: Polenmarkt-betr.: "Nachruf auf eine Utopie", taz vom 22.6.89
betr.: „Nachruf auf eine Utopie“, taz vom 22.6.89
(...) Einmal abgesehen davon, daß der Standort denkbar schlecht war und es eigentlich ein Wunder ist, daß dort noch nichts passiert ist, so sind Hartungs Feststellungen, eine „verelendete Mittelklasse“ habe hier eine „Handelskultur“ entwickelt und eine „Ost-West-Kultur“ vorweggenommen, wirklich zu hoch gegriffen. (...)
Sind die Polenmarkt-„Gäste“, die in der Lage sind, mit dem PKW Waren aus ihrer Heimt zu holen, der repräsentative Querschnitt des polnischen Volkes? Wenn ja, o.k.; wenn nicht, kann man dann aus Solidarität mit dem allergrößten Teil der Polen diese Wenigen eigentlich reinen Gewissens unterstützen? Wie ist es möglich, daß Lebensmittel und Bekleidung angeboten wird? Ist die Versorgungslage in Polen so gut, daß eine „Ausfuhr“ möglich is? Wenn ja, ebenfalls o.k.; wenn nicht, wird dann nicht dem polnischen Volk hier etwas von ihren eigenen Landsleuten entzogen? und daß mit der mühsam verdienten D-Mark hier teure West-Lebensmittel und Kleidung eingekauft wird, ist unwahrscheinlich und macht keinen Sinn.
Diese Fragen einfach außer acht zu lassen, zeugt von Unüberlegtheit, Flüchtigkeit und Voreiligkeit. Sie müssen vielmehr mutig angesprochen werden und die Diskussion nicht anderen überlassen werden. Insbesondere deshalb, weil es zum kommenden Winter sicher wieder Aufrufe gibt, Hilfssendungen nach Polen zu schicken.
Schlimme Polemik ist es, die Frösche und Lurche vom Schichauweg mit den Polen in einen Topf zu werfen. Dies nützt niemandem, am wenigsten den Betroffenen. Hier besteht überhaupt kein kausaler Zusammenhang und es werden diejenigen diskreditiert, die aus Überzeugung gegen den neuen Grenzübergang kämpfen.
Rainer Kretschmer, Berlin 30
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