: Vermeidbare Qualen
■ Über „Theaterzwang '89 - Das 3.Treffen freier Theater in NRW“
Christof Boy
Ein Kopf muß her, und zwar einer nach Maß. Der Henker, mit Melone, aber ohne Charme, tritt aus dem Schatten der Guillotine, schreitet an glotzenden Gesichtern vorbei und pickt sich einen heraus. Den Durchschnittstypen mit Nickelbrille und Jeanshemd; einen, den es immer erwischt, auch wenn er sich noch so anstrengt, gar nicht anwesend zu sein. Ein Griff in den Nacken, die Haare zur Seite gescheitelt, und das Maßband wird angelegt. „Die Maschine ist erfunden worden, um Unmenschliches menschlich zu machen“, so doziert die Kollegin des Henkers über den aufklärerischen Impuls der Guillotine. „Vor der Erfindung der Maschine dauerte eine Hinrichtung lange und war barbarisch - kurz: unmenschlich.“ Was zu beweisen wäre, aber der Halsumfang des Delinquenten ist zu groß. Deshalb muß das Quartett der Henker nun die Sau raus lassen. Und da hört der Spaß wirklich auf.
Wo einem Schwein das Schafott droht, stößt Straßentheater auf Grenzen, die der Bundesverband der Tierversuchsgegner setzt. Gerade nach der Schlachtung und Verarbeitung zum Spanferkel entronnen, hatte in Dortmund ein bis dahin völlig unbekanntes Schwein den Kosenamen Jolante und stand als Skandalnudel auf den Brettern, die eigentlich Bühne für „Theaterzwang '89 - Das 3.Treffen freier Theater NRW“ sein sollte. Ein Schwein mit Zukunft. Hoffnungsträger für die Tierschützer, die endlich einmal das unwürdige Treiben auch der gedankenlosen Theaterleute anprangern konnten, aber auch für die französischen Schauspieler, die mit Jolante kein anonymes Massenschwein, sondern eine allseits bekannte Hauptdarstellerin zur Guillotine führten. Zumindest bis knapp unter das Fallbeil, denn dann besetzten Tierversuchsgegner die Transportkiste und vereitelten die ruchlose Tat des Theatre de l'Unite.
Köpfe mußten her, und zwar en masse. Nur einer hat es verstanden, seinen zu retten im Thermidor des Jahres 1794 unter der Herrschaft Robespierres. Joseph Fouche stand nie auf der Rückseite der delikaten Speisekarte jenes Pariser Restaurantbesitzers, der hinter der Schweinskopfsülze gleich die Namen der Hinzurichtenden aufführte. Denn Joseph Fouche, Präsident der Jakobiner und später Polizeiminister, hatte das System des Schreckens längst durchschaut. Seine Antwort: Er brachte Listen mit Verdächtigen in Umlauf, um gezielt Verwirrung zu stiften, und setzte sich selbst obenan.
Fouche, der reptilienhafte Opportunist unter den Revolutionären, hat schon Stefan Zweig zu Betrachtungen über die Natur dieses Chamäleons beflügelt und jetzt das Theater Kohlenpott. Willi Thomczyk, Kopf der Theatergruppe aus Herne, gilt im Ruhrgebiet als Wegbereiter einer selbstbewußten Theateravantgarde. Bei allem Respekt vor seinen Experimenten bleibt er umstritten in dem, das er zeigt und in dem, was er bisweilen - zuletzt im Schimmi -Tatort und in der Ruhr-Oper „Übern Jordan“ - recht kumpelhaft an Klischees über das Revier beisteuert.
Die Inszenierung von „Fouche“ hat das Theater Kohlenpott endgültig herausgeführt aus dem Exotendasein in die Nähe zu den durchschnittlichen Stadttheatern im Revier. Die Charakterlosigkeit des windigen Diplomaten, dessen Schachzüge in den dunkelsten Winkeln der Revolutionsgeschichte verborgen und verstaubt sind, kann auch ein Thomczyk nicht packen. Sans Couleur - grau wie sein Anzug, oberflächlich wie all die leeren Worte, die Fouche, dieser frühe Protagonist heutiger Politiker, ausschüttet, bleibt auch das Stück, das so unberührt läßt, weil es die Zerfallsphase der Revolution und deren Anführer ebenso unbeteiligt wie beharrlich beschreibt. Rückratloses Theater über eine rückratlose Figur. Von alldem, was Sie über die graue Maus der französischen Revolution wissen wollten und nie zu fragen wagten, erfahren Sie im Theater Kohlenpott nichts.
Von dem Versuch der freien Theatergruppen, uns die Welt neu zu zeigen, bleibt oft nur noch eine schale Anbiederung an Etabliertes. Dahin der Reiz, der einmal darin bestand, daß man mit wenigen Mitteln die Grenzen des konventionellen Theaters überschritt. Viele verharren in Wartestellung. Auf ein Engagement in einer städtischen Bühne. Wie viele zu dem wurden, was sie jetzt sind, davon gab „Theaterzwang“ eine manchmal traurige Vorstellung. Experiment, Provokation und eine Art von Spontaneität, die nicht hinter jedem Schritt den ungeheuren intellektuellen Spagat verriet, bewiesen vor allem die französischen Gäste. Dazu muß niemand ein Schwein vor die Guillotine zerren, es reicht auch der Wille zur Leidenschaft.
Manchmal kommt ein Motto durch die Hintertür. Das Tanz Theater Hamburg, eingesprungen als Ersatz für den Ausfall der befreundeten Gruppe Mind The Gap, beschrieb in vier Bildern, was „Theaterzwang“ in diesem Jahr gesucht und bisweilen auch gefunden hat: „Augenblicke zwischen den Wirklichkeiten.“ So heißt der übergreifende Titel für vier neue Tanztheaterstücke, denen allen gemeinsam ist, daß sie der entfremdeten Wirklichkeit der technisierten Welt ein Quentchen Phantasie abgewinnen. Das einzige Requisit von Ines Abarbanell ist eine Leiter aus Aluminium. Der Raum zwischen den Sprossen ist nicht einfach nur nichts, er kann alles sein: Fenster zum Hof, ein Zaun, Gefängniszelle oder Stairway to Heaven. Wer Ines Abarbanell mit der Leiter tanzen sieht, weiß, wie ein metallenes Werkzeug zum Leben erwachen kann als Rachen eines Ungeheuers oder als Schoß einer schützenden Freundin. Ein ergreifender „Monolog“ nach einer Vorlage von Simone de Beauvoir.
Eine Guillotine als Instrument der Aufklärung. In Dortmund hat es versagt. Außer Protesten provozierte das Theatre de L'Unite Reaktionen, die zeigen, wie weit her es mit dem aufgeklärten Bewußtsein deutscher Schäferhundbesitzer ist. „In diesem Fall soll das Tier vermeidbare Qualen erdulden, und zwar zur Belustigung eines sicher nicht geringen Teils der Bevölkerung“, schrieben Schülerinnen und Schüler der Wilhelm-Röntgen-Realschule, ohne auch nur einen Ausschnitt des Stückes zu kennen, und forderten: „Man hätte vielleicht einen Schauspieler so verfremden können, daß die Parallele Adel/Schwein gegeben wäre.“ Und auf diesen verkleideten Schweinskopf darf man das Beil nun heruntersausen lassen? So abwegig ist die Frage nicht. „Nimm doch deinen eigenen Kopf“, riefen erregte Tierschützer den Henkern zu, als sie das Schwein auf den Richtplatz trugen. Es war nur so dahergesagt, die üblichen Emotionen, aber die hitzigen Zurufe entlarvten unwillkürlich ein Denken, das sich von der einstigen Abstimmung des Volkes über Tod und Leben, wie es das Theatre de L'Unite demonstrieren wollte, gar nicht so weit entfernt hat. Ein Bewußtsein, das selbst dann noch das provokante Spiel mit dem Requisit der Revolution polizeilich verbieten lassen wollte, als längst klar war, daß das Schwein niemals „wirklich“ kopflos werden würde. Aber was ist schon die Versicherung einer Schaupsielerin wert.
Was wäre aus der Revolution geworden, wenn die Fotografie schon 1789 erfunden gewesen wäre? Vielleicht ein Roman Foto, wie ihn das Theatre Royal de Luxe aus Toulose erzählt. Der Zuschauer befindet sich auf dem Set zu den Fotoarbeiten für einen Groschenroman. Ein fürchterliches Durcheinander. Irgendwo plärrt der Regisseur über Lautsprecher der Fotografin die letzten Anweisungen zu. Und dann geht alles sehr schnell. Die Hauptdarstellerin tritt in den Rahmen, der den Ausschnitt des späteren Bildes anzeigt. Der Regisseur ruft: „Foto“. Das erste Bild. Von da an ist es nicht mehr weit, bis die Schöne an den Stuhl gefesselt ist und auf ihren Mörder wartet. Foto. Sie windet sich. Foto. Der Mann mit dem Messer, Foto, taucht auf, Foto, und zerrt sie unter die Dusche. Blut. Foto. Blut. Foto. Es spritzt auf den geblümten Vorhang und über ihn hinweg ins Publikum. Schon wieder ein vom Rumpf getrennter Kopf.
Wie muß linkes Kabarett sein? Es muß antifaschistisch bleiben, denn über den Mann, der uns die Autobahn gebracht hat, darf - noch - nicht gelacht werden. Ansonsten ist alles zum Abschuß freigegeben. Bisher lebte Satire von der Genauigkeit, von der Schärfe der Hiebe. Aber das Kölner Duo Vital liebt das Flächenbombardement. Jede Menge Gags gegen noch mehr Gruppen, und irgendjemand wird schon lachen: Müsli-Mampfer und Maoisten, Yuppies gegen Muttis, und den Rest besorgt der Ulk des Sprachwitzes: „Die Wahl zwischen Sekt und Sekte - anstoßen oder sich abgestoßen fühlen.“
Der Zwang zum Neuen zwingt Fritz Eckenga vom Rocktheater Nachtschicht ans Fließband der Possenproduktion. Kaum ein halbes Jahr ist das neue Programm „Rumms!“ im Umlauf und wirkt schon so alt wie das des vergangenen Jahres. Die Nachtschichtler sagten gleich im ersten Song, was es zu diesem Erguß zu sagen gibt: „Alles ist so knapp und kurz, flüchtig wie ein Furz.“
Der peinlichste Augenblick zwischen den Wirklichkeiten kam immer nach dem Applaus. Das Kulturamt Dortmund hat unter den Revierstädten den höchsten Etat für freie Kulturarbeit, aber nur Geld für einen Blumenstrauß pro Gruppe. Wenn Kulturamtsleiter Kurt Eichler nach vorn ging, um einem Mitglied der Gruppe verschämt das Bouquet zu überreichen, standen die anderen betreten daneben, wußten sie doch nicht, ob die Ehre nun allen zuteil wurde oder nur die besondere Leistung des Einzelnen honoriert werden sollte. Gedacht als nette Geste wie in den großen Häusern, blieb so eine Ahnung von der stiefmütterlichen Behandlung bestehen, die freie Gruppen erfahren, sobald der Glanz des Festivals, der vor allem auf die Ausrichter fallen soll, vergangen ist.
Besonders ärgerlich gestaltete sich die Verquickung alternativen Anspruchs mit kommunalen Interessen beim Auftritt der französischen Musiktheater-Gruppe Zic/azou. Der Sänger der Fun-Truppe aus Amiens verabschiedete sich merklich überwältigt vom großen Zuschauerandrang - mit bewegten Worten und wünschte dem Festival noch viele Höhepunkte. Er konnte nicht wissen, daß die Band auf dem Friedensplatz nicht ausschließlich vor Festivalpublikum spielte, sondern als Musikeinlage bei der Einweihung des neuen Rathauses diente. Wer sich also entschloß, diesen Programmpunkt von „Theaterzwang“ wahrzunehmen, sah sich unversehens als Jubelbürger für das 62 Millionen Mark teure und heftig umstrittene Rathaus mißbraucht und gegen ein Häuflein protestierender Rathausgegner ausgespielt. Mit Genugtuung konnte Oberbürgermeister Günther Samtlebe feststellen, es sei eben „eine Abstimmung mit den Füßen“ gegen die Nörgler und Miesmacher gewesen. Die Füße der Theatergäste stillschweigend mit einberechnend.
Das Ferkel Jolante soll übrigens nicht - wie zahlreiche Artgenossen - auf den Grills der Festlichkeiten rund um die Eröffnung des Rathauses gelandet sein, sondern auf einem Bio -Bahnhof in Ostwestfalen zum glücklichen Borstenvieh gepäppelt werden. Wenn das nichts ist.
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