: Scheibengericht: Helley Hirsch, David Weinstein / Agnes Buen Garnas / Dawn Upshaw / Dresser,Feldmann,Roberts / Beethoven / Indiscretion / Michael McNabb / Josef K. Noyce / Sofia Gubaidulina / Ilg, Schröder, haffner / Meat Beat Manifesto
12/6/89??? o HELLEY HIRSCH/DAVID WEINSTEIN:
Heiku Lingo. Review Redords rere 139 Recommended Noman's Land
Wenn der „Heiku Lingo“ ansetzt, fühlt man sich in alpine Gefilde versetzt: Shelley Hirsch probt das Jodeln. Das obligatorische Echo fächert die Vokalisen zu Patterns auf, Weinsteins Synthesizer verfremdet sie mit barockharmonischen Sequenzen, aus denen ein minimalistisch pulsierendes Klangfeld schlüpft, das wiederum von Trommelschlägen und tiefen Haltetönen aufgebrochen wird: Ein akustischer Film läuft da ab mit abruptem Szenenwechsel, Überblendungen, Schnitt und Gegenschnitt. Die Story ist die Montage selbst, und zusammengehalten wird alles von der Stimme Shelley Hirschs, die nicht nur jodelt, trällert und skattet, sondern rollenspielerisch Textfragmente in verschiedenen Sprachen und Dialekten vorträgt. Flink wechseln darunter musikalische Stile und Orchestration (was mit Sampling und den entsprechenden electronic keyboards geradezu herausgefordert wird). So wie Hirsch/Weinstein sind in letzter Zeit auch andere vorgegangen. Aber selten hat dieses ebenso freie wie bodenlose Verfahren ein solch dichtes, attraktives und witziges Ergebnis abgeworfen. Das längere Stück der A-Seite, „Power Muzak 2“, ist eine Art Anlauf zu diesem Sprung. o DAWN UPSHAW:
Knoxville: summer of 1915. Orchestra of St. Luke's, David Zinman. Elektra/Nonesuch/WEA 979 187-1
So steht's aus PR-Gründen auf der Cover-Vorderseite. Auf der Rückseite wird korrigiert: Dawn Upshaw heißt die Sopranistin, und „Knoxville: Sommer of 1915“ ist der Titel einer Komposition für Gesang und Orchester von Samfule Barber aus den Jahren 1947/50. Den Rest der Platte füllen musikalische Frauenrollen, die von Männern ersonnen wurden: die (ins Englische übersetzten) indischen „Mirabai Songs“ von John Harbison (der auch - sicher ist sicher - den Covertext verfaßt hat) und Szenen aus den Opern „The Old Maid and the Thief“ von Gian Carlo Menotti und „The Rake's Progress“ von Igor Strawinksy. Interpretation und Aufnahme wirken durchwegs sorgfältig. Dawn Upshaws intonationssicherer, lyrischer Sopran schmiegt sich im Titelstück sanft in den Klangfluß des Orchesters, kann aber bei Menotti und Strawinsky auch mit dramatischer Kraft überzeugen. Harbison bezeichnet diese Aufnahmen als einen Schnappschuß des Repertoires und der Kunstfertigkeit in einem günstigen Moment in der Karriere der Sängerin. Von großem Vertrauen zeugt das nicht. o ARCADO STRING TRIO:
Dresser, Feldman, Roberts. JMT 834 429-1
In New York, wo die Bedingungen des musikalischen Marktes viel härter sind als bei uns, sind vielleicht die Seiltänzer die einzigen, die eine Chance haben, nicht abzustürzen. Mark Dresser (Kontrabaß), Mark Feldman (Violine) und Hank Roberts (Cello) kommen aus der Szene, für die die Namen Zorn, Braxtin, Glythe, Galas, Frisell und Lindsay stehen, und haben offenbar beschlossen, einmal etwas ganz anderes zu machen, ohne dem nachzugeben, was alle anderen machen. Die außerordentliche musikalische Sensibilität, mit der sie diesen Balanceakt ausführen, fällt schon in den ersten Takten auf. Jenseits der grassierenden Zitiermanie geht „Arcado“ von höchst unterschiedlichen, geschickt montierten Verlaufsmustern aus, um sich von da in Ungesichertes vorzutasten. Dies geschieht mal mit atonalem Melos, mal mit einer durch irreguläre Phasenverschiebungen hergestellten Polyphonie oder mit dichtgestrickten Bebop-Phrasierungen, manchmal (wie in „Subtonium & Three I“) auch mit elektronisch manipulierten gezupften und gestrichenen Klängen in freier Korrespondenz über Geräuschfeldern. Die Souveränität, mit der die drei Geiger ihren kurzweiligen Seiltanz vollführen, ist selbst für größere Wagnisse gut. o AGNES BUEN GARNAS/JAN GARBAREK:
Rosensfole. ECM 1402
Zum ersten Mal in meinem Leben bedauere ich, kein mittelalterliches Norwegisch gelernt zu haben. Die einstimmigen Balladen und Erzählungen, die Agnes Buen Garnas mit lieblich-heller Stimme singt, wurden im norwegischen Telemark mündlich überliefert, einen Großteil davon hat die Folk singende Familie Buen aufgeschrieben. Die für die Platte getroffene Auswahl, die Jan Garbarek sinnfällig harmonisiert und, bis auf plausible Ausnahmen, dezent instrumentiert hat (beides intuitiv und nicht mit der Absicht, das verschollene Erbe authentisch zu rekonstruieren), klingt vielversprechend und bewahrt ein großes Geheimnis. Niemand hat die Texte übersetzt. o BEETHOVEN:
Symphonies 1-9. The Hanover Band, Monica Huggett und Roy Goodman. 5 CD, Nimbus Rec. NI 5144-48/Aris
Daß Beethovens Musik zu den Heiligtümern der abendländischen Kultur zählt, ist wohl ein Grund, sich tunlichst an seine Hinterlassenschaft, die Urtexte, zu halten; aber daß man deswegen alle seine Sinfonien in einer Kirche spielen muß, halte ich für übertrieben. Es ist ja nicht nur der prompte Hallschatten nach jedem Tuttischlag, der ordnungswidrig die Generalpausen füllt, es ist ein konzeptioneller Widerspruch, über den die Hanover Band hinwegspielt. Einerseits beschwört sie mit Originalinstrumenten und kleiner Orchesterbesetzung die historische Uraufführungssituation der Wiener Akademien in Theater, Sälen und Palästen, also den intimen, kammermusikalischen Charakter der neuen Sinfonien. Andererseits nötigt sie die Kirchenakustik zu so mancher Vergröberung, die alle Intimität zum Teufel fahren läßt. Aber ich verstehe auch die Begeisterung derjenigen, die diese CDs besitzen. Wann zuvor hat man seinen Beethoven so wildwüchsig spielen hören? Wann ist einem eine derart ungekämmte Neunte zu Ohren gekommen? Alles historisch! Oder? Ich bekenne Zweifel in Details: Hat Beethoven mit diesem quäkenden und furzenden Blech gerechnet? Aber vermutlich mache ich mir das zu einfach und verkenne die Mühe, die es gekostet haben mußte, sogar die Fehler zu rekonstruieren, die die Musiker bei der historischen Premiere gemacht haben. o INDISCRETION:
Pied de poule. nm1/GRRR 2013 CD
Diesen Frauen ist auch nichts heilig. Sie respektieren nicht einmal die traditionellen Formen des Chansons, nehmen Texte von Racine, Vargas Llosa, Meens und Duras oder erfinden sogar selbst welche und vertonen sie, wie sie's für richtig halten. Michele Buirette (Akkordeon), Genevieve Cabannes (Kontrabaß) und Dominique Fonfrede (Stimme) haben sich ihre Kunst-Werke gründlich durch den Kopf gehen lassen. Versiert in allen Genres, wechseln sie behende Stil und Ausdruck. Die Spontaneität ist reflektiert, das kühl Berechnete ist versinnlicht. Dominique Fonfrede singt und spricht mit Höchstgeschwindigkeit, flüstert, deklamiert virtuos und federleicht, ist Komödiantin und Tragödin, hängt sich tief in den Blues oder sequenziert ungerührt das pure Sprachmaterial. Unsinnig zu fragen, ob das nun Chanson, Jazz, neue oder freie Musik ist. „Indiscretion“ bezieht gegenüber den Texten (weiblich, poetisch), indem sie sie überschreitet, eine artifizielle Position. Und weil sie diesem Anspruch zuverlässig gerecht werden, sind diese Frauen so unberechenbar. Ginge es nach Qualität, wäre ihre Musik längst in aller Ohren. o MICHAEL McNABB:
Invisible Cities, Wergo CD WER 2015-50
Michael McNabb gehört zum Komponistenkreis, der im Computerstudio der Universität Stanford/California arbeitet. Angeregt von Italo Calvinos Buch „Die unsichtbaren Städte“ beschloß er - logisch -, nach dem Sujet eine Ballettmusik zu komponieren. Es geht um das Treffen Marco Polos mit dem betagten Tartarenfeldherrn Kublai Khan, dem er von verschiedenen Städten erzählt, die er in dessen Reich gesehen hat. Der Khan schließt messerscharf, daß alle Beschreibungen auf dieselbe Stadt zutreffen und alle anderen in ihr enthalten sind. Und wie es der Zufall wollte, ließ sich diese Idee reibungslos auf das Musizieren mit minimalistischen Patterns umlegen, die der Synthesizer in den inzwischen vertrauten Klangfarben auswirkt. Die Musik, schreibt McNabb, beziehe sich mehr auf die Gefühle und Stimmungen des Romans, weniger auf das intellektuelle Konzept. So ist es auch. Selbst das letzte der sechs musikalischen Städtebilder, „City of Reflection“, ist kein Anlaß zum Nachdenken. o JOSEF K. NOYCE:
sings Shakespeare. Baal 55/Rc. NoMan'sLand
Die Position des Wortes im Versmaß reguliert bei Shakespeare die Spannung zwischen Inhalt und Ausdruck. Diese Dimension streicht Josef K. und singt, röchelt und raunzt die Texte stattdessen über extrem simplen Rhythmen, die mit belanglosen Synthesizerharmonien und Gitarren- oder Trompetenfloskeln unterlegt sind. Nichts gegen Sir Laurence Olivier mit dramatischer Klassik. o SOFIA GUBAIDULINA:
Offertorium. Gidon Kremer, Violine; Boston Symphony Orchestra, Charles Dutoit. Deutsche Grammophon CD 4527 346 -2
Wer die aussterbende Kunst des Orchestrierens erlernen will, sollte zur ihr in die Schule gehen oder wenigstens ihre Partituren lesen. Die Tartarentochter Sofia Gubaidulina, die bei Dimitri Schostakowitsch studierte und partout keinen sozialistischen Realismus komponieren konnte und wollte, wurde bis Ende der siebziger Jahre in der Sowjetunion angefeindet: Sie befand sich - wie ihr schon die Prüfungskommission bestätigte - „auf dem falschen Weg“. 1980 hat sie dieser Weg zum „Offertorium“ geführt. Vom Preußenkönig Friedrich II. stammt das Kopfthema, das auszukomponieren Johann Sebastian Bach als „musikalisches Opfer“ betrachtete. Aus den Paraphrasen zu diesem Thema entwickelt die Komponistin in weiten Spannungsbögen intensive Klangfarbenverläufe, denen die solistische Erzählstruktur entgegentritt. Das ist so fein erdacht und so gut ausgeführt, daß es selbst denjenigen gefallen muß, die die zeitgenössische Musik für anachronistisch halten. Das zweite Werk auf der CD ist die „Hommage a T.S. Eliot“ (1987) für Oktett und Sopran (Christine Whittlesey) nach Texten aus Elitos „Four Quartets“. Hier hat Sofia Gubaidulina den Gesang teilweise mit sperrigen Skalen umzäunt, was seinen tieferen Grund hat. Aber das mit dem richtigen Weg ist ohnehin abwegig. o MEAT BEAT MANIFESTO:
Storm the Studio. CADEX 028 CD/EfA 08-26-66628
Industrial HiTech-Dancefloor aus England. Ich kann zwar dem Superlativ-Urteil der Disco-Fachpresse nicht folgen, gebe aber zu, daß die Fleischschläger in die hämmernde Struktur ihrer Stücke Materialien eingesampled haben, die dem Tanzenden das Kribbeln in den Bauch und die Schauer über den Rücken jagen: agitierende O-Töne, Vocoder-Stimmen, abstürzende Instrumentalklänge etc. Am besten gefällt mir noch die Nummer 4, wenn da aus den periodischen Industrieklangwellen die verirrten Streicherklänge auftauchen. Da ist den Jungs eine Vision unterlaufen. Den Fehler entschuldige ich. o DIETER ILG, JOHN SCHRÖDER, WOLFGANG HAFFNER.
Mood Rec. CD MOOD 33.629
Die drei jungen Herren machen etwas Altmodisches. Sie spielen diesen sanften, kammermusikalischen Jazz, der virtuos sein muß, aber nie laut werden darf. Und den beherrschen die drei perfekt. Wer so anfängt, ist fast schon zu bedauern. Was hat der für Entwicklungsmöglichkeiten? Gitarre, Baß oder Schlagzeug - es gibt keine Hierarchie des Könnens. Das läuft und wuselt mit einer Präzision, daß einem der Mund offen stehen bleibt. Elegant die coolen Läufe, erlesen die Harmonien, bestechend das Timing, vorbildlich das Zusammenspiel. An dieser künstlerischen Märchenwelt zieht das Leid der Zeit spurlos vorüber. Aber man muß fleißig üben, wenn man sich darin einrichten will. o GEORGES BIZET / MAURICE RAVEL:
Symphony in C / Ma Mere l'Oye. Scottish Chamber Orchestra, Jukka-Pekka Saraste. Virgin Classics CD VC 7 90744-2/259 479 -231
Mit zehn Jahren kommt er aufs Pariser Konservatorium, gewinnt die begehrtesten Preise und schreibt die schönste Oper der Musikgeschichte. Bizet war ein Wunderkind, dem fast alles schiefging. Eine erfolgreiche Aufführung der „Carmen“ hat er nie erlebt. Seine erste und einzige Sinfonie komponierte er als Siebzehnjähriger. Sie wurde fast 60 Jahre nach seinem Tod uraufgeführt. Die Einspielung mit dem Schottischen Kammerorchester ist das, was man sauber und gediegen nennt. Im Vergleich zu den forcierten bis penetranten Aufnahmen, die man so im Sonderangebot bekommt, ist diese hier unbedingt vorzuziehen. Lebhafter ist die Ballettmusik von Ravel gespielt, der noch die „Pavane pour une Infante defunte“ angefügt ist. o MEAT BEAT MANIFESTO:
Storm the Studio. CADEX 028 CD/EfA 08-26-66628
Industrial HiTech-Dancefloor aus England. Ich kann zwar dem Superlativ-Urteil der Disco-Fachpresse nicht folgen, gebe aber zu, daß die Fleischschläger in die hämmernde Struktur ihrer Stücke Materialien eingesampled haben, die dem Tanzenden das Kribbeln in den Bauch und die Schauer über den Rücken jagen: agitierende O-Töne, Vocoder-Stimmen, abstürzende Instrumentalklänge etc. Am besten gefällt mir noch die Nummer 4, wenn da aus den periodischen Industrieklangwellen die verirrten Streicherklänge auftauchen. Da ist den Jungs eine Vision unterlaufen. Den Fehler entschuldige ich. o DIETER ILG, JOHN SCHRÖDER, WOLFGANG HAFFNER.
Mood Rec. CD MOOD 33.629
Die drei jungen Herren machen etwas Altmodisches. Sie spielen diesen sanften, kammermusikalischen Jazz, der virtuos sein muß, aber nie laut werden darf. Und den beherrschen die drei perfekt. Wer so anfängt, ist fast schon zu bedauern. Was hat der für Entwicklungsmöglichkeiten? Gitarre, Baß oder Schlagzeug - es gibt keine Hierarchie des Könnens. Das läuft und wuselt mit einer Präzision, daß einem der Mund offen stehen bleibt. Elegant die coolen Läufe, erlesen die Harmonien, bestechend das Timing, vorbildlich das Zusammenspiel. An dieser künstlerischen Märchenwelt zieht das Leid der Zeit spurlos vorüber. Aber man muß fleißig üben, wenn man sich darin einrichten will. o GEORGES BIZET / MAURICE RAVEL:
Symphony in C / Ma Mere l'Oye. Scottish Chamber Orchestra, Jukka-Pekka Saraste. Virgin Classics CD VC 7 90744-2/259 479 -231
Mit zehn Jahren kommt er aufs Pariser Konservatorium, gewinnt die begehrtesten Preise und schreibt die schönste Oper der Musikgeschichte. Bizet war ein Wunderkind, dem fast alles schiefging. Eine erfolgreiche Aufführung der „Carmen“ hat er nie erlebt. Seine erste und einzige Sinfonie komponierte er als Siebzehnjähriger. Sie wurde fast 60 Jahre nach seinem Tod uraufgeführt. Die Einspielung mit dem Schottischen Kammerorchester ist das, was man sauber und gediegen nennt. Im Vergleich zu den forcierten bis penetranten Aufnahmen, die man so im Sonderangebot bekommt, ist diese hier unbedingt vorzuziehen. Lebhafter ist die Ballettmusik von Ravel gespielt, der noch die „Pavane pour une Infante defunte“ angefügt ist.
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