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Der Zwischenakt

■ Vor hundert Jahren wurde die „Freie Bühne“ gegründet

Petra Kohse

Am 22.Oktober 1889 war im 'Berliner Volksblatt‘ zu lesen:

„Ein Schauspiel im Schauspiel dieses Publikum! Die Kämpfe zwischen Begeisterung und Ablehnung, Bravo und Pfui, Zischen und Klatschen, die Zwischenrufe, die Demonstrationen, die Unruhe, die Erregung, welche jedem Akt folgten, ja in das Spiel hineinplatzten, schufen das Lessing-Theater in ein Versammlungslokal um, das eine leidenschaftliche, wogende Volksmenge füllt. Und was war es, das diese Stürme entfesselte? Ein höchst sonderbares, nicht wenigen Hörern fremdes, ja beleidigendes Ding: die Wahrheit. 'Unerhört!‘ schrien sie, 'welche Frechheit! Ekelhaft!‘ - 'Ist man hier im Theater oder im Bordell?‘ Es wäre doch besser, meinten sie, wenn die Polizei (...) verbieten könnte, solche Stücke aufzuführen.“ (Curt Baake)

Das hätte diese auch sicherlich gerne getan. Die preußische Zensurpraxis der Zeit beruhte auf einer Bestimmung des Polizeipräsidenten von Hinckeldey, nach welcher es dem Präsidium oblag, ein Theaterstück zur Aufführung freizugeben, oder es wegen „sicherheits-, sitten-, ordnungs oder gewerbepolizeilicher Bedenken“ unter Verschluß zu halten.

Und Vor Sonnenaufgang - er war Anlaß für den oben beschriebenen Publikumskampf - war mit Sicherheit äußerst bedenklich. Jedoch fand die Vorstellung als Sonntagsmatinee des Vereins „Freie Bühne“ statt. Das Publikum bestand aus Vereinsmitgliedern. Somit hatte die staatliche Gewalt weder das Recht noch die Möglichkeit, einzuschreiten. Ein Schildbürgerstreich.

Ausgedacht hatten sich das wahrscheinlich Theodor Wolff und Maximilian Harden, auf deren Einladung sich ein halbes Jahr zuvor, am 5.März 1889, acht weitere kulturbeflissene Männer in der Weinstube bei Kempinski in Berlin versammelt hatten: die Kritiker Otto Brahm, Paul Schlenther, Heinrich und Julius Hart, der Schriftsteller Julius Stettenheim, der Verleger und Buchhändler Samuel Fischer, der Rechtsanwalt Paul Jonas und der Theateragent Stockhausen.

Nachträglich behaupteten Heinrich Hart und Otto Brahm, die eigentlichen Gründer zu sein, doch diese Geschichte kennt man: Kaum ist ein Ei gelegt worden, hat es ein Dutzend Hähne als Väter.

Tatsache ist, daß diese zehn etwas gegen die verheerende Bühnenpraxis der Zeit unternehmen wollten. Berlins Theaterleben sollte wieder ein kultureller Mittelpunkt geistiger Auseinandersetzung werden. Davon war es zu dieser Zeit mindestens ebensoweit entfernt wie heute. Damals allerdings hatten die Zustände handfeste Gründe: Die erwähnte Zensur und die wirtschaftliche Abhängigkeit der Theater vom Publikum ließen das Niveau des Bühnengeschehens auf das eines bloßen Amüsierbetriebs sinken.

Literatur und Dramatik in den siebziger und achtziger Jahren des 19.Jahrhunderts wurden offiziell nur geduldet, sofern sie das Publikum dem rauhen Alltag entführten und in erholsamer Atmosphäre den Feierabend genießen ließen. Gespielt wurden neben den Klassikern vor allem französisierende Situationskomödien a la Paul Lindau, Hugo Lubliner, Charlotte Birch-Pfeiffer oder auch Adolph L'Arronge, dem Direktor des Deutschen Theaters seit 1883. Was zählte, war allein die Publikusmwirksamkeit, und sp sparte man nicht mit billiger Effekthascherei. Jegliches Inszenierungskonzept wurde durch das Virtuosentum verhindert. Bekannte Stars gaben ihre Rolle millionenfach in einmal einstudierter Manier und tyrannisierten den restlichen, meist bunt zusammengewürfelten Schauspielerhaufen.

Kein Wunder, daß den kritischen und fortschrittlich denkenden Menschen eine Reform des Theaters dringend notwendig erschien. Im literarischen Leben gab es unter den jüngeren Autoren schon seit einiger Zeit eine Aufbruchsstimmung, ohne daß sie genau wußten, wo sie sich hinwenden sollten. Darwins Evolutionstheorien, Freud und Nietzsche hatten sie gelesen, die abstrakt-religiöse Weltauffassung war einer exakt naturwissenschaftlichen gewichen. Dies fand auch seinen Niederschlag in der Dramatik: Das Leben wie es war, wollten sie zeigen, Tabus sollten gebrochen, die Negativseiten der Gesellschaft an die kulturelle Öffentlichkeit gezerrt werden: Alkoholismus, Prostitution, Verbrechen, Krankheit, Armut. Doch die staatliche Restriktion verhinderte, daß diesen Dichtern ein Forum geschaffen wurde.

Die zehn, die bei Kempinski saßen und Taten statt Warten im Sinn hatten, konnten sich immerhin an einem positiven Beispiel der Zeit orientieren: In Paris hatte Andre Antoine 1887 das „theatre libre“ gegründet, ein privates Unternehmen, das mit Laienschauspielern arbeitete und, um mit den regulären Bühnen nicht in Streit zu geraten, nur diejenigen Stücke spielte, die von jenen abgelehnt wurden. Und das waren vor allem Stücke naturalistischer Autoren. Was in Frankreich zufällig entstanden war, wollte man nun in Berlin planen und organisieren: eine freie Bühne für die junge, zeitgenössische Dramatik.

Am 5.April 1889 wurde der Theaterverein „Freie Bühne“ im Vereinsregister eingetragen. Die zehn Gründer bezeichneten sich als aktive Mitglieder, machten Otto Brahm zu ihrem Vorsitzenden und übernahmen die „geschäftlichen und künstlerischen (...) Pflichten und Lasten des Vereins (...) und hafteten notfalls mit ihrem Privateigentum (bis 500 Mark) für etwaige Schulden der 'Freien Bühne‘.„

Das Programm sah vor, pro Spielzeit etwa „zehn Aufführungen moderner Dramen von hervorragendem Interesse stattfinden (zu lassen), welche den ständigen Bühnen, ihrem Wesen nach schwerer zugänglich sind. Sowohl in der Auswahl der dramatischen Werke, als auch in der schauspielerischen Darstellung sollen die Ziele einer der Schablone und dem Virtuosentum abgewandten, lebendigen Kunst angestrebt werden.“ (Otto Brahm)

Was die Schauspieltechnik anbelangt, so gab es auch hier schon erste Versuche, an die der Verein anknüpfen konnte: die Theatergruppe von Herzog GeorgII. von Meiningen. Seit 1874 tourte diese durch Deutschland und erstaunte mit außergewöhnlichen Darbietungen. Anstelle von Virtuosen konnte man eine Ensembleleistung sehen, in Kostüm und Dekoration bemühte sie sich um historische Authentizität, und mit einer Probenzeit von etwa 30 Tagen war sie in der Lage, ansatzweise ein Inszenierungskonzept zu entwickeln und durchzuführen. Das Deutsche Theater unter Adolph L'Arronge folgte teilweise diesem Vorbild und versuchte, auch eine schlichtere Darstellungsweise zu etablieren. Dies aber funktionierte nur so lange, wie das Publikum weiterhin ins Theater ging. Eben deshalb war es für den neugegründeten Verein wichtig, kontinuierlich zahlende Mitglieder zu werben, um unabhängig und konsequenter als die Meininger arbeiten zu können.

Im Juni 1889 erging an einige hundert Personen ein Schreiben, in dem Otto Brahm als Vorsitzender, Paul Jonas als Rechtsbeistand und Samuel Fischer als Schatzmeister das Projekt „Freie Bühne“ vorstellten und um Vereinsmitglieder warben, denen allein die Vorstellungen zugänglich sein würden. Bis Ende des Monats waren bereits 350 Personen beigetreten, bis zum Jahreswechsel hatte der Verein 900 passive Mitglieder, und am Ende der Spielzeit 1889/90 waren es über 1.000. Die Beiträge unterschieden sich nicht maßgeblich von den Eintrittsgeldern der teuersten Theater Berlins für eine vergleichbare Zahl von Vorstellungen (zwischen zwei und sechs Mark je Aufführung). Daher rekrutierten sich die Vereinsmitglieder aus den zahlungskräftigen Kreisen der Stadt: Kauf- und Bankleute, Rechtsanwälte, Ärzte, höhere Beamte, Professoren und natürlich viele Kritiker- und Schriftstellerkollegen. Dieses Publikum war nun gewiß nicht repräsentativ für die Bevölkerung und war sicherlich auch nicht primäre Zielgruppe der fast sozialrevolutionären, dialektgefärbten, naturalistischen Stücke, die man aufführen wollte. Vermutlich wurden für die meisten Aufführungen Freikarten an Studenten und jugendliche Interessierte ausgegeben, sonst hätte sich während der ersten Vorstellungen niemals ein Interessenkampf im Saal entwickeln können. Was die Wahl des Spielortes betraf, so war bereits im Juli ein Vertrag mit Direktor Blumenthal vom Lessing-Theater geschlossen worden, nach dem dieser eine Fixmiete von 3.000 Mark erhalten sollte, und, falls die Mitgliederbeiträge auf über 15.000 Mark ansteigen würden, zusätzlich ein Fünftel dieses Mehrbetrags. Der Vertrag war zunächst auf fünf Vorstellungen befristet.

Am 29.September 1889 wurde die „Freie Bühne“ mit Henrik IbsensGespenster eröffnet. So fortschrittlich dieses Stück, in dem sich die Verderbtheit des Vaters in Form von Geisteskrankheit auf den Sohn vererbt, in Thema und Dramaturgie auch sein mochte - es war nicht neu. Öffentlich durfte es zwar in Berlin nicht gespielt werden, wohl aber in den meisten anderen Städten und überdies hatte Direktor Anno im Residenztheater bereits am 9.Januar 1887 eine geschlossene Aufführung organisiert, bei der Otto Brahm und Paul Schlenther zusammenn mit dem Dänen Julius Hoffory, der die beiden auf Ibsen aufmerksam gemacht hatte, beratende Funktion einnahmen.

Die Vorstellung war ein enormer Erfolg. Deshalb wohl begann die „Freie Bühne“ mit Ibsen, ein anderer Grund mag der programmatische Charakter des Werks gewesen sein.

„Die Aufführung der 'Gespenster‘ verhält sich zur Aufgabe der 'Freien Bühne‘ wie das Motto zum Buche. Wollte man das heutige Debut anders auffassen, dann müßte man ja sagen, der Verein 'Freie Bühne‘ habe seine Tätigkeit damit angefangen, seine Überflüssigkeit zu beweisen. (...) Ibsen ist seit Jahren ein Hätschelkind der Gunst bei unserem literatischen Publikum und der ständige Held der öffentlichen Diskussion. Die Wahl der 'Gespenster‘ konnte nur (...)sagen wollen, das Neue wolle an einen älteren Versuch in gleicher Richtung anknüpfen.“ (Isidor Landau, 29.9.1889, 'Berliner Börsen -Courier‘)

Hans Meery zeichnete für diese Inszenierung (wie für viele nachfolgende) als Regisseur verantwortlich, allerdings führte er lediglich aus, was Brahm konzipierte.

Bereits beim ersten Stück zeigte sich, was in der folgenden Zeit kennzeichnend für die Arbeit der „Freien Bühne“ bleiben sollte: Darstellung und Ausstattung wurden in den Dienst des Werkes gestellt, d.h. es wurde wenig gestrichen und man realisierte die meisten Regiebemerkungen des Dichters. Im Vordergrund stand die Ensembleleistung, die psychologische Wirkung von Wort und Handlung bildete die Grundlage der Inszenierung, d.h. Mimik und Gestik wurden verfeinert. Intime Momente ersetzten pathetische und gewannen dadurch an Authentizität. Nicht umsonst wurde Brahm immer wieder „der Menschendarsteller“ genannt. Die Figuren auf der Bühne waren wirklichen Menschen nachgebildet und spielten nicht dem Publikum etwas vor, sondern bewegten sich in eigenen Wänden, wobei die vierte Wand die zum Publikum war. Nicht selten standen Schauspieler mit dem Rücken zur Rampe, flüsterten oder murmelten, ganz wie es der Situation entsprach.

Die erste Aufführung wurde eher positiv aufgenommen, die Presse lobte vor allem die Natürlichkeit der Inszenierung. Ganz anders bei der zweiten Vorstellung am 20.Oktober 1889, bei Hauptmanns Vor Sonnenaufgang. Wegen Vereinsstreitigkeiten waren drei der aktiven Mitglieder Harden, Wolff und Stockhausen - noch vor der Eröffnung ausgeschieden. Neu hinzu kamen die Schriftsteller Ludwig Fulda, Fritz Mauthner und Gerhart Hauptmann. Letzterer war der Öffentlichkeit noch gänzlich unbekannt. Otto Brahm war von diesem Talent aber augenblicklich überzeugt, und auch die anderen Aktiven waren sich über Hauptmanns Erstlingsstück selten einig. Es sollte sofort in Szene gesetzt werden. Noch vor der Premiere erschien Vor Sonnenaufgang in Buchform und beschäftigte die Feuilletons der Zeitungen. Die wenigsten jedoch setzten sich wirklich mit dem dichterischen Gehalt des Stückes auseinander. Die meisten ereiferten sich über die Grobheit und Derbheit der Sprache, über die Unflätigkeiten und versuchten, die Aufführung zu verhindern. Die Hetzkampagne ging soweit, einzelnen Schauspielern, die an der Inszenierung mitwirkten, Drohbriefe zu schreiben und sie aufzufordern, sich von diesem Stück zu distanzieren.

Weil sie das Stück kannten, konnten sich die Störenfriede in aller Ruhe vorbereiten. Im fünften Akt beispielsweise lautet eine Regieanweisung Hauptmanns: „(...) man hört einige Augenblicke deutlich das Wimmern der Wöchnerin.“ Ein Arzt, Dr.Isidor Kastan, hatte daher zur Vorstellung eine Geburtenzange mitgebracht, die er an der betreffenden Stelle über dem Kopfe schwang. Der Tumult war zu diesem Zeitpunkt allerdings schon so erheblich, daß es wohl nur wenigen auffiel, daß Meery und Brahm dieses Wimmern nicht mitinszeniert hatten, sowie überhaupt die anstößigen Stellen gestrichen oder gemäßigt worden waren.

Das Drama, im breiten Schlesisch abgefaßt, schildert das verkommene Milieu oberschlesischer Bauern, die durch die neuen Kohlengruben zu Reichtum gekommen waren und sich nun rücksichtslos ihren Lastern hingeben: Alkoholismus und Unzucht. Die Kritik konnte diesen „ekelhaften Schmutz auf der Bühne“ nicht genug verdammen. Hauptmanns Talent wurde zwar fast einhellig anerkannt, dennoch wünschte man sich, er möge seine Gabe auf delikatere Themen verwenden. Alfred Kerr, der die Vorstellung mit noch nicht ganz 22 Jahren besuchte, machte eine Ausnahme. Rückblickend schrieb er 1896:

„Im Frühjahr 1889 gründete eine Anzahl literarischer Männer in Berlin die Freie Bühne. Die erste Anregung dazu hatte Maximilian Harden gegeben. Im September desselben Jahres wurden die Gespenster (...) aufgeführt. Und als am zwanzigsten Oktober die zweite Vorstellung dieses Vereins stattfand, spielte man ein Drama 'Vor Sonnenaufgang‘. Der Verfasser hieß Gerhart Hauptmann. Er war der Sonnenaufgang unserer neuen Kunst.„

Der Skandal verhalf dem Verein zu immenser Popularität und darstellerisch hatte die „Freie Bühne“ der jungen, unterdrückten Dramatik eine Lanze gebrochen. Bereits ein halbes Jahr nach der Gründung hatte die „Freie Bühne“ ihre Arbeit geleistet: die Entdeckung Hauptmanns und die Kultivierung eines natürlichen Schauspielstils. Danach allerdings kam nicht mehr viel.

Unter der Leitung von Otto Brahm wurden bis März 1893, insgesamt 18 Aufführungen organisiert, vier im Jahre 1889, sieben 1890 vier 1891, eine 1892 und zwei 1893. Das größte Problem des Vereins war, daß es nach Vor Sonnenaufgang nur noch ganz wenige Stücke gab, die dem Programm und den künstlerischen Ansprüchen der aktiven Mitglieder entsprachen. Die Entscheidungsgewalt konzentrierte sich immer stärker auf die Person Otto Brahms. Er entschied bald allein, was gespielt wurde, und irrte sich gelegentlich auch erheblich. Er ließ, wenn auch im gewohnten und gelobten Natürlichkeitsstil, Volksküche, verstaubte Salonstücke und fast pathetische Machwerke darbieten, wodurch er sich natürlich die Gunst der progressiven, naturalismusfreundlichen Vereinsmitglieder und Kritiker verscherzte.

Von Hauptmann wurden am 1.Juni 1890 Das Friedensfest und am 11.Januar 1891 die Einsamen Menschen gespielt. Beide Stücke gehörten eigentlich nicht auf den Spielplan der „Freien Bühne“, da sie bereits von anderen Theatern angenommen waren und auch nicht unter die Zensur fielen. Der Verein wollte aber „seine“ dichterische Entdeckung nicht ohne weiteres den regulären Theaterdirektoren überlassen und beeilte sich, die Erstaufführungen zu organisieren. Dadurch aber entfernte man sich immer weiter von dem ursprünglichen Vorhaben, ein Forum für Dichter zu schaffen, die sonst keine Möglichkeit hatten, gespielt zu werden.

Erst 1893, als schon seit zwei Jahren keine regelmäßigen Vorstellungen mehr stattfanden und es sehr ruhig um die „Freie Bühne“ geworden war, kam sie noch einmal zum Zuge: Hauptmanns Weber sollten am Deutschen Theater unter L'Arronge geprobt und aufgeführt werden. Die Zensoren allerdings hatten dagegen einiges einzuwenden:

„Es steht zu befürchten, daß die kraftvollen Schilderungen des Dramas, die zweifellos durch die schauspielerische Darbietung erheblich an Leben und Eindruck gewinnen würden, in der Tagespresse mit Enthusiasmus besprochen, einen Anziehungspunkt für den zu Demonstrationen geneigten sozialdemokratischen Theil der Bevölkerung Berlins bieten würden, für deren Leben und Klagen über die Ausbeutung und Ausnutzung des Arbeiters durch den Fabrikanten das Stück durch seine einseitige tendenziöse Charakterisierung hervorragende Propaganda macht.„

Auch die Vorlage einer abgeänderten Textfassung brachte die Zensurbehörde nicht zu einer Freigabe des Stückes. Daraufhin reagierte die „Freie Bühne“ sehr schnell, und schon am 26.Februar 1893 waren die Weber im Neuen Theater zu sehen. Da das bürgerliche Publikum dominierte, fielen die Reaktionen auf den Inhalt gemäßigt aus, und die Besprechungen in der Presse widmeten sich eher den ästhetischen Ansprüchen:

„Das Werk sagen wir - das Wort 'Schauspiel‘ will nicht recht aus der Feder gleiten. Es erweckt auch falsche Vorstellungen. Ein 'Stück‘ im landläufigen Sinne, ein 'Schauspiel‘ nach den alten Geboten des Dramas ist es keineswegs, was Hauptmann uns hier bietet. Er hatte früher die fast wie Manie wirkende Vorliebe, die altgewohnten Dinge überflüssigster Weise mit neuen Namen zu bezeichnen, jetzt bezeichnet er ein völlig neuartiges Ding mit einem alten, die Sache keineswegs charakterisierenden Namen. Er sprach früher von einem Stück in soundso viel 'Handlungen‘, wo die übliche Bezeichnung 'Acte‘ auch die zutreffende gewesen wäre, und nannte seine Personen unmotiviert genug 'handelnde Menschen‘. Daß sich Hauptmann von diesen äußerlichen Absonderlichkeiten abwandte, ist nur sehr zu billigen, aber er hätte diesmal ganz wohl für die völlig eigenartige Dichtung auch einen eigenartigen Namen suchen dürfen.“ (Isidor Landau, 28.2.1893, 'Berliner Börsen-Courier‘)

Am 30.Juni 1894 wurde Brahm Intendant des Deutschen Theaters und übertrug den Vorsitz der „Freien Bühne“ seinem Freund Paul Schlenther. Diesen an seinem Vorgänger zu messen, wäre nicht gerecht. Es gab ja so gut wie keine Stücke mehr, die sich zur Aufführung im Vereinsrahmen eigneten, die Presse nahm kaum noch Notiz, und Schlenther hatte auch nahezu keine Unterstützung mehr bei Stücksuche und Organisation. Auch wechselte Hauptmann mit Brahm endgültig zum Deutschen Theater. Gönnerhaft überließ Brahm zwar im Mai 1895 Schlenther das Erstlingswerk von Georg Hirschfeld, Die Mütter, zur Aufführung, da er die Wirkung des Werkchens erst überprüfen wollte, bevor er es an sein eigenes Haus übernahm. Die „Freie Bühne“ als Probebühne des Deutschen Theaters?

Übrigens hatte der Polizeipräsident von Berlin einen Monat zuvor sämtliche Aufführungen verboten, die unter dem Deckmantel der Vereinsveranstaltung die Zensur unterlaufen würden. Konsequenterweise hätte der Verein nun seine Tore schließen müssen, aber noch immer gaben die Mitglieder nicht auf: Noch wollten sie ein Wort mitreden bei der Berliner Spielplangestaltung.

Als Schlenther 1898 ans Burgtheater nach Wien wechselte, begann sich der Naturalismus auf dem Theater bereits wieder zu überleben, während sich sein natürlicher Bühnenstil weitgehend durchgesetzt hatte. In der „Freien Bühne“ indessen begann ein vollkommen anderer Wind zu wehen. Nachfolger von Schlenther wurde Ludwig Fulda, der konsequent vom Naturalismus Abstand nahm, indem er lyrische Stücke zur Aufführung brachte: Madonna Dianora von Hugo von Hofmannsthal, Ein Frühlingsopfer von Eduard von Keyserling und Mutter Maria von Ernst Rosmer. Die veränderten Stücke erforderten auch eine veränderte Inszenierungsweise.

Besonders auffallend war der neuartige Einsatz der Bühnenbeleuchtung. Als stimmungserzeugendes und stimmungstragendes Mittel war das Licht in seiner Wirkung sogar stärker als die schauspielerische Darbietung. Die „Freie Bühne“ war stillschweigend in mystisch-märchenhafte Regionen geraten. Wie konnte das geschehen?

„Der Naturalismus ist entweder eine Pause zur Erholung der alten Kunst; oder er ist eine Pause zur Vorbereitung der neuen: jedenfalls ist er ein Zwischenakt.“ (Hermann Bahr)

Insofern war die Gedenkvorstellung von Vor Sonnenaufgang am 20.November 1909 im Lessing-Theater nicht nur die Abschiedsaufführung des Vereins nach 20jähriger Tätigkeit, sondern gleichzeitig eine Hommage an den Naturalismus, den die jüngeren Kritiker und Besucher schon gar nicht mehr kannten. Die Inszenierung wurde noch einmal von Otto Brahm eingerichtet und entsprach in weiten Teilen der von 1889. Die Wirkung allerdings war selbstverständlich eine vollkommen andere. Der Brahmsche Natürlichkeitsstil war längst gang und gäbe. Die Thematik des Stückes konnte 1909 nun wirklich niemand mehr erschüttern. Wohlwollend und mit nostalgischen Gefühlen wurde die Vorstellung betrachtet und der Verein „Freie Bühne“ konnte, bequem zurückgelehnt, die Lorbeeren genießen, einen Bühnenstil propagiert und erkämpft zu haben, der, als „Zwischenakt“, zur Grundlage des zeitgemäßen, fortschrittlichen Theaterschaffens wurde.

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