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Armee will keine Gewaltanwendung

■ Auch nach Ablauf des Ultimatums hält die chinesische Armee sich weiter zurück / Aus Peking Thomas Reichenbach

Nach ihrem Hungerstreik gehen die Pekinger Studenten jetzt auf die Barrikaden. An allen Ausfallstraßen der Stadt wurden Barrikaden gebaut, die die anrückende Armee im Ernstfall an einem weiteren Vorrücken zwar nicht hindern würden - aber nur bei Anwendung massiver Gewalt. Und genau dies scheint die Führung der Truppe nicht zu wollen. Deng Xiaoping droht der totale Gesichtsverlust.

Die Lage in Peking ist unverändert gespannt. Auch 55 Stunden nach Verhängung des Ausnahmezustandes belagern die Truppen von fünf Armeekorps die Stadt, ohne die Blockadelinien in den Außenbezirken durchbrochen zu haben. Helikopter warfen über den Unis Propagandaflugblätter der Regierung ab, in denen zum Gehorsam aufgefordert wurde. 18 Rundfunkmitarbeiter wurden vom Dienst supendiert, weil sie in den Frühnachrichten gesendet hatten, daß das Militär noch immer nicht in die Stadt gekommen ist. Beim Rundfunk und Fernsehen sind Presseoffiziere eingezogen, die die Wiederholung eines solchen Vorfalls unterbinden sollen. Angeblich sollen Krankenhäuser aufgefordert worden sein, für den Fall einer gewaltsamen Räumung Bettenkapazitäten für 1.000 Verletzte bereitzuhalten. Diese Meldung dementierte der Regierungsprecher genauso wie das Ultimatum an die Besetzer auf dem Tiananem, mit dem eine Zwangsräumung für Montag morgen angekündigt worden war. Studenten und Arbeiter haben inzwischen erstmals einen gemeinsamen Ausschuß gebildet, der die Aktionen koordinieren soll.

Vorgestern abend trafen alarmierende Nachrichten von bevorstehenden Armeeaktionen ein, in der Vorstadt Fengtai im Südwesten liefen 200 Panzermotoren warm, im Süden rollten neue Lkw-Kolonnen mit aufsitzender Infanterie zu den Blockadestellungen. Die taz begleitete vorgestern abend einen der Studenten-Konvois, die zur Verstärkung der Blockade im Vorort Bajiaocun im äußersten Stadtwesten aufgebrochen waren. Der Ort liegt circa eineinhalb Fahrradstunden vom Stadtzentrum entfernt. zwölf Stunden zuvor hatte dort der bislang schwerste Zusammenstoß stattgefunden. An allen Kreuzungen der sechspurigen Ausfallstraße diskutieren mehrere Tausend Menschen und warten auf Nachrichten. Studenten haben in der Mitte der Straße Verkehrskontrollen eingerichtet. Jedes Fahrzeug, das noch Platz bietet, muß Studenten mit nach vorne an die Stellung fahren. Nach Verhängung des Ausnahmezustandes sind der U-Bahn- und Busverkehr eingestellt worden, der private Verkehr ist fast ganz zum Erliegen gekommen. Außer den Lastwagen voller Studenten, die zu den Außenbezirken fahren, sind sonst nur noch Radler zu sehen. An einer Brücke befindet sich einen Kilometer von Bajiacoun entfernt der letzte Checkpoint vor der Blockadestellung. Ein quergestellter Omnibus mit Anhänger sperrt fast die ganze Straße, aus den Fenstern hängen Fahnen und Transparente. Hier tagt das Verbindungskomitee, 200 Studenten und Arbeiter schützen die Brücke. Einen Kilometer weiter stehen 100 Militär-Lkws voller Soldaten und 50 Panzerfahrzeuge vor einer Barrikade aus Stahlgittern und Betonklötzen sowie einem lebenden Wall von rund 2.000 Menschen: Studenten, Arbeiter, Mittelschüler und Wohnbevölkerung zu etwa gleichen Anteilen. Einer der für die Nachtschicht verantwortlichen Ordner erklärt nach einer Ausweiskontrolle die Situation: „Die Armee ist von der Wohnbevölkerung und einer Handvoll Stahlarbeitern gestoppt worden, indem sie sich auf die Straße vor die Fahrzeuge gelegt haben. Wir Studenten kamen erst Stunden später. Nachdem die Armee die Barrikaden nicht durchbrechen konnte, zogen sie sich zurück. Seitdem haben wir viel Überzeugungsarbeit geleistet, denn die Truppen sind völlig desinformiert. Auch jetzt noch wird versucht, sie von uns abzuschirmen. Sie haben Befehl, die Lastwagen nicht zu verlassen. Aber seit Stunden erklären wir ihnen über Megaphon die wahre Lage. Seitdem ist es in diesem Abschnitt ruhig. Vor allem für die Nacht hoffen wir auf Verstärkung durch die Bevölkerung, denn einen wirklichen Durchbruchsversuch mit Panzern könnten wir mit gegenwärtig 2.000 Leuten nicht aufhalten.“

„Auch dann kommen sie nur bis zur nächsten Kreuzung, wo weitere Sperren und noch mehr Menschen auf sie warten“, erwidert ein Arbeiter optimistisch. „Wir versorgen die Soldaten bereits mit Trinkwasser“, lacht eine Bäuerin, „die werden nicht noch mal prügeln.“ Abends um zehn Uhr treffen mehrere Lkw-Konvois voll Studenten zur Ablösung ein. Allein im Univiertel Haidian warten zu diesem Zeitpunkt noch 50.000 Menschen auf den Abtransport zu den Blockadelinien. Tatsächlich bleibt es nachts ruhiger. Der gefürchtete Durchbruch findet nicht statt. Die logistischen Probleme der Nachrichtenübermittlung und Versorgung der Blockierer mit Decken und Lebensmitteln sind kaum zu bewältigen. Vor allem fehlt es an Transportkapazitäten.

In der gleichen Nacht findet auf dem Tiananmen eine Demonstration statt, nach wie vor halten 200.000 Menschen den Platz besetzt. Mehrere Hundert Redakteure und Journalisten der Nachrichtenagentur 'Neues China‘ protestieren gegen den Ausnahmezustand, wol len sich aber nicht fotografieren lassen. Über die Lautsprecheranlage erklären die Studenten: „Nach zwei Tagen ist der Ausnahmezustand immer noch nicht durchsetzbar. Rein militärisch wäre ein Durchbruch natürlich zu erzwingen. Zwei Gründe hindern sie daran. Erstens in der Führung und der Partei gibt es heftige Flügelkämpfe. Viele sprechen sich gegen eine gewaltsame Lösung aus. Zweitens ein Blutvergießen würde eine ungeheure Protestwelle auslösen, vielleicht sogar zum Aufstand führen. Für die Regierung wäre das die endgültige Niederlage. Ein alter Pekinger schüttelt den Kopf: „Die Regierung erkenne ich nicht mehr an. Selbst zur Zeit der Kulturrevolution haben sie keinen Panzer auf uns gehetzt.“

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