: Gorbatschows Auftritt in London-Town
Der sowjetische Staats- und Parteichef beginnt mit seinem offiziellen Staatsbesuch in Großbritannien seine Europatournee / Kritik an geplanter Modernisierungsentscheidung der Nato / Abschlußrede heute mit Spannung erwartet ■ Aus London Rolf Paasch
Die „Roadies“ vom KGB waren schon seit Tagen in der Stadt, um die Auftrittsorte für ihren Star zu begutachten und für die Show zu präparieren. Nachdem dann die Iljuschin mit der Aufschrift „Gorbatschow I“ Punkt 24 Uhr MEZ auf dem Londoner Flughafen von Heathrow gelandet war, schritt der Kreml-Chef mit der scheinwerfervertrauten Gelassenheit eines Bruce Springsteen - „born in the USSR“ - in die VIP-Lounge des Flughafengebäudes. Nur daß er dort nicht von einer kreischenden Teenagerschar, sondern von einer schmachtenden Journalistenhorde erwartet wurde - und von Missile-Maggie höchstpersönlich. Margaret greets Michail, woraufhin beide rasch in die gepanzerte sowjetische Luxuslimousine abtauchten. Schon auf dem Weg in die von einem plötzlichen Wintereinbruch und einem U-Bahn-Streik gequälte Hauptstadt wurden die Konfliktherde dieser Erde flüchtig gestreift. Als Michail schließlich am frühen Morgen zu Raissa ins Bett stieg, sah er aus dem Fenster seines Londoner Domizils noch eine Gruppe protestierender Refusniks mit ihren Transparenten in der Kälte stehen. „Und was ist mit Nordirland?“, würde er der britischen Premierministerin morgen auf ihre Kritik an der sowjetischen Menschenrechtspolitik antworten.
Donnerstagmorgen, 10 Uhr, 30 Sekunden, Photocall vor dem Regierungssitz in der Downing Nr. 10, gefolgt von einem zweieinhalbstündigen Schlagabtausch zwischen dem Entspannler aus dem Osten und der kalten Kriegerin aus dem Westen. Er beschwert sich, daß der Westen in Afghanistan weiterhin die Mudschaheddin unterstütze; sie will wissen, was das mit der angeblichen Lieferung von in der Luft auftankbaren sowjetischen Kampfflugzeugen nach Libyen soll. Außenminister Sir Geoffrey Howe, der noch am Montag öffentlich vor dem irreführenden Charme des immer noch bis an die Zähne bewaffneten russischen Bärs gewarnt hatte, debattiert unterdessen mit seinem Amtskollegen Schewardnadse über die Chancen für eine friedliche Konfliktlösung im südlichen Afrika, im Nahen und im Fernen Osten.
Dann kommt Gorbatschow zur Sache. Schließlich beginnt er seine Europatournee in London, weil er hier die von Frau Thatcher für den Nato-Gipfel im Mai anvisierte Entscheidung über die Modernisierung der Kurzstreckenraketen noch verhindern zu können glaubt. Ihr Festhalten an der Modernisierung und ihre Ablehnung einer dritten Nullösung belaste die Ost-West-Beziehungen und beeinträchtige die Chancen für die Abrüstungsverhandlungen in Wien. Nicht Lance -Aid, sondern Live-Aid, so gibt er ihr zu verstehen, müsse das Motto einer beidseitigen Entspannungspolitik lauten. Ob er nach seinem gefeierten Auftritt vor der UNO im Dezember bei seiner Show am Freitagmorgen in der Londoner Guildhall schon wieder neue Abrüstungsstücke zur Verhinderung dieser Modernisierungsentscheidung im Repertoire haben wird, darüber läßt der Star aus dem Kreml Frau Thatcher und die Medien allerdings bis zur letzten Minute rätseln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen