moderne“ zuschlagen läßt, Musik also, die nicht gerade in Dur und Moll singt, erzählt, vom Leiden kündet und Stimmung macht, Musik, deren Bedeutsamkeit außer Frage steht. Ein vielfältiges, interessantes und populäres Paket, das glatt als Geburtstagsgeschenk durchgeht. Das kühnste Stück darin ist das Konzert für Klavier, Kammerorchester und Laserstrahl (den man verdammt schlecht hören kann) von dem Italiener Daniel Lombardi. Da brechen aus dem Orchester die Naturgewalten hervor, da rumort, donnert und kracht es prächtig - bedauerlicherweise geht das Stück zu Ende, der Epilog signalisiert Entwarnung und Beruhigung. oCHRISTOPH DELZ:

Arbeitslieder, Klavierquartett, Streichquartett. Grammont CD CTS-P 18-2/Tudor Recording Zürich

Der Sänger rezitiert wild afrikanische Sprachfragmente, worauf der Chor antwortet: „Ja, das wollen wir/Nein, das wollen wir nicht.“ Der in Köln lebende Schweizer Christoph Delz hat aus dem Thema „Arbeit“ ein Spiel gemacht, das er sehr ernst genommen hat. Er sammelte und analysierte Work Songs europäischer und außereuropäischer Kulturen, pflückte Texte von Vergil, Strom, Herwegh, Goethe, Marx, Lenau und Salomo und transkribierte Laute von afrikanischen Jägern und Sammlern. Von alledem ist aber kaum was übriggeblieben, denn Christoph Delz komponiert zeitgenössische Musik: Die Arbeitslieder, die mit Tierlautimitationen beginnen, haben mit der Entfernung von den Quellen ihre Kenntlichkeit verloren und schwimmen mit anderen Fragmenten in einem anonymen Strom. In den beiden anderen Stücken ist Delz kompositorisch - an der Umkehrung bestehender Verhältnisse interessiert. Im Klavierquartett wird das Klavier an den Rand gedrängt; der erste Teil seines Streichquartetts ist identisch mit dem Präludium aus Bachs D-Dur-Partita für Violine, dessen Tonhöhenprioritäten er im zweiten Teil umkehrt. Der Umsturz wird vom Saarbrücker Streichquartett mit rüdem Kratzen vollzogen: Delz wütet gegen die Geschichte. oREVOLUTION FRANCAISE:

(Rouget de L'Isle, Berlioz, Paisiello, Mehul, Gossec). Pollet, Le Roux, Raphanel, Raffalli, Courtis, Vanaud, Gesang: Choers et Orchestre du Capitole de Toulouse, Michael Plasson. EMI 7494701

Rechtzeitig zum 200.Jubiläum findet die Revolution auch im Musikprogramm statt. Aber man sollte die Erwartungen nicht zu hoch ansetzen. Fundstücke aus der Revolutionszeit sind in der Regel mild und zahm. Die Gesänge, mit denen gefordert wird, die Aristokraten an die Laternen zu hängen, sind musikalisch meist so konventionell, daß mit ihnen eher die Bestätigung aristokratischer Privilegien zu rechtfertigen wäre. Auch die revolutionäre Kunstmusik, die auf dieser Platte zusammengestellt ist, bedient nicht die Vorstellung, eine Revolution verwandle unmittelbar alle gesellschaftlichen Kräfte, lösche alle Traditionen aus und stoße alle intellektuellen und künstlerischen Unternehmungen übergangslos auf eine ungeahnt neue qualitative Stufe. Vermutlich waren die Komponisten in den Jahren nach der Revolution sich der Tragweite dieses Umsturzes wenigstens nicht so weit bewußt, daß sie sich genötigt gesehen hätten, daraus ästhetische Konsequenzen zu ziehen. Die Hymnen, Beschwörungen und festlichen Oratorien unterscheiden sich kaum von den Feier- und Huldigungsmusiken wie sie kurz zuvor für König, Adel und Kirche geschrieben wurden. So pompös und theatralisch wie sie hier interpretiert werden, müssen sie wohl damals geklungen haben. Auch die Marseillaise hat Berlioz schließlich zu einem dramatischen Oratorium aufgeblasen. (Es gibt von EMI eine zweite Platte zu diesem Thema mit Mireille Mathieu als Barrikadensängerin. Die habe ich mir erspart.) oRAVI SHANKAR:

Inside the Kremlin. BMG Rec./Ariola 209620

Von Besuchern, denen ich die Platte vorspiele, ernte ich schallendes Gelächter. Da hat wohl im Moskauer Kulturpalast die große musikalische Verbrüderungsmesse stattgefunden. Der Meister Ravi Shankar und seine 20 bengalischen Musiker haben mit der Hilfe des russischen Volksensembles „Boyan“, des Kammerorchesters der Moskauer Philharmonie und des Staatschores des Kulturministeriums der UdSSR unter beschwörenden Worten indische Klassik in bonbonbunte Unterhaltungsmusik verwandelt. Besonders komisch wirkt das, wenn das Kammerorchester über das Raga-Potpourri herfällt oder der Chor im Barcarolen-Stil Shanti-Mantra summt. Umwerfend das große Finale (Bahu-Rang), wo jeder mal darf: ein Feuerwerk aus flink durchgemischten Highlights und unverschämten Knalleffekten. oFRANZ SCHUBERT:

Symphonie Nr. 1 D-Dur D 82/Symphonie Nr. 2 B-Dur D 125. The Chamber Orchestra of Europe, Claudio Abbado. Deutsche Grammophon CD 423652-2

Claudio Abbado schreibt im Beiheft, daß seine Aufnahmen der Schubertsinfonien Realisationen des revidierten Notentextes sind, in dem alle Überarbeitungen von fremder Hand rückgängig gemacht wurden. Was kommt da auf uns zu? Als ich weiterlese, daß sich die auffälligsten Änderungen in der Vierten, Sechsten, Achten und Neunten befinden, bin ich erleichtert. Die erste und zweite Sinfonie, in denen womöglich einige Korrekturen angebracht gewesen wären, sind der unrevidierten Fassung täuschend ähnlich und von Abbado mit den europäischen Musikern unbeugsam korrekt eingespielt. oJOHN CAGE:

Works for Piano & Prepared Piano, Vol. II. Joshua Pierce, piano/Dorothy Jonas, piano; Frank almond, violin. Wergo CD WER 60157-50

Cage erzählte einmal, wie er auftragsgemäß eine Ballettmusik für Klavier und Perkussion aufführen sollte, die Veranstalter aber den Perkussionisten nicht bezahlen konnten. Cage präparierte also einen Teil des Flügels so, daß er das Schlagwerk ersetzen konnte. Seitdem gehört das präparierte Klavier zum festen Inventar der neuen Musik. Die hier eingespielten Stücke, „Mysterious Adventur“ (1945), „TV Köln“ (1958), „Daughters of the Lonesome Isle“ (1945), „Dream“ (1948), „The Perilous Night“ (1944), „Nocturne“ (1947) und „Three Dances“ (1944-45), lassen die präparierten Klangfarben durch die formale und rhythmische Strenge stark und kontrastierend hervortreten. Manches davon klingt wie Balinesische Gamelanmusik, aber es gibt auch „dramatisch“ sich verdichtende Kompositionen und schwungvolle Tanzstückchen.

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