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Die Langeweile der Mittelklasse

■ Leidenschaftslosigkeit beherrschte den Evangelischen Kirchentag in Berlin

Leidenschaftslos konsumierte die christliche Mittelklasse das Spektakel des Kirchentages. Nichts konnte sie in anhaltende Wallungen versetzen - mit Ausnahme des Halleluja -Gesanges. Den Angehörigen der Mittelklasse und ihren 17jährigen Kindern geht es gut. Ein bißchen Gesellschaftskritik verschönt die Langeweile des Alltags. Insofern spiegelt jeder Kirchentag soziale Realität wider.

Vor Jahren, als die Supermächte gigantisch aufrüsteten, ergriff auch die Gläubigen Furcht. Angst vor dem Krieg war der Motor für die Friedenskampagne des Kirchentages. Nun scheint die Gefahr gebannt. In den lila Halstüchern hing nur noch Nostalgie. Angst vor dem atomaren Super-Unfall beflügelte das kirchliche Engagement in der Anti-AKW -Bewegung. Nachdem die Atomwirtschaft eigenhändig die Wiederaufbereitungsanlage Wackersdorf gestrichen hat, wurde auch dieses Thema eher lustlos auf dem „Markt der Beliebigkeiten“ präsentiert. Wozu über den Umweltschutz streiten, Neutralseife steht in jeder christlichen Küche. Und auch der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika verspricht weder Lustgewinn, noch erfordert er Mut. Es sind sowieso alle dagegen. Das wichtigste Konto von Bothas Geschäftspartner hat der Kirchentag ja schließlich gekündigt.

Weil die Gesellschaft so kompliziert geworden ist und einfache Antworten schwierig sind, schwelgte der Kirchentag in einem gottvollen „Einerseits - andererseits“. So durfte Nicaraguas Innenminister sprechen. Unmittelbar im Anschluß hoben Tausende spontan die Hand für die Durchführung der Podiumsdiskussion mit der rechten „Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“. Bei etlichen Veranstaltungen bejubelten die Teilnehmer entschieden gegensätzliche Äußerungen. Dem Vorwurf der alten Radikalen, die unpolitische Jugend sei verantwortlich für die „Entpolitisierung des Kirchentages“, entgegneten Schüler: „Aber wir haben doch gerade in Stuttgart gestreikt.“ Bei dem einzigen Thema, das von der Kirche wie von Atheisten derzeit Zivilcourage verlangt, versagten sie jämmerlich. Es ist ein Skandal, wie offensichtlich die Kirchentagsleitung sich dem rumänischen Terrorregime und seinen evangelischen Kollaborateuren gebeugt hat.

Petra Bornhöft

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