: Im zweiten Jahr der Intifada
■ Trotz Anerkennung Israels durch die PLO ist ein Ende der Besatzung nicht in Sicht / Tote, Verletzte, Ausgangssperren, Festnahmen, Sprengungen von Häusern prägen den palästinensischen Alltag in Westbank und Gazastreifen / Bildungs- und Ausbildungsverbot / Verschärfung der Repression, Verhärtung der Situation / „Die Intifada wird weitergehen, bis wir unser Ziel erreicht haben“
Beate Seel
Ein staubiger Platz im Zentrum der Stadt Gaza, zur Straße hin überquellende Müllcontainer. Zwei Jeeps der israelischen Armee fahren vorbei. Die heißesten Stunden des Tages sind vorüber, Frauen und Männer stehen in den Haustüren, auf den Balkons, und schwatzen mit den Nachbarn. Eine Gruppe von Kindern taucht auf. Zwei, drei, höchstens vier Jahre mögen sie alt sein. Sie sammeln Steinchen vom Boden auf, werfen sie auf einige größere Jungen, die ihnen nachsetzen und phantasievoll in „Gewehre“ verwandelte Stöcke schwingen. Die Älteren fangen die Kleinen, brüllen sie an, tun so, als würden sie sie fesseln, mißhandeln, verhören. Wie überall auf der Welt spielen die Kinder das, was sie im Alltag erleben: Intifada.
„Die Israelis nehmen das Land, jagen die Leute weg und töten sie. Sie haben meinen Vater getötet, und deshalb sollen sie sterben“, sagt die sechsjährige Ibtisan. Das gelbe Kleidchen, die dazu passenden Schleifen im Haar scheinen so gar nicht zu der palästinensischen Parole zu passen, die sie mit fester Stimme vorträgt: „Mit unserer Seele, mit unserem Blut opfern wir uns für euch, ihr Märtyrer!“ Hat Ibtisan schon einmal einen Juden gesehen? Das Mädchen denkt angestrengt nach. Schließlich fällt der Groschen: „Ja, die israelischen Soldaten.“
Opferbilanz einer Familie
Ibtisans Vater ist einer der „Märtyrer“ der Intifada, des Aufstandes in der Westbank und dem Gaza-Streifen, der seit Dezember 1987 über 500 Todesopfer auf palästinensischer Seite gefordert hat. Der 31jährige Arbeiter wurde am 27.April dieses Jahres bei einer Demonstration erschossen von vorne, wie die Familie betont. Er hinterließ vier kleine Kinder - Ibtisan ist die Älteste - und eine schwangere Frau. „Eigentlich müßte ich fünf Kinder haben“, sagt die junge Witwe, „aber mein letztes Kind, ein Mädchen namens Manar, ist zwei Tage nach der Geburt an den Folgen eines Tränengaseinsatzes gestorben.“ Ein totes Kind, ein erschossener Mann, ein Neffe, der durch ein Gummigeschoß verletzt wurde, zwei weitere, die im Gefängnis sitzen, ein Bruder, der letztes Jahr des Landes verwiesen wurde, weitere Verwandte, die auf Haftstrafen zurückblicken... Die Opferseite der Intifada in einer palästinensischen Familie in Gaza.
Ich sitze im betonierten Innenhof des Hauses, oder besser dem, was der Großfamilie an Wohnraum geblieben ist. Bei einer früheren Festnahme des mittlerweile ausgewiesenen Bruders der Witwe im Jahr 1968 wurde ihr Haus von der Armee in die Luft gesprengt und durfte nicht wieder aufgebaut werden. Drei verwitterte Holztüren führen vom Hof in fensterlose Räume, nur in einer anderen Ecke wurde ein neues, geräumiges Zimmer errichtet. Ibtisans Familie hat sich schon immer mit der eines Onkels Haus und Hof geteilt. Doch nun steht sie ohne Ernährer da. „Anders als in Europa, unterstützen wir uns gegenseitig, selbst wenn wir Sand essen müssen“, sagt der Onkel. Er weicht jeder politischen Diskussion aus. Mit Unterbrechungen verbrachte er insgesamt elf Jahre hinter Gittern. Die Familie macht keinen Hehl daraus, daß sie politisch aktiv ist.
Die Familie von Umm Ahmad dagegen ist unpolitisch, so, wie Palästinenser unter der israelischen Besatzung unpolitisch sein können. In klagendem Tonfall berichtet die etwa 60jährige Matrone im traditionellen schwarzen, bunt bestickten langen Kleid und dem weißen, locker um den Kopf geschlungenen Tuch, was ihr widerfahren ist. 17 Jahre lang war ihr Mann, Abu Ahmad, Besitzer eines kleinen Lebensmittelgeschäfts gewesen, ihr ältester unverheirateter Sohn Ali unterhielt im gleichen Gebäude eine Reparaturwerkstatt. Heute liegt alles in Schutt und Asche. Das eingeknickte Flachdach hängt schief über den Trümmern des ehemals einzigen Stockwerks, angerostete und verbogene Betonträger ragen wirr heraus. Das Gebäude wurde am 17.Mai von der Besatzungsmacht gesprengt. Der Grund: Bei einer Demonstration während einer Ausgangssperre hatten palästinensische Jugendliche vom Dach aus Soldaten mit Steinen beworfen.
„Als die Demonstration stattfand, waren die Geschäfte geschlossen“, empört sich Umm Ahmad. „Niemand hat in dem Haus gewohnt, der Besitzer lebt in Saudi-Arabien. Die, die da Steine geworfen haben, hatten mit unserer Familie nichts zu tun.“ Sie möchte mir ihren Besitz zeigen, das, was die Familie retten konnte, als die Soldaten ihr an jenem Tag eine halbe Stunde Zeit ließen, ihr Hab und Gut vor der Sprengung aus den Läden zu räumen. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, jedenfalls nicht diese armselige Kiste voller Werkzeuge in einem niedrigen Kellerverschlag neben der Küche, nicht die kleine, vor sich hingammelnde Kühltheke im Hof des Nachbarn, weil in der eigenen Wohnung kein Platz ist. Die Last der Ernährung der Familie liegt jetzt auf den schmalen Schultern des 17jährigen Ali. Er jobbt als Träger, hilft beim Be- und Entladen von Lastwagen. Aber nicht jeden Tag gibt es Arbeit. Der Vater ist alt und krank, seit sein Laden dem Erdboden gleichgemacht wurde, geht es ihm schlechter. Die Kosten für ärztliche Behandlung und Medikamente steigen. Aus den Worten von Umm Ahmad spricht eine Mischung aus Resignation und Empörung über die ungerechte Behandlung. Sie will, daß die Intifada bis zum Ende der Besatzung weitergeht, „damit so was nicht mehr passiert“.
Eigentlich ist es kein Wunder, daß die Steine zum Symbol der Intifada geworden sind, so sehr sind sie Teil der palästinensischen Landschaft der Westbank: Die Felsbrocken auf der roten Erde frisch bearbeiteter Felder, die Mäuerchen, die ihre Muster in die terrassierten Hänge ziehen, die hellen Quader, mit denen die Häuser in den palästinensischen Dörfern gebaut werden, die sich harmonisch in ihre Umgebung einfügen, ganz im Gegensatz zu den weißen Gebäuden der jüdischen Siedlungen auf den Bergkuppen, deren rote Ziegeldächer von weitem in der Sonne glänzen.
Gemüseanbau für die Selbstversorgung
In der kleinen Ortschaft kurz hinter Bethlehem ist jeder Quadratmeter Boden bepfanzt. Trauben, Tomaten, Gurken, Küchenkräuter wachsen im Schatten der Olivenhaine und in den Gärten, Setzlinge werden mit Steinbrocken vor zu starker Sonnenbestrahlung geschützt. Die Bevölkerung folgt damit Aufrufen der „Vereinigten Nationalen Führung des Aufstandes / PLO“ aus den ersten Monaten der Intifada, Obst und Gemüse anzubauen, um die palästinensische Selbstversorgung zu entwickeln und ein Stück weit vom israelischen Markt unabhängig zu werden.
Beim Essen im Hause der Familie des Arztes Abu Jamal zeigt sich, daß auch der Aufruf zum Boykott israelischer Waren weitgehend befolgt wird. Mit Ausnahme der Milch stammen sämtliche Produkte aus Palästina oder dem Ausland: Oliven, Tomaten und eingelegte Gurken aus eigenem Anbau, Joghurt und Saft aus einer Fabrik in der Westbank, der selbstgemachte Ziegenkäse von Verwandten, und die Cola aus den USA. Selbst die Zigaretten, die überall herumliegen, sind ein palästinensisches Produkt. Die Marke „Good Luck“, der Name ist sicher nicht zufällig gewählt, gibt es seit Sommer letzten Jahres. Die palästinensische Tabakindustrie hat offensichtlich einen Aufschwung erlebt.
Jungen und Mädchen im Aufstand
Nach dem Essen setzt sich die 15jährige Nabila an ihre Hausaufgaben - und das, obwohl die Schulen in der Westbank seit Beginn des Aufstandes mit nur kurzen Unterbrechungen von den Besatzungsbehörden geschlossen wurden. Während in zahlreichen Dörfern für Kinder im Grundschulalter oft, ungeachtet eines strikten Verbots der Besatzungsbehörden, in Privathäusern alternativer Unterricht organisiert wird, besucht Nabila einmal in der Woche vormittags für drei Stunden ihre Schule - durch die Hintertür. Unterrichtet werden die traditionellen Hauptfächer Arabisch, Englisch, Mathematik, Naturwissenschaften, für den Rest der Woche bekommen die SchülerInnen Hausaufgaben mit auf den Weg. „Ganze Tage sitze ich dran“, stöhnt Nabila. Aber sie ist froh, daß sie wenigstens einmal in der Woche zum alternativen Unterricht in die Schule gehen kann, denn sie hat das Gefühl, viel versäumt zu haben.
Ein besonders harter Schlag war die Schließung der Schulen für die Jugendlichen der Abschlußklassen und die Eltern kleiner Kinder. Sollten die Schulen im Herbst nicht wieder eröffnet werden, würde bereits der dritte Jahrgang von Erstkläßlern nicht ordnungsgemäß eingeschult. Ihnen wird nicht nur verweigert, Lesen, Schreiben und Rechnen zu lernen, sondern auch, sich an regelmäßigen Unterricht zu gewöhnen, neue Freundschaften zu schließen und ein eigenes Leben außerhalb der Familie zu führen. Angesichts der kinderreichen palästinensischen Familien trifft das Bildungs - und Ausbildungsverbot jede Familie ganz unmittelbar.
Ihren letzten regulären Schultag hat Nabila im Januar erlebt, als ihre Schule drei Wochen lang geöffnet war. Doch nicht jeder ist so wild aufs Lernen wie sie. Nabila lacht, als sie sich daran erinnert, wie Jungen aus ihrem Dorf damals eine palästinensische Fahne auf dem Dach des Gebäudes hißten, um die Soldaten zum Einschreiten zu provozieren. „Die Jungen wollen demonstrieren, die Mädchen etwas lernen“, faßt Rauda, eine junge Verwandte und Lehrerin aus Ostjerusalem, ihren Eindruck zusammen. „Für die Mädchen ist die Schule oft die einzige Möglichkeit, aus dem Haus zu kommen und andere Leute zu treffen. Für Jungen ist das nicht so wichtig.“ Natürlich gibt es auch Mädchen und junge Frauen, die sich an Demonstrationen beteiligen. Nabila zum Beispiel. Neulich geriet sie mitsamt ihren Geschwistern in eine Demonstration. Dabei wurde der jüngste Bruder, ein vierjähriger Knirps, von einem Gummigeschoß ins Gesicht getroffen. Nachdem sie und ein älterer Bruder den Kleinen in einer Klinik abgeliefert hatten, gingen die beiden sofort wieder auf die Straße, um die israelischen Soldaten mit Steinen zu bewerfen. „Über eine halbe Stunde lang haben wir sie aufgehalten“, erzählt Nabila stolz.
Nabila, die sich mit ihrem türkisfarbenenfarbenen T-Shirt und den engen Jeans durchaus auf der Strandpromenade von Tel Aviv sehen lassen könnte, hat Glück: Ihre Eltern stehen politisch eher links, sie kann, wenn sie möchte, ihre Freundinnen besuchen, und seit neuestem hat sie auch einen Freund, mit ausdrücklicher Billigung von Vater und Mutter. „Wenn der Vater aufgeschlossen ist, haben die Mädchen jetzt größere Freiheiten als vor der Intifada. Wenn der Vater aber eher traditionell eingestellt ist, kann das ins genaue Gegenteil umschlagen. Die Eltern halten ihre Töchter im Haus, weil sie eine übersteigerte Angst vor Festnahmen und Vergewaltigungen haben“, kommentiert Rauda. „In solchen Fällen gibt es eine neue Tendenz, die Töchter wieder im Alter von 14, 15, 16 Jahren zu verloben. Dann ist es natürlich die Familie, die den Ehemann aussucht.“
Während unseres Gesprächs hat Rauda immer wieder auf die Uhr geblickt, sie möchte keinesfalls zu spät nach Jerusalem aufbrechen. Bei Einbruch der Dämmerung sollte mir klarwerden, warum. Eine etwas gespenstische Atmosphäre senkt sich über die 5.000-Seelen-Gemeinde. Die Laternen bleiben dunkel, aus den Häusern flimmert zur Seite der Straße hin nur das bläuliche Licht des Fernsehers hinter den Fensterscheiben. Wenn mal ein Auto vorbeifährt, dann ohne Licht. Im Dorf herrscht das, was man gemeinhin eine „gespannte Atmosphäre“ nennt.
Selbstjustiz gegen
Kollaborateure
Vor einer Woche, so berichtet Nabilas Vater Abu Jamal, zog die Intifada in diesen bislang ruhigen Flecken ein - unter dem offenkundigen Beifall der sechsköpfigen Familie. Abends gegen 22 Uhr ging plötzlich die Straßenbeleuchtung aus, und ein Trupp von vermummten jungen Männern zog zu den Häusern von zwei „Kollaborateuren“, Palästinensern also, die mit der Besatzungsmacht zusammenarbeiten, und schlugen sie krankenhausreif. In diesem Falle galten die beiden Opfer nicht als Spitzel oder als Spekulanten, die palästinensischen Grund und Boden auf- und an jüdische Siedlungen weiterverkaufen, sondern als Drogenhändler. Die Aktion war anscheinend gut geplant. Als das israelische Militär anrückte, waren die Maskierten bereits wieder von der Bildfläche verschwunden.
Seit Beginn des Aufstandes wurden wiederholt vermutete Kollaborateuere erschossen, erstochen oder mit einem Beil zerhackt, vor allem jedoch, seit die Führung des Aufstands im April dazu aufrief, die Kollaborateure zu bestrafen, ein Anzeichen für die allgemeine Verhärtung der Situation. Die Zahl der Getöteten beläuft sich mittlerweile auf über vierzig. In den ersten Monaten der Intifada hatte die Führung sie wiederholt aufgefordert, ihrer Tätigkeit öffentlich, etwa in einer Moschee oder Kirche, abzuschwören. Später wurden sie „verwarnt“: ihr Auto ging in Flammen auf oder sie wurden, wie im vorliegenden Falle, zusammengeschlagen.
Die beiden Drogenhändler, so Abu Jamal weiter, seien nicht die einzigen im Dorf, und bei einem habe ein Bekannter ein M -16-Gewehr der israelischen Armee herumstehen sehen. Außerdem gebe es noch den Muchtar, den Ortsvorsteher, der ebenfalls als Kollaborateur gilt und der meinen Gastgeber für das Vorgehen der maskierten Jugendlichen verantwortlich macht. Im Dorf heißt es nun, die Kollaborateure seien von der israelischen Armee mit zusätzlichen Waffen ausgerüstet worden.
Wie um solchen Gerüchten zusätzliche Nahrung zu verleihen, tauchten an diesem Morgen Flugblätter auf, die nach Meinung von Abu Jamal aus der Feder des israelischen Geheimdienstes stammen. Auf glattem, hellgrünen Papier mit gestochen scharfem Druck wird darin die Bevölkerung im Namen von „Jugendlichen“ aufgefordert, jedwede Angriffe auf Polizisten und Soldaten zu unterlassen und statt dessen gegen die übrigen Kollaborateure vorzugehen. Ein Besucher nach dem anderen tröpfelt in den kleinen „Salon“ des Hauses, um die Angelegenheit zu diskutieren. Die Kinder werden aus dem Zimmer geschickt. „Mit diesen Flugblättern sollen die Jugendlichen ermutigt werden, ihre Aktion zu wiederholen, damit das Militär sie dann festnehmen kann“, kommentiert Abu Jamal. „Gleichzeitig könnte der Aufruf die Kollaborateure animieren, gegen palästinensische Aktivisten vorzugehen.“
Abu Jamal fühlt sich bedroht. „Sie haben schon einmal einen Brandsatz gegen mein Haus geschleudert“, sagt er. „Das nächste Mal ist vielleicht mein Auto dran. Was soll ich machen? Soll ich in einem anderen Zimmer schlafen? Aber welche Auswirkungen hätte das auf meine Kinder? Ich kann nur weitermachen wie bisher. Ich habe mich darauf eingestellt, daß ich nicht mehr erleben werde, wie meine Kinder heranwachsen.“
Soziale Rolle der Aktivisten
Munir, ein Apotheker aus Gaza, ist des Lobes voll über die Trupps vermummter junger Palästinenser. Gerade noch hatte ich am hellichten Tag im Stadtzentrum eine Gruppe von ihnen gesehen, wie sie die Straße überquerten als gerade keine Patrouille der Armee in Sicht war, einige Männer ansprachen und mit ihnen in einem Hauseingang verschwanden. „Ich bin zu alt, um auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren“, sagt der Geschäftsmann. „Aber unseren jungen Leuten kann ich nur anerkennend auf den Rücken klopfen. Sie werfen nicht nur Steine, sie spielen auch eine wichtige soziale Rolle. Was hat die Polizei schon früher gegen die Kriminalität unternommen? Da gab es Personen, die bekannt dafür waren, daß sie gelegentlich Einbrüche verübten und Frauen belästigten. Oder das Drogenproblem: Vor dem Aufstand kam es jede Woche zwei bis drei Mal vor, daß mich jemand in meinem Laden bedrohte, weil er ein bestimmtes Medikament ohne Rezept haben wollte. Jetzt gibt es das nicht mehr, die Leute haben Angst, sich offen zu zeigen. Vor allem die Drogenhändler, von denen einige bestraft worden sind. Die werden von der Bevölkerung als gefährliche Personen angesehen, die Behörden ließen sie gewähren und haben ihnen sogar Waffen zu ihrem Schutz gegeben. Dafür mußten sie dann Informationen liefern. Auch Abhängige kann man leicht unter Druck setzen.“ Die Forderung der Führung des Aufstandes nach dem Rücktritt der palästinensischen Polizisten im Dienste der Besatzungsmacht sei daher populär gewesen, so Munir, da sie ohnehin zu nichts nütze gewesen seien.
Die Trupps der Maskierten betreiben nicht nur Selbstjustiz gegenüber Kollaborateuren oder „Personen mit schlechtem Lebenswandel“ (Munir). Während der von der Aufstandsführung festgelegten Ladenöffnungszeiten überwachen sie die Preise, werfen das Auge auf bestimmte zentrale Plätze, wie zum Beispiel den Markt oder den Abfahrtsort der Sammeltaxis und versuchen, Konflikte zu regeln. Offenbar haben sie einen Teil der Funktionen übernommen, die in den ersten Monaten des Aufstands in den Händen der Komitees, der Organe der Selbstorganisation der Bevölkerung, lagen und die im Sommer letzten Jahres verboten wurden und nun unter erschwerten Bedingungen arbeiten mußten.
Neben der internen Abrechnung mit Kollaborateuren gibt es auf palästinensischer Seite eine weitere Reaktion auf die Verschärfung der Repressionen und den zunehmenden Druck, dem die Bevölkerung besetzten Gebiete ausgesetzt ist. bereits zum zweiten Mal hat die Führung des Aufstandes jetzt in einem ihrer regelmäßig erscheinenden Communiques dazu aufgerufen, für jeden getöteten Palästinenser einen israelischen Soldaten oder Siedler umzubringen. Werden die Steine also auch in Zukunft das Symbol der Intifada bleiben? Die meisten palästinensischen Gesprächspartner sind dafür. „Wir befinden uns am Scheideweg“, analysierte der bekannte palästinensische Kommentator Madi Abdel Hadi die Lage. „Entweder die Intifada setzt sich auf demselben Niveau fort wie bisher, mit der Möglichkeit einer politischen Lösung, oder aber das ganze eskaliert.“ Nur ist ein halbes Jahr nach den gemäßigten Resolutionen des Exilparlaments der PLO in Algier, der Anerkennung Israels und der Ausrufung des Staates Palästina ein Ende der Besatzung nicht in Sicht.
Der Schamir-Plan, eine Totgeburt
„Alle Menschen sind Brüder geworden“, entgegnet ein junger Straßenkämpfer aus Gaza auf meine Frage nach dem wichtigsten Erfolg der Intifada. Auch für den Apotheker Munir zählt die große Einheit der Bevölkerung im Kampf gegen die Besatzung zu den wichtigsten Errungenschaften, eine Einheit, in der die islamisch-fundamentalistische Hamas-Bewegung ausdrücklich mit einschließt, obwohl er selbst hinter den Beschlüssen der PLO steht. Als zweiten großen Fortschritt wertet er deren diplomatische Erfolge. Die Resolutionen der PLO in Algier werden in zahllosen Gesprächen immer wieder als „realistisch“, „der Situation angemessen“ oder „den Erwartungen der Intifada entsprechend“ bezeichnet. Ungeachtet der jüngsten Vorschläge des israelischen Ministerpräsidenten Schamir ist man hier der Auffassung, daß der Ball nun im gegnerischen Lager liegt. Nicht nur auf der diplomatischen Ebene, sondern vor allem auch vor Ort, ist jedwede positive israelische Reaktion auf die gemässigte Haltung der PLO ausgeblieben. Ganz im Gegenteil: In den letzten Wochen und Monaten ist die Repressionsschraube deutlich angezogen worden, und angesichts der vielen Opfer mit Verletzungen im Brustbereich, die die Krankenhäuser im Gaza füllen, scheut sich ein Arzt nicht, von einem Trend hin zu einer „shoot-to-kill„-Politik zu sprechen.
„Der Schamir-Plan ist eine Totgeburt“, meint Munir und wählt damit eine Formulierung, die allenthalben in Gesprächen mit Palästinensern fällt. „Die ganze Welt weiß, daß wir bereits eine Vertretung haben, die PLO. Schamir will mit seinem Vorschlag, Wahlen unter der Besatzung abzuhalten, die PLO umgehen und die palästinensische Einheit spalten, in diejenigen, die in den Gebieten leben und der Führung draußen. Wahlen, das klingt gut im Westen, in den USA, aber im Grunde will Israel nur Zeit gewinnen. Der Plan ist eine Falle, denn wer weiß, ob es nach der vorgesehenen Periode von fünf Jahren, wenn die Palästinenser sich gut benehmen“,
-hier schwingt ein ironischer Unterton mit - „überhaupt zu späteren Verhandlungen über eine endgültige Lösung kommt, wie Schamir jetzt sagt?“
Und da ist schließlich die offene Frage, worüber eigentlich verhandelt werden soll. Über Radio Monte Carlo und das arabische Programm des israelischen Fernsehens verfolgen die Palästinenser Äußerungen israelischer Spitzenpolitiker sehr genau: Schamir, der kürzlich sagte, Israel werde sich „keinen Zentimeter aus den besetzten Gebieten zurückziehen, Außenminister Arens, der bekräftigte, Gespräche mit der PLO werde es nicht geben, und eine Teilung Jerusalems käme nicht in Frage... Solche Erklärungen und das Auftreten der Soldaten vor Ort hinterlassen bei den Palästinensern den Eindruck, daß es Israel ist, das keinen Frieden will. Die Hoffnungen richten sich auf Druck aus dem Ausland, auf Westeuropa, die USA, eine gemeinsame Initiative der Supermächte, auf eine internationale Friedenskonferenz. Haidar Abu Schafi, der Leiter des palästinensischen Roten Halbmonds in Gaza, sprach in diesem Zusammenhang von einer „Periode des Abwartens“. Eine Formulierung, die nicht gerade auf Zustimmung stößt. Doch wie kann man damit auch die eigene Haltung beschreiben, wenn es täglich neue Tote, neue Verwundete, neue, im Gaza-Streifen oft einwöchige, Ausgangssperren, neue Überfälle von Siedlern auf palästinensische Dörfer in der Westbank gibt?
Bewaffnete Angriffe?
So ist es eigentlich nicht sehr überraschend, wenn der Aufruf der Führung des Aufstands, Soldaten und Siedler zu töten, auch Zustimmung findet, vor allem unter denjenigen, die aus ihrer Unterstützung für die radikale „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ von George Habasch keinen Hehl machen. „Ihr im Ausland geht immer gleich an die Decke, wenn die Palästinenser, mal Gewalt anwenden“, sagt ein junger Arbeiter in Ostjerusalem, der aus einem Dorf in der Westbank stammt. „Wieviele von uns sollen denn noch sterben, bis ihr endlich einmal aufwacht?“ - „Ich fände es besser, wenn wir weitermachen wie bisher“, meint ein Krankenpfleger aus Nablus. „Aber wie lange können wir das noch durchhalten? Fast jeden Nachmittag kommen die Soldaten, durchkämmen die Altstadt und nehmen junge Leute fest. Wie lange können wir noch stillhalten?“
Diese Communiques der Führung haben zweifellos Kontroversen ausgelöst. Die einen bezweifeln ihre Authentizität, verweisen auf die Distanzierung der PLO in Tunis, andere befürchten, die in der Führung des Aufstands zusammenarbeitenden palästinensischen Parteien können über die Wahl der Mittel uneins sein, wieder andere stehen dahinter oder äußern Verständnis. Vielleicht gibt Munir so etwas wie eine Mehrheitsposition wieder, wenn er sagt, daß die Palästinenser zwar grundsätzlich ein Recht hätten, auch bewaffnete Aktionen durchzuführen, aber hinzufügt: „Die Palästinenser haben es bisher der Welt leicht gemacht, ihr Problem zu verstehen. Das Töten von Soldaten und Siedlern könnte falsch ausgelegt werden, außerdem spielt es nur Israel in die Hände. Vor dem Hintergrund der jetzigen Situation, auch in internationaler Hinsicht, kann man diesen Weg nicht akzeptieren. Und selbst wenn es eines Tages zu verstärkten Angriffen auf Soldaten und Siedler kommen sollte, glaube ich nicht, daß man von einer Rückkehr zum bewaffneten Kampf sprechen kann. Ganz abgesehen davon, daß es gar nicht möglich ist, für jeden von uns einen der Ihren zu töten, wäre das eher eine Reaktion auf die Brutalität der Besatzung und keine neue Strategie.“
Hamas, die fundamentalistische Opposition
Diese Kontroverse ist gewissermaßen eine PLO-interne , denn sie wird unter den Palästinensern geführt, die hinter den vier wichtigsten, in der Führung des Aufstands zusammengeschlossenen Parteien stehen: Al Fatah von Yassir Arafat, die Demokratische Front, die Volksfront und die Kommunistische Partei. Aber es gibt auch noch eine andere Stimme, vor allem im Gaza-Streifen: die von Hamas, sozusagen eine islamisch-fundamentalistische Opposition zur PLO und der nationalen Führung der Intifada. An den Hauswänden und Mauern von Gaza wird ein regelrechter Parolenwettstreit ausgetragen. Während die Führung die Bevölkerung aufruft, israelische Produkte zu boykottieren, für die es arabischen Ersatz gibt, oder an die Geschäftsleute appelliert, ihre Waren möglichst billig abzugeben, wirbt Hamas mit „Ja zum Kampf - nein zu Verhandlungen!“
Hamas ist eine Abkürzung und steht für „Bewegung des islamischen Widerstandes“, bedeutet aber zugleich auch (Glaubens-)Eifer. Obgleich die fundamentalistische Strömung in Gaza erst in den ersten Monaten des Aufstandes unter diesem Kürzel öffentlich auftrat, ist die Bewegung nicht so neu, wie es vielleicht scheinen mag. Wie auch in anderen arabisch-islamischen Ländern erlebte der Fundamentalismus in den besetzten Gebieten der siebziger Jahre einen Aufschwung. Mit Ausnahme einer Gruppe namens Jihad, die den bewaffneten Kampf gegen Israel bereits in den letzten zwei Jahren vor dem Aufstand auf ihre Fahnen schrieb, agierten die Fundamentalisten vornehmlich im erzieherischen und wohltätigen Bereich. An den Universitäten, wo sie bei Studentenratswahlen zum Teil Bündnisse mit Al Fatah eingingen, taten sie sich unter wohlwollender Duldung der Besatzungsbehörden vor allem mit Aktionen gegen linke Palästinenser hervor. Einige ihrer Aktivisten erhielten sogar Waffen zu ihrem Schutz. Eine Situation, die die hebräische Zeitung 'Ydiot Acharonot‘ kürzlich zu der Bemerkung veranlaßte, Israel habe eine Schlange an seinem Busen genährt. Die Behörden haben sich dieser Auffassung offensichtlich angeschlossen, denn Hamas wurde in dieser Woche, wie auch Jihad, verboten.
Neu ist vielmehr, daß die in Hamas zusammengeschlossenen Gruppen sich nun in den Kampf gegen die Besatzung eingereiht haben. Das erste Communique, das Hamas nach Beginn des Aufstands veröffentlichte, trug gleich die Nummer vier, um nicht hinter denen der Nationalen Führung zurückzufallen. Eine Grundsatzerklärung vom August 1988 trug den Titel „Charta“ - in Anlehnung an die Charta der PLO. Der Anspruch, eine fundamentalistische Alternative zur Palästinensischen Befreiungsbewegung und der Führung des Aufstands zu bilden, ist damit deutlich manifestiert.
„Wir streben einen islamischen Staat in ganz Palästina an. Wir wollen nicht die Juden strafen oder töten, aber sie müssen unter dem Schirm des Islam leben. Wenn es zu einem Ende der Besatzung in den Gebieten kommen sollte, dann müssen die Palästinenser entscheiden, wer ihr Führer sein soll. Aber bestimmte Dinge akzeptieren wir nicht, wie zum Beispiel die Anerkennung Israels oder bestimmte UNO -Resolutionen“, erläutert Mohammed, ein Aktivist von Hamas, die Ziele seiner Bewegung. Für ihn ist der Koran die einzige Grundlage des Handelns. „Wenn ich zwei Bücher habe, und in einem ist schon alles enthalten, was es zu sagen gibt, warum soll ich dann noch das andere lesen? Alle guten Elemente anderer Ideologien wurden bereits vom Koran aufgenommen. Der Koran weiß mehr über die Menschen als sie selbst“, entgegnet er auf meine Frage nach dem Verhältnis von Hamas zur PLO. „Als Kämpfer wollen wir das gleiche, unabhängig von der Ideologie, weil wir das gleiche Problem haben, die Besatzung. Später können wir dann sehen, welche Art von Staat wir wollen.“
„Es gibt keinen Weg zurück“
Es war Munir, der Apotheker, gewesen, der mir Mohammed vorgestellt hatte. Denn ungeachtet seiner politischen Sympathien für die palästinensische Linke ist Munir ein tief religiöser Mann. Er zählt viele Mitstreiter von Hamas, die nach der Verhaftungswelle Mitte Mai im Gefängnis sitzen, zu seinen engen Freunden. „Die Leute wollen jetzt keinen Streit, schon gar nicht in den Familien“, sagt er. „Deshalb werden jetzt auch alle Streikaufrufe befolgt, egal, ob sie von Hamas oder von der PLO kommen.“ Nein, einen nennenswerten Aufschwung von Hamas im Zuge des Aufstandes sieht er nicht. Mohammed hatte auf die gleiche Frage lapidar entgegnet: „Wir waren schon immer stark.“ - „Vielleicht reagiert die Öffentlichkeit jetzt anders“, kommentiert Munir, „die Fundamentalisten werden im Ausland, vor allem in den USA, als gefährlich eingeschätzt. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß die Festnahmen der Hamas-Mitglieder genau zu dem Zeitpunkt erfolgten, als Arens Washington besuchte.“ Munir schätzt die Stärke von Hamas in Gaza auf zwanzig bis dreißig Prozent. Er meint, daß ihr Einfluß nach der Ablehnung der Resolutionen des palästinensischen Exilparlaments und die Anerkennung Israels sogar etwas zurückgegangen ist.
„Es gibt für uns keinen Weg zurück. Wenn wir jetzt aufgeben, werden wir alles verlieren. Die Intifada wird weitergehen, bis wir unser Ziel erreicht haben.“ Darin sind sich Munir und Mohammed einig. In Variationen höre ich die gleichen Sätze von der Lehrerin in Rauda, der Schülerin Nabila, ihrer Großmutter, die schon vier Besatzungen erlebt hat - die türkische, die britische, die jordanische und jetzt die israelische - und die ihr genaues Alter nicht kennt, von den Jugendlichen im Flüchtlingslager Jabalia, gelegentlich mit dem Zusatz: „Entweder wir erreichen unser Ziel oder wir sind alle tot.“ Wie oft hatte ich dieses Credo des Aufstands schon bei einem früheren Besuch in Palästina vor einem Jahr gehört...
„Die Intifada wird weitergehen, bis wir unseren eigenen Staat haben“, sagt auch der achtjährige Jamal, Sohn des Arztes aus dem Dorf bei Bethlehem in der Westbank, und fügt hinzu: „Du solltest auch über die Situation der Kinder schreiben. Gibt es ein anderes Land auf der Welt, wo Kinder getötet und verletzt werden und nicht in die Schule gehen dürfen? In anderen Ländern können Kinder auch Hobbies haben, sie können Musik machen, tanzen oder in einen Sportclub gehen. Ich möchte gerne Musiker werden, aber ich glaube, das geht nicht, weil man früh anfangen und viel üben muß. Es ist schwierig, sich hier zu bewegen, zum Beispiel zu einem Lehrer zu fahren, wegen der ganzen Straßenkontrollen und Ausgangssperren.“ Kann Jamal sich vorstellen, in einem anderen Land zu leben, wo Kinder ein normales Leben führen können? „Nein. Ich möchte alles machen, was Kinder in anderen Ländern auch machen können, aber ich will es hier machen“, sagt der Junge. Er wendet sich wieder seinen Buntstiften zu und malt ein Bild: Eine riesige palästinensische Fahne, vermummte Jugendliche, einen brennenden Autoreifen und Berge von Steinen.
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