: Der nächste Ausbruch kommt bestimmt
■ In der ersten Nullnummer der taz vor zehn Jahren fand sich auf der Kulturseite ein Gespräch mit dem Dirigenten und Komponisten Michael Gielen - zur Beachtung der Linken mit ihrem gebrochenen Verhältnis zur musikalischen Moderne. Zehn Jahre danach ein neuerlicher Versuch: anderthalb Tage lang debattierte Frieder Reininghaus mit dem Meister in dessen Domizil auf der Alm überm Mondsee hinter Salzburg. Und versuchte hinterher, das alles in lesbarer Form zusammenzufassen.
Frieder Reininghaus
Der Dirigent und Komponist Michael Gielen ist ein Grande der musikalischen Moderne: ein nüchterner, sachlicher, belesener, strenger Musiker, der sich mit heiligem Eifer um die Musik der jeweiligen Gegenwart kümmert, aber auch fulminante Beethoven- und Wagnerinterpretationen vorgelegt hat. Das Verzeichnis seiner Kompositionen weist seit 1949 eine lockere Reihe von Instrumental- und Orchesterwerken auf, auch Vertonungen von Nietzsche-, George-, Neruda- und Arp-Texten. So manches Schlüsselwerk der Avantgarde hat Gielen auf den Weg gebracht: Karlheinz Stockhausens Gruppen (1957) und Carre (1960), Mauricio Kagels Heterophonie (1961) und György Ligetis Requiem (1965); im selben Jahr die Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper Die Soldaten in Köln und (1969) dessen Requiem für einen jungen Dichter. Er brachte Hans Zenders Oper Stephen Climax (1986 in Frankfurt) zur Uraufführung und dirigierte zum ersten Mal Wolfgang Rihms gewalttätige dreiteilige Klangbeschreibung (1987 in Donaueschingen). Gielen, 1927 in Dresden geboren, war zehn Jahre lang Korrepetitor an der Wiener Staatsoper, dann Erster Dirigent in Stockholm, von 1965 bis 1969 Chef der Kölner Oper, leitete anschließend das Orchestre National de Belgique in Brüssel und die Niederländische Oper. Von 1977 bis 1987 dauerte die „Ära Gielen“ in Frankfurt - die umstrittensten und glanzvollen Jahre der Oper und der Museums-Konzerte. Er ist Professor am Mozarteum in Salzburg und seit 1987 Chefdirigent des Südwestfunks in Baden-Baden.
Frieder Reininghaus: Der Dirigent Michael Gielen ist ein Verfechter und eine Gallionsfigur der musikalischen Moderne. Waren es ausschließlich sachliche Gründe, die Sie auf diesen Weg geführt haben?
Michael Gielen: Nein, da ist auch Biographie dabei. Meine beiden Eltern waren Künstler. Der Vater war Regisseur, die Mutter Schauspielerin, der Onkel, Eduard Steuermann, Schönberg-Schüler, Komponist und Pianist. Meine ersten Versuche, Schönbergs Opus 19 zu entziffern, erfolgten mit elf Jahren. Mit der Zweiten Wiener Schule bin ich schon durch diesen Onkel sehr verbunden gewesen. Es wäre mir ebensowenig wie meinen Eltern - nie eingefallen, einen Unterschied zwischen neuer und älterer Kunst zu machen. Das gehört alles zusammen. Der Übergang von Brahms zu Schönberg erschien mir fließend und selbstverständlich.
Das ist ein Glück. Wir, nach dem Zweiten Weltkrieg geboren, haben diesen „fließenden Übergang“ als gebrochen erfahren durch die Nazi-Zeit, den Krieg und den Kulturkonservatismus der Adenauer-Ära.
Die Emigration war ein Glück - nicht nur im rein praktischen Sinn des Überlebens, sondern auch, weil ich in Argentinien bei europäischen Emigranten studieren konnte, hauptsächlich bei Wienern. Die Klavierlehrerin war eine Freundin von Alban Berg gewesen, die in Europa noch den Klavierauszug des Berg-Violinkonzerts gemacht hatte. Aber leider starb sie bald. Ihr Mann Erwin Leuchter war ein Dirigent aus dem Kreis von Anton Webern und Dr.David Bach, der bis 1938 die sozialistische Kulturbewegung in Österreich geleitet hatte; bei Leuchter studierte ich Theorie und Komposition. Anfang 1940 sind wir nach Buenos Aires gegangen - meine Mutter war Jüdin, mein Vater kein Nazi (er war in Dresden denunziert worden und über Wien nach Südamerika gekommen). Mit Zwölf kam ich nach Argentinien, lernte so schnell wie möglich Spanisch, ging in Buenos Aires zur Schule, hatte mit 17 das Abitur und ging dann drei Semester lang auf die Philosophische Fakultät. Aber als ich mit 19 im Teatro Colon zu korrepetieren begann - 1947 wurde ich fest angestellt -, da ging das zeitlich nicht mehr.
Das Teatro Colon hatte eine französische Spielzeit (in die auch die russische Oper gehörte), eine deutsche Spielzeit und eine dominierende italienische. Ich lernte also viele Stilarten kennen - und nicht nur Fritz Busch und Erich Kleiber als Dirigenten der deutschen Saison, sondern auch Leute wie Tullio Serafin oder Hector Panizza, bedeutende Dirigenten des italienischen Repertoires; oder Albert Wolff, einen enorm kenntnisreichen Franzosen.
Mein Vater wurde 1948 Burgtheater-Direktor; meine Mutter folgte ihm nach Wien. Ich wollte eigentlich nach New York, um bei Eduard Steuermann zu studieren, bekam aber von den Amerikanern kein Visum (wahrscheinlich, weil ich in Buenos Aires einmal bei einer Demonstration festgenommen worden war). Also ging ich auch nach Wien, 1950, als Korrepetitor an die Staatsoper, habe dort auch zu dirigieren begonnen und noch Analyse bei Dr.Polnauer studiert, einem der frühesten Schönberg-Schüler. Beim Unterricht hatte ich immer Partituren der klassischen Symphonien, der Brahms -Kammermusik etc.; Polnauer verfolgte alles auswendig. Er war fast blind, hatte jede Modulation, alle formalen Aspekte im Kopf. Sehen Sie, so wurde es für mich ganz selbstverständlich, nicht zwischen älterer Musik und der Produktion der Gegenwart zu unterscheiden. Das ist überhaupt die einzig vernünftige Haltung - und für jeden schöpferischen Menschen die naheliegende. Damals habe ich auch zu komponieren begonnen, wozu ich jetzt wieder mehr komme - im Oktober dieses Jahres führt Pierre Boulez das Stück Pflicht und Neigung für 23 Instrumentalisten in Paris auf. Von wegen Frieden
Es gibt zumindest Momente von Krise im „modernen Bewußtsein“. Sie haben das 1986 selbst angesprochen in Ihrer Rede anläßlich der Verleihung des Adorno-Preises.
Im Bewußtsein!
Und in der Sache auch.
Das, was jetzt „Postmoderne“ genannt wird, ist ebenso ein Symptom für Krise wie das, was davor war. Den Frieden kann man doch nicht herbeireden. Weltweit wählen die meisten Mehrheiten derzeit konservativ - und die „postmoderne Kunst“ ist eben die Kunst zu dieser vorherrschenden Tendenz.
Das ist mir zu einfach, diese Erklärung.
(lacht) Ich bin halt nur ein Musiker. Kein Theoretiker. Kein Politiker.
Dann bleiben wir doch bitte bei der Musik. Philip Glass beispielsweise wäre ein Repräsentant der von Ihnen markierten „Wende-Kunst“?
Es ist traurig. Es wird nicht nur der Anspruch der großen modernen Musik widerrufen, der Anspruch Schönbergs auf Fortsetzung der Tradition; der ursprüngliche Ansatz auch von Karlheinz Stockhausen, von Pierre Boulez oder Bernd Alois Zimmermann; der Anspruch formaler Komplikation; der Anspruch an eine Sprache, die Widersprüche schon in sich enthält - ob man sie nun hineinkomponiert oder nicht: sie sind ohnehin schon da durch die benutzte Tonsprache. Ein Phänomen wie Philip Glass empfinde ich als das Zukleistern all der Schründe und Spalten, die einen wesentlichen Teil der Kunst ausgemacht haben - diese Art von Musik ist eine Lüge. Glass macht sich und den Leuten etwas vor: Als ob man dadurch, daß man in eine Art Trance versetzt wird, indem eine ganze Oper lang die Arpeggien irgendeiner Tonart rauf und runter gehen, irgendetwas ausgesagt würde über das Leben der Menschen, ihre Widersprüche und Schwierigkeiten von heute. Gerade aber damit müßte doch Kunst zu tun haben.
Musiktheoretisch haben wir seit rund hundert Jahren das Problem, daß - ausgehend von Deutschland - jeweils eine Richtung des Komponierens den absoluten Führungsanspruch anmeldete: nur sie befand sich nach dem eigenen Selbstverständnis auf der Höhe der Gegenwart und bildete das Nadelöhr zur Zukunft. Darin steckt auch ein Stück nationalistischer Hybris.
Glauben Sie nicht auch an so etwas wie einen „Hauptstrang“? Gerade wir sind ja dafür, daß die Minderheiten ihr Recht behaupten. Aber das definiert sich gegenüber einem Hauptstrang - und der war in der Musik des 19.Jahrhunderts eben Wagner, Brahms, Bruckner, Mahler; und dann Scönberg und Webern. Demgegenüber ist Mussorgskij und Glinka, selbst Debussy, ein Nebengleis.
Bei Verdi mag ich das noch weniger akzeptieren. Diese Theorie vom Hauptstrang setzt einen germanozentrischen Mittelpunkt. Mit der vehementen Aneignung der Adornoschen Theorie um 1968 war zugleich eine Bruchlinie angelegt gegen die Ausgrenzung der nicht von der Zweiten Wiener Schule geprägten kompositorischen Produktivität - die Ausgrenzung Kurt Weills zum Beispiel und des abtrünnigen Hanns Eisler, von Skrjabin, Strawinsky und anderer russischer Avantgarde, von Satie und Ives, von den neuen Komponisten aus Italien, aus Amerika, aus Frankreich oder anderen Ländern.
Die Entwicklung ist inzwischen ja viel weitergegangen. Was die Literatur betrifft, so ist so etwas wie ein „Hauptstrang“ schon lange nicht mehr in Sicht. Vielleicht gibt es in Südamerika so etwas noch. - Auf einem viel niedrigeren Niveau ist das Problem heute der Graben zwischen Publikum und Ausübenden; schon hinsichtlich der „klassischen Moderne“ ist er nicht geschlossen, erst recht nicht bei der heutigen Produktion - gleich, was nun deren Inhalt ist.
Soll die jetzige Produktion freundlicher werden? Soll Wolfgang Rihm volkstümlich komponieren?
Die Produktion ist insgesamt ja recht freundlich. Und Rihm ist vielleicht zu volkstümlich. Es gibt ja inzwischen keine wirklichen Widersprüche mehr in seiner - ich muß schon sagen - Konfektion. Eben daß er so glatt ist, beunruhigt mich. Einer, der versucht, Widersprüche auszutragen, ist Mathias Spahlinger. Auch Helmut Lachenmann.
Ist die sich radikal gebende Geste beim Komponieren nicht inzwischen gediegen akademisch? Bei 6.000 Mark Grundgehalt läßt sich leicht Radikalöses kultivieren, das niemanden kratzt.
So ist es nicht. Es wird immer schwieriger, ein irgendwie radikales Werk durchzusetzen - selbst in den Rundfunkanstalten. Unsere Geschichte beim Südwestfunk mit der Uraufführung des Staubs von Lachenmann war unrühmlich - was auch immer da im einzelnen passierte. Seitdem ist von uns kein Lachenmannstück mehr aufgeführt worden, obwohl ich denke, daß wir diese Scharte auswetzen müssen. Ich werde in jedem Fall 1992 in Hamburg die Uraufführung von Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern dirigieren - um zu bekunden, wo ich stehe.
Woher aber sollen, lieber Professor, die Komponisten, die in der Wohlstandsgesellschaft aufwuchsen und mit ihr im Einklang leben, den Willen zum Einspruch hernehmen? Woran soll sich der Oppositionsgeist der 30- oder 35jährigen nähren?
Ich weiß nicht, ob das ein Problem der Wohlstandsgesellschaft ist. Ihr Argument ist ja gut und schön, aber für viele ist das Leben auf dieser Erde kaum auszuhalten, teils wegen der gräßlichen Armut, teils aus psychischen Gründen, teils immer noch wegen der Unterdrückung - in den Ost-Ländern, in Lateinamerika oder im Nahen Osten. Das kann man doch nicht ständig verdrängen und friedliche Musik schreiben!
Nichts liegt mir ferner, als daß ich denke, die Kunst sollte ein Befriedigtsein ausdrücken oder sich in meditative Stadien hineinbegeben. Nur um nicht wahrhaben zu wollen, was denn real passiert. Da könnte ich mich auch gleich vollaufen lassen.
Den Weg zum Meditativen ist freilich Stockhausen, einst der prominenteste deutsche Serialist und ein großes Vorbild, vorangegangen.
Zusammenfassend würde ich die Lage der musikalischen Moderne doch noch einmal als „Winterschlaf“ beschreiben. Der nächste Ausbruch kommt bestimmt. Nach 1848/49 oder nach dem Sieg über Napoleon gab es jeweils für einige Zeit Ruh‘ und Frieden; aber es war der Frieden der Restauration, war Metternichs Frieden. Und dazu gab es die passende Kunst das Biedermeier. Auch heute paßt die angepaßte Kunst zur angepaßten Gesellschaft. Aber das Pendel wird wieder umschlagen. Frankfurter Resümee
Das „Frankfurter Modell“ eines avancierten Musiktheaters fand 1977 bis 1987 statt...
...als bereits sehr viele Entwicklungen in die Gegenrichtung liefen. Wir haben aufklärerisches Theater gemacht; den Anspruch an die Moderne, den Anspruch an das Austragen der Widersprüche, die in den Werken stecken, die auch zwischen den Werken und der Gesellschaft bestehen (in der Zeit, in der sie geschrieben wurden und in unserer Zeit), den Anspruch aus den Widersprüchen zwischen den Werken und uns selber und aus unseren eigenen Widersprüchen, die auf die Werke zurückwirken - all diese Ansprüche ergaben eine Grundhaltung, um die Werke mit dem notwendigen Quantum Wahrhaftigkeit auf die Bühne zu bringen; so etwas wurde zu diesem Zeitpunkt von keinem anderen Musiktheater versucht. Viele Intellektuelle und Kritiker haben das lebhaft begrüßt; einen Teil des Publikums hat es verunsichert - die Leute verließen das Theater in Scharen.
Die Quintessenz ist für mich: nie nachgeben im Anspruch an die Schwierigkeiten! Man soll den Leuten nichts vereinfachen. Wie wir in Frankfurt gesehen haben, wurde das Theater zunehmend wieder voller - und das Konzept führte schließlich zu einem Riesenerfolg: knallvolle Vorstellungen und große Begeisterung. Man muß eben einen langen Atem haben. Klang und Idee
Anders als das Sprechtheater kann die Oper Inhalte durch Bilder zeigen. Daß die Bilder dann auch wieder aufklärerisch waren, daß wir uns den Trend hin zum Bild wieder zunutze machten und die Bilder auf die Bühne stellten, welche die Leute zur Reflexion zwangen (und nicht nur zum Nachdenken über die Kunstwerke, sondern auch über sich selbst), das hat uns in Frankfurt nachträglich zu so etwas wie einer Legende gemacht. Einige Wochen nach unserem Weggang war nichts mehr von unserer Arbeit übrig außer der Erinnerung; es sollte auch aus politischen Gründen - keine Fortsetzung geben. Deshalb kriegen sich die Leute heute nicht ein: denn zuvor waren sie in einer Weise angesprochen worden, wie es normalerweise in der Oper nicht stattfindet. Und damit geht's: Wenn die Kunst nur so vorbeigleitet, als hübsches Bild, dann kann sie (mir) gestohlen bleiben. Gegen den Begriff „Regietheater“ will ich entschieden protestieren, weil Musiktheater, das nur noch Regieereignis mit Musik ist, nun auch wieder nicht wirken kann. In Frankfurt waren die Eindrücke wohl so stark, weil die unkonventionellen und widersprüchlichen Bilder mit einer Art des Musizierens zusammengingen, die gleichfalls gegen den Strich ging. Es gab keine geschönte Klang-Musik. Die Klänge standen im Dienst der Idee, der Struktur. In deren Zusammenhang definiert sich der Klang. Wenn er sich verselbständigt, ist Musik wahrlich sinnlos.
Der Adorno-Schüler Klaus Zehelein mit seiner höchst diffizilen Reflexion, mit seiner verschiedenartigen Lektüre derselben Texte (die eben die Inszenierungen nicht in einer Richtung festnagelte), der war entscheidend; wenn ein Theater einen solchen Mann nicht hat, dann kann der Direktor oder Generalmusikdirektor noch so fortschrittlich denken er wird seine Absichten nicht umsetzen können.
In vielen Momenten der Produktion des Wagnerschen „Rings“, der Ihre Arbeit in Frankfurt abschloß, fand das von struktureller Klarheit bestimmte Musizieren und die Inszenierung von Ruth Berghaus zusammen. Aber es gab dort einen Zug zur Abstraktion, der den ideologischen Belastungen des Werks auswich: Die Verkündung des Heldentods, des Apportieren der toten Krieger - das alles geriet so schön und nobel, daß mich das Grauen beschlich.
Siegmunds Tod wurde doch nicht verklärt!
Dieser wahrhaft ungeheure Moment läßt sich heute, wie manches andere, in der „Walküre“ und der „Götterdämmerung“ wohl nur durch Brechungen, durch Sprünge von der Stilhöhe der Inszenierung, durch schmutzige Elemente darstellen.
Sie haben diesen Eindruck - und haben ein Recht dazu. Sie sagen zutreffend, wie schwierig es ist, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte mit einem solchen Hauptwerk umzugehen. Aber man kann sich nicht vor ihm drücken. Ich erinnere mich, daß ich Claus Peymann - vor vielen Jahren in Achim Freyers Wohnung in Berlin - fragte, ob er nicht Interesse an einer Ring-Inszenierung hätte. Peymann sagte: „Dieses Stück interessiert mich nicht.“ Das hat mich fast umgehauen. Warum interessiert ihn Wilhelm Tell? Wagners Ring hat so viel mit deutscher Geistesgeschichte zu tun, mit Freiheitsbewegung und deren Gegenteil. Es ist doch ungeheuer spannend, was mit Wagner passiert ist und wie diese Inhalte in das Werk kommen!
Zurück vom „Ring“. Der war das Finale der Ära Gielen in Frankfurt. Am Anfang aber stand „Aida“, inszeniert von Hans Neuenfels: Vielleicht die umstrittenste Operninszenierung der letzten Jahrzehnte.
Nach dem Ring kam noch der von Jürgen Gosch inszenierte Figaro, der Ihnen ja so gut gefallen hat, mit dem ich aber meine lieben Schwierigkeiten hatte, weil das Erotische nicht gezeigt wurde und die Personenführung dieser Mozartoper überhaupt nicht entsprach. Aida aber war damals der Durchbruch. Ab da war klar, wo es langgeht. Von konservativer Seite mußten die Anfeindungen groß sein. Aber so etwas hatte es bis dahin an keinem Opernhaus der Welt gegeben: In Frankfurt war zu sehen, wie die alte Aida die Leute plötzlich wieder angeht. Zur selben Zeit konnte man im Fernsehen auch eine Aida aus San Francisco mit berühmten Sängern sehen. Da wurde einem dieser Widersinn, die Dummheit, die aus jedem Bild sprach, vor Augen geführt. Übrigens auch die fehlende Motivation der Sänger. Bei uns hatten sie wirklich etwas zu spielen. - Bei den Aida-Proben kam es zu einer Explosion. Damit aber war der Opposition im Haus allerdings dann die Spitze gebrochen. Den Gegnern unseres Konzepts wurde klar: die kriegen wir hier nicht so schnell weg, mit denen müssen wir jetzt irgendwie leben und arbeiten. Adorno und das Altern
Über Theodor W.Adorno wird von den meisten, die ihn vor 15 Jahren noch gern zitierten, kaum mehr geredet (und nachgedacht über ihn wird noch weniger). Einige Herren hielten es inzwischen für angebracht, ihn wieder zu schmähen - H.H.Stuckenschmidt auf seine steinalten Tage, der gewesene ARD-Korrespondent Wocker, zuletzt Joachim Fest (der ihn, Golo Mann zitierend, einen „Lumpen“ nannte).
Was soll ich dazu sagen? Es ist gut, daß es Adornos Kritik der Kulturindustrie gibt. Die Philosophie der neuen Musik ist nicht durchzusetzen; das Buch ist eine Streitschrift aus den vierziger Jahren, als der Neoklassizismus in Blüte stand (und Strawinsky schwache Stücke schrieb). Was mich heute daran interessiert, ist, daß Adorno schon damals das autoritär-formale Moment der Zwölftontechnik beschrieb, auch Kritik an Schönberg und Webern formulierte. Übrigens hat Adorno selbst als Komponist diese Technik nie schematisch benutzt, sondern hat es eher mit der „freien Atonalität“ gehalten. Wo ich ihn uneingeschränkt schätze, das ist der Aufsatz über Kafka. Niemand hat Vergleichbares geleistet. Oder wenn er über Bach schreibt.
Leider stimmt nicht alles; zum Beispiel die Behauptung über die Herkunft der Themen des „Wohltemperierten Klaviers“ ist unrichtig.
Das mag sein. Aber ich halte für absolut richtig, daß man auch alte Musik nur aus sich heraus musizieren kann, also nicht historisierend spielen soll, nicht als klapperndes Barock. Überhaupt war er gegen jede dumme Art, Musik zu spielen. Eine Aufführung, die nicht Interpretation ist, ist keine Aufführung. Das ist ein Nachäffen. - Zudem glaube ich, daß es keinen jüngeren Komponisten gibt, der sich nicht mit Adorno beschäftigt.
Leider wohl doch.
Vor dem Altern der Neuen Musik habe ich keine Angst. Ich bin voll Hoffnung, daß so etwas wie 1968 wiederkommt - und auch die Komponisten Protest komponieren, daß sie parallel zu einer politischen Entwicklung sprengende Kraft entwickeln.
Das Subversive aber, verehrter Meister, das Sie gelegentlich beschwören, ist längst schon wieder den Herrschaftsmechanismen der „verwalteten Welt“ unterworfen.
Ich bin sehr interessiert, was jetzt in Frankfurt passiert, wenn Daniel Cohn-Bendit in der Kultur etwas zu sagen haben wird: Wo das Geld hingeht. Es wohnen ja wohl zwei Seelen, wenigstens, in der Grünen Brust (das Theater kann notfalls für einige Zeit auch mit etwas weniger auskommen).
Gielens unerfüllte Wunschträume?
Gibt es nicht. Sonst wäre ich ja ein unglücklicher Mensch. Ich bin zufrieden - und manchmal glücklich. Weil ich entgegen der Weltentwicklung und meinem Pessimismus immer noch einsehe, daß es sinnvoll ist, was ich mache; obwohl der Lauf der Welt gegen solche Treue, die ich praktiziere, spricht. Ich kann leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen