: Bundestagsfraktion der Grünen - wohin?
Die Fraktion agiert ziellos, der Vorstand gewinnt an Macht ■ Aus Bonn Gerd Nowakowski
Wo ist die Bundestagsfraktion der Grünen abgeblieben? Da wird in der Partei in kleinen Zirkeln bereits über eine mögliche Regierungsbeteiligung debattiert, doch die 43 Abgeordneten, vor kurzem noch in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit die „wahre“ Partei, werden kaum noch wahrgenommen. Nicht daß die Produktion von Presseerklärungen oder parlamentarischen Anfragen aufhörte, doch Initiativfähigkeit und Konsistenz der Fraktion sind dahin.
Die Fraktionssitzungen locken regelmäßig nur den geringeren Teil der Abgeordneten an. Eine politische Diskussion mit Niveau ist ebenso selten wie bei den Altparteien. Personaldebatten erfahren mehr Aufmerksamkeit; doch auch ein Antrag auf Fraktionsausschluß des unbotmäßigen Abgeordneten Ulrich Briefs (oder der Grauen-Panther-Frau Trude Unruh) wird von weniger als der Hälfte der Fraktion verfolgt. Das eröffnet Spielräume für die Führung: Wem anders als dem Vorstand, der sie vorschlägt, kann eine mit zwölf Stimmen gewählte Pressesprecherin verpflichtet sein?
Die Kehrseite ist offenkundig. Gemeinsame Positionen werden kaum erarbeitet. Weitreichende Entscheidungen, die in anderen Parteien einer langen Diskussion der Gremien bedürfen, werden hier von wenigen Mitgliedern in wechselnden Mehrheiten getroffen. Über manches, so erweist sich nicht nur beim Fall Mechtersheimer, wird gar nicht gesprochen oder erst hinterher - wenn das Kind im Brunnen liegt.
„Wir sind 43 kleine Bundestage“, spöttelt die zu den Linken in der Fraktion zählende Angelika Beer. Ihrer Analyse „jeder kümmert sich um seinen Kram, und der Rest ist ihm egal“ - wird nirgends widersprochen. Nach Bündelung der Kräfte, nach einer Schwerpunktsetzung rufen mehrere Abgeordnete - auch der hessische Realo Dietrich Wetzel, der das Konzept einer „ökologischen Reformpolitik“ vorschlägt, dem alle bisherigen Politikfelder untergeordnet sind. Anfang Februar legte er ein Papier dazu vor - es wurde von der Fraktion nicht einmal diskutiert.
Einige ahnen, daß es mit einer Schwerpunktsetzung allein nicht getan wäre; daß die Probleme tiefer liegen, es vielmehr an der politischen Substanz fehlt. Viele Abgeordnete tun in ihren Arbeitsfeldern mit viel Einsatz ihre Pflicht. Aber Politiker waren die wenigsten, als sie nach Bonn kamen, und nur wenige sind es in den Jahren geworden. Macht sich hier der Geburtsfehler grüner Politik bemerkbar? Grüne mußten zunächst einmal bessere Fachleute sein, um sich gegen bornierte Verwaltungen und Unternehmer durchzusetzen. Das wirkt nach. Vielen fehlt es auch an der Leidenschaft, um mit Lust an einem gesellschaftlichen Gesamtkonzept zu streiten.
Was ist mit den Realos geschehen? Otto Schily ist selten präsent. Greift er ein, vermitteln seine Gesten große Müdigkeit, vielleicht auch tiefen Überdruß. Manchmal bewirbt er sich um Reden im Bundestag, redet auch gut und verläßt danach den Raum, ohne das Ende der Debatte abzuwarten. Die Realos, so wirkt es, haben innerparteilich - nach Berlin und Hessen, nach dem Sturz des fundamentalistisch dominierten Parteivorstands - ihre Ziele erreicht, doch als Personen haben sie sich verbraucht. Es gibt regelmäßig Treffen der Realos, doch in der Fraktion agieren sie gänzlich individuell und ohne Zusammenhalt. Der Hesse Hubert Kleinert setzt sich in den letzten Monaten bei Abstimmungen mitunter deutlich ab, stimmt mit den Linken - ob bei der Verweigerung der Weizsäcker-Wahl oder einer aktuellen Stunde zur Nato -Strategie. Schily nimmt's kopfschüttelnd zur Kenntnis.
Bei den Linken sieht es ähnlich aus. Sie haben in den letzten Monaten mit den Wegrückern Thomas Ebermann, Regula Bott und Ellen Olms profilierte Gestalten verloren. Zudem haben sich auch bei ihnen die Konturen aufgelöst. Mehr als vier, fünf Stimmen waren beispielsweise in den Debatten über die Unterstützung der Hungerstreikdemonstration für ihre Position nicht zu verzeichnen.
„Die Fraktion ist unfähig, sich zum politischen Subjekt zu machen“, resümiert Wetzel. Aber das sei nicht allein der Fraktion anzulasten. Wetzel bezichtigt vielmehr den dreiköpfigen Fraktionsvorstand der Führungsschwäche. Ein Beispiel dafür sei die Behandlung der Affäre um Alfred Mechtersheimers Libyen-Connections. Es sei „lachhaft“, wenn der Vorstand als Problemlösung lediglich beschließe, künftig müßten die Abgeordneten vorher bekannt geben, wohin sie reisten, nicht aber eine politische Debatte um eine grundsätzliche Position zur angeblichen „Perestroika“ in Libyen zu führen. Der Vorstand sitze die Probleme nur aus, klagt Wetzel.
Warum wird in der Fraktion trotz der konstatierten Führungsschwäche von einem deutlichen Machtzuwachs des Vorstands gesprochen, drängt sich als dritte Frage auf. „Deutliche Kompetenz und Entscheidungsbefugnis“ seien dem im Januar gewählten Vorstand zugewachsen, konstatiert Angelika Beer. Anders als seine Vorgänger nimmt er sich das Recht heraus, Entscheidungen in einem neueingeführten internen Treffen vor der Fraktionssitzung vorwegzunehmen, gar Beschlüsse der Arbeitskreise der Fraktion wieder umzustoßen. „Dreistigkeiten“ nennt Frau Beer dies. Der gemeinsame Brief der Fraktion und des Parteivorstands an Gorbatschow ging beispielsweise fast gänzlich an den Abgeordneten vorbei.
Die Kritik am Vorstand konzentriert sich besonders auf Antje Vollmer, Sprecherin des „Grünen Aufbruchs“, deren Bedeutungszuwachs trotz der kürzlich vom Parteischiedsgericht gestoppten Urabstimmung nicht gelitten hat. Sie sei die „beste Machtpolitikerin, die wir haben“, attestiert ihr nicht nur Angelika Beer, „sie hat die Fäden in der Hand, ohne daß man es sieht“. Die gelernte Pastorin lasse „keine Sekunde Zweifel daran aufkommen, daß sie die Chefin ist“, wissen Mitarbeiter zu berichten.
Frau Vollmer weiß, welche Chance zur öffentlichen Selbstdarstellung die Fraktionsführung bietet. Knapp eineinhalb Jahre vor der Bundestagswahl kann es kaum eine bessere Ausgangsbasis für die persönliche Teilhabe an einem rot-grünen Regierungsprojekt geben. Sie betreibt ihre Projekte, ob die Amnestiedebatte für ehemalige RAF -Angehörige oder die Bewältigung der NS-Vergangenheit, mit dem Bonus dieses Amtes. Ihre VorstandskollegInnen - Helmut Lippelt, der unablässig zum Ausgleich neigt, und die zu den Linken zählende Jutta Oesterle-Schwerin, die als Vorwarnstation für mögliche Konflikte mit der Fraktion fungiert - treten ihr gegenüber deutlich zurück.
Die Stärke des Vorstands ist die Schwäche der Fraktion - so weist die Frage nach Ursachen wieder auf sich selbst zurück. Der Vorstand mag nicht die politische Kraft zur zielgebenden Auseinandersetzung haben, aber er führt, indem er alle an seine Existenz gewöhnt. Mit „Verschleierungserscheinungen“ begegnet dagegen Helmut Lippelt der Frage nach den Ursachen der abgetauchten Fraktion. Problematisch findet er die Situation nicht. Es habe eine „Differenzierungsphase“ stattgefunden, in deren Gefolge nur weniger „Schaukämpfe“ ausgefochten würden. Das Ergebnis sei „eine etwas lockerere Stimmung, in der der Vorstand wieder mehr Raum gewinnt“.
Ändern wird sich der desolate Zustand der Fraktion kaum. In zwei Wochen stehen die zweimonatigen Parlamentsferien an, und danach wird sich mancher schon am Ende seiner Wahlperiode orientieren. Das schwächt das Erscheinungsbild der Bonner Fraktion erfahrungsgemäß noch weiter. Abgeordnete, die nicht mehr zurückkehren, werden die Lust verlieren; jene auf Wiedernominierung erpichten werden sich wieder stärker auf ihre heimatliche Basis beziehen. Die Aktien der Grünen mögen wieder steigen; die Fraktion jedoch trägt derzeit dazu wenig bei.
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