: „Det is hier wie im Osten“
■ Das 100-km/h-Tempolimit auf der Avus erregt die freifahrenden Bürger / Die Lust am Schnellfahren ist stärker als die Vernunft / Die PS-Lobby protestiert
Der rote Bereich auf dem Drehzahlmesser der dynamisch lackierten „Suzuki Super Sports“, die an der „Spinnerbrücke“, dem Motorradfahrer-Treff am Südende der Avus, in Wannsee parkt, beginnt bei 13.000 Umdrehungen/Minute. Der Tacho reicht bis 280 km/h. Seit gestern mittag sind 180 km/h davon überflüssig. Das neue 100 km/h-Tempolimit auf der Avus, in der Koalitionsvereinbarung festgelegt und gestern von Verkehrsenator Wagner (SPD) in die Tat umgesetzt, wurmt die Fahrer solcher Geschosse natürlich mächtig. Am Mittwoch abend haben sie aus Protest gegen die neue rot-grüne Obrigkeit ihre Hobel bis in die Nacht hinein nochmal voll ausgefahren: „Immer mit 200 die Avus rauf und runter!“ triumphiert ein rundlicher Pilot, der mit seinem aus der Lederkombi quellenden Bierbäuchlein nicht annähernd so rasant ausschaut wie sein 750er Mopped. Er liebt „irgendwie das Feeling“, das mann hat ab 180 km/h auf der Avus, wenn die Straße frei ist und die Sonne scheint. Der Senat aber ist der Vernunft verpflichtet, nicht der Lust, die 100 PS zwischen den Beinen hervorrufen. Neben der Piste stirbt der Wald, auf der Piste der freie Bürger: Wegen überhöhter Geschwindigkeit gab es zwischen 1986 und 1988 auf der Avus zwei Tote, die Zahl der Unfälle steigt, die Statistik weist für diesen Zeitraum 27 Schwer- und 77 Leichtverletzte aus, Tendenz steigend.
Trotzdem hat der ADAC freien Bürgern, die gegen die Geschwindigkeitsdrosselung klagen wollen, juristischen Beistand zugesagt. Tausende empörter Autofahrer, so der ADAC, hätten beim Club Widerstand angekündigt. Eine Telefonumfrage von Rias-TV unter knapp 6.000 Berlinern ergab, daß 69,5% gegen das Limit sind. Der verkehrtpolitische Sprecher der CDU, Giesel, wetterte gegen die „ökologisch unnötige Schikane“.
Die Jungs in den Lederkombis gestern an der Spinnerbrücke sagen es direkter: „Det is ja wie im Osten jetzt, und wir fahren doch keine Trabbis, die bei 100 eh schlappmachen“, mault ein BMW-Fahrer. Ein anderer versteht nicht, „warum immer dickere und schnellere Hobel angeboten werden, und gleichzeitig wird uns Insulanern das letzte bißchen Auslauf auf der Avus genommen - det is doch Schwachsinn!“
Aber auch, wenn die Motorradfans gestern abend erneut zur Demo-Fahrt auf der Avus aufriefen, gab mancher im Gespräch nach kurzem Argumentieren zu, daß Tempolimits durchaus „ganz in Ordnung sind“ - aber 120 bis 130 km/h sollten es schon sein. „In der Regel ist eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 110-130 km/h das Übliche“ auf der Avus, wird sogar im Demoaufruf eingeräumt, da „das Verkehrsaufkommen in den letzten Jahren stark angestiegen ist“.
So vollzieht das Tempolimit des Senats nur gesetzlich nach, was die normative Kraft des Faktischen schon längst selber regelt, jeder Autofahrer, der die Avus kennt, weiß das. Trotzdem bleibt der behördlich verordnete Lustverlust, dem der Senat durch Verhandlungen mit der DDR jedoch abhelfen könnte: „Wir würden unheimlich gern mit der Karre in die DDR einreisen können, zum Beispiel am Wochenende in den Spreewald“, schwärmt ein Chopper-Fahrer, „da würde mir Tempo 100 überhaupt nichts ausmachen.“
Thomas Rogalla
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