: Wo bitte geht's zur Avantgarde?
■ Einige Überlegungen zur Avantgarde '89, angestellt auf dem „Theater der Welt„-Festival in Hamburg
Versuchsanordnung Avantgarde, zum ersten: Von John Kelly aus New York wird von vorneherein erwartet, daß er avantgardistisch ist, eben weil er aus New York kommt und dort als „Kultfigur der Lower East Side“ gilt. Zu Beginn seiner Vorstellung wird auf Tafeln mitgeteilt, welche Stationen aus dem Leben des Wiener Malers Egon Schiele wir kennenlernen werden. John Kelly spricht nicht, nur ganz am Ende singt er. Da ist er aber eigentich schon tot und seine Frau auch. Die spanische Grippe, in Gestalt einer glitzernd -dunkelrot verschleierten Geistererscheinung, raffte beide dahin. Aus einer Filmsequenz erfahren wir, daß auch Wally, Geliebte und Malermodell starb. Stummfilm-ästhetisch bewegte Bilder mit Musik, vom Wiener Walzer bis Alban Berg, der Einsatz einer großen Filmleinwand und ein verdreifachter Egon Schiele - laut Programmheft schuf John Kelly zwei Alter egos, die jedoch beliebige Hilfsfunktionen ausüben - ist das Avantgarde? Lassen wir die Frage zunächst offen. Schön, weil genau, war die Darstellung Schieles im Gefängnis (seine Modelle waren für seine Zeit, zu Beginn des Jahrhunderts, zu jung): ein verzerrter Körper im Lichtkegel, die Gitterstäbe als Schattenstreifen auf ihn projiziert; in kurzen Spots die Qual des Körpers - jedes Wort wäre zuviel gewesen. Die Filmsequenzen sind eine Bereicherung, wenn sie das Gesicht des Malers zusammen mit den Umrissen seiner Gemälde verschwimmen lassen, wenn sie riesengroß und mühelos die Mühen seiner Kunst signalisieren.
Versuchsanordnung Avantgarde, zum zweiten: Beim „Squat Theatre“ und seiner Produktion L-Train to Eldorado sind zwei Insignien für Avantgarde '89 von vorneherein gegeben: New York und die Filmleinwand. New York allerdings erst seit zwölf Jahren, die Gruppe ist in Budapest entstanden, einige Mitglieder aus den Anfangszeiten sind noch dabei. Vielleicht erzählen sie deshalb gerade nicht eine Geschichte aus der k.u.k.-Monarchie vor langer Zeit, sondern eine aus New York, Eldorado oder irgendeiner anderen Hochhausmetropole, wo die Mülltonnen immer mal brennen, Köter kläffen, Ghettobluster dudeln und Verfall herrscht.
Das Programmheft schürt zusätzlich die Erwartung von Avantgarde: Die Tochter des Regisseurs Stephan Balint, Eszter, Mitglied des „Squat Theatre“, seit sie zehn Jahre alt ist, habe nämlich in Jim Jarmuschs Film Stranger than Paradise mitgespielt. Derart eingestimmt, fällt der Blick auf die Filmleinwand, und die ist wirklich etwas Besonderes. Ein gemaltes Schlafzimmer, Mann und Frau übergroß nebeneinander, davor, am Fuß des Bettes, ein Schäferhund. Nur ihre Gesichter leben; sie reden über Liebe und Haß, eingemauert in ihren gemalten Körpern, und es dauert einen Augenblick, bis wir merken, sie leben nicht wirklich, sie sind der Film und wirken durch diesen Trick vollgesogen mit menschlichen Emotionen.
Das Stück verfolgt den Weg von James, dem Mann aus dem Bett, durchs Dickicht der auf vielen großen Planen gemalten Stadt, immer auf der Suche nach der Frau, die er verloren hat. Eine Horde langschwänziger gehörnter Teufel bedrängt und beobachtet ihn mit einer riesigen Filmkamera. Ab und zu soufflieren sie ihm seinen Text, seine räsonnierenden Ausbrüche (in reduzierter Sprache) werden als Soap Opera parodiert. Das gipfelt in James‘ Versuch sich aufzuhängen. Natürlich reißt die Lampe ab, das Telefon klingelt unentwegt, und als er sich dann rasiert, wird die Wand seines Zimmers transparent. Ein riesiger Affe imitiert jede seiner Bewegungen, bis er auf ihn schießt.
Doch das „Squat Theatre“ beschränkt sich nicht auf James‘ komisch-grausige Begegnungen mit ihren vielen möglichen Spachlosigkeiten in der „Hauptstadt des Reiches, das niemand gewollt hat“ („Squat Theatre“ über seine Ankunft in New York). Sie tun des Guten zuviel, entfalten den ohnehin schon perfekten Bühnenzauber, bis sein Sinn nicht mehr zu erkennen ist. James verwandelt sich in einen stämmigen Baum, der zwar immer noch recht komisch palavert und sich mit einer schönen Frau verabredet, aber was das soll, erfordert entschieden zuviel des Nachdenkens, und das geht auf Kosten der gelungenen Bilder. Die Filmleinwand verstärkt diese Überladung mit Bedeutung, mit einem Filmchen über einen U -Bahnzug, vielleicht der Zug nach Eldorado, egal - ein überflüssiger Ausflug ins andere Medium.
Lassen wir die Entschlüsselung der Avantgarde über den Einsatz von Kamera und Film wieder fallen, ernst gemeint war sie ohnehin nicht, und neu ist die Anreicherung des Theaters mit anderen Mitteln längst nicht mehr. Die großen Bühnen könnten es meist besser, weil ihnen mehr Mittel zur Verfügung stehen, nur fehlt es dann oft an Phantasie und Intelligenz. Immerhin versucht das „Squat Theatre“ in drei Vierteln seiner Aufführung eine Geschichte zu erzählen, die nicht ins Niemandsland einer anderen Zeit führt, nicht den Umweg über das abgelebte Leben nehmen muß und nicht vampiristisch von der Kraft der Klassiker zehrt.
Umso größer waren die Erwartungen an die Gruppe „Zinnober“, angekündigt als wichtigste freie Gruppe der DDR, gebeutelt von mehreren Auftrittsverboten und inzwischen dennoch „Aushängeschild des jungen DDR-Theaters“. Avantgarde, der dritte Versuch: Leises Unbehagen beschlich mich angesichts des Beiblattes mit Gedanken zur Ausführung von Dieter Kraft, dem Sprecher der Gruppe. Von „grauer Indifferenz alltäglicher Dämmerungen“ war da die Rede, nichts sei fertig, man müsse improvisieren bis zur „Prägnanz eines Du -Da“, um Spontaneität zwischen den Bildern hervorzulocken.
Was dann kam, erfüllte zumindest eine mögliche Bedingung für Avantgarde - die des Schocks. Zwei Frauen und drei Männer taten irgend etwas, immer brav der Reihe nach, sprachen dieses und jenes, ein Sachse mit Wollmütze redete Sächsisch, zwei Männer im Blaumann verkleideten sich irgendwann als Mann und Frau. Irgendwann kam der Satz: „Was macht man in dem Fall, wenn man keine Idee hat?“ - „Lieber aufhören“, dachte ich, und irgendwann bin ich gegangen.
Improvisieren heißt für „Zinnober“ aus der DDR offenbar, alles zu vergessen und zu verweigern, was Theater ausmacht, jede Idee und jede Fähigkeit. Das ist verständlich, wenn man in einem Zwangssystem lebt, und es wirft auf seine Weise ein Licht auf die Realität dort. Welch befreiende Wirkung es in der DDR hat, vermag ich nicht zu beurteilen, hier war es nur kläglich und peinlich, die Karikatur der Psychosession eines Scharlatans. Die Organisatoren von „Theater der Welt“ hatten ihre Schwerpunkte Glasnost- und Avantgarde-Theater in weiser Voraussicht voneinander getrennt.
Daß man in New York über Filmprojektoren der fortgeschrittenen Art verfügt, nehmen wir dankend zur Kenntnis. Vor zehn Jahren, beim „Theater der Nationen“ in Hamburg, wollte das „Squat Theatre“ „Parodie der Freiheit“ sein, Theater „aus allem bauen, was wir haben, als hätten wir es nicht“. Die Avantgarde aus den USA, jedenfalls die 1989 in Hamburg vorgestellte, ist gealtert, schwer geworden von europäischen Träumen. Und Europa selbst zwei Brüderpaare: Die Brüder Lievi aus Gargnano und ihr „Teatro dell'Acqua“ haben ZuschauerInnen und Kritik verzaubert, und die „Stones„-Brüder aus England mit ihrem Kabarett Ralf Ralf wurden für ihre Persiflage eines Gipfeltreffens begeistert gefeiert.
Für mich, schließlich doch, kam die Avantgarde aus einem Winkel des alten Europa, aus Flandern. Die fliegenden und stürzenden Menschen im „TanzTheater“ des 26 Jahre alten Belgiers Wim Vandekeybus tanzen, als hätten sie den Tanz völlig neu erfunden. Sie erzählen Geschichten, aber es sind nicht die alten über Geschlechterkampf oder seelische Beschädigungen. Während sie tanzen, demontieren sie den Boden, auf dem sie sich bewegen. Die Türme, die sie aus den Platten bauen, nutzen sie zu neuer artistischer Reflexion über die Grundlagen der Welt. Ihre gewagten und perfekten Figurationen machen nachdenklich und neugierig auf eine Generation, deren Sprache wir zu kennen glauben. Wir haben uns getäuscht: Wir werden genauer hinschauen müssen.
Lore Kleinert
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