piwik no script img

„Nehmet hin, dies ist mein Leib“

■ Über „John Dollar“, den neuen Roman der mit Salman Rushdie verheirateten Schriftstellerin Marianne Wiggins

Bernhard Robben

Eine alte Frau treibt einen Esel vor sich her ins Tal. Sie ist dunkelhäutig, eine Inderin. Quer über dem Rücken des Esels liegt eine Weiße. Sie ist tot. Die Inderin will die Leiche begraben. Aber dem Priester des ländlichen St. Ives in Cornwall sind die beiden Alten nicht ganz geheuer, und er verweigert der Toten ihre letzte Ruhe. Menaka oder „Monkey“, wie man sie früher nannte, ist deshalb jedoch nicht sonderlich beunruhigt. Ohne Bedauern verzichtet sie auf den kirchlichen Segen und begräbt ihre Herrin mit eigener Hand, nachts, auf einem Friedhof. Und sie erinnert sich an andere Gräber, die sie gegraben hat, damals, auf der „Insel der geächteten Träume“, der Georgs-Insel.

John Dollar ist Marianne Wiggins vierter Roman und der zweite, der in England veröffentlicht wird. Sie ist Amerikanerin, lebt aber seit einigen Jahren in London und ist dort mit dem Autor der Satanische Verse, mit Salman Rushdie, verheiratet. Etwa zur gleichen Zeit, als sie am Montag, den 13.Februar, mit ihrem Ehemann das Artium des Michelin House in Chelsea betrat, um mit Verlegern und Kollegen die Veröffentlichung ihres Romans zu feiern, muß ein Bote des Ayatollah Chomeini - Gott sei seiner Seele ungnädig - dem Radio Teheran die Fatwa des einstigen Religionsführers überbracht haben, in der dieser zum Mord an Salman Rushdie aufrief. Seither lebt das Ehepaar Rushdie -Wiggins im Untergrund.

Während sie ihr das Grab schaufelt, erinnert sich „Monkey“ an den Lebensweg ihrer Herrin. Charlotte, so hieß die Tote, reist als junge Frau während des Ersten Weltkrieges nach Burma. Die weite Welt ist noch nicht entzaubert, der Kopf noch voller Ideale. Sie hat eine Stelle als Lehrerin an der englischen Schule in Rangoon angenommen, ihr Alltag ist exotisch, die Sonne scheint, und sie verliebt sich in Land und Leute. Die wenigen Briten, die ihr begegnen, haben allerdings keine Augen für die Schönheiten des Landes. Sie waren Gutsverwalter und Kolonialherren und werden es immer sein, ob nun in Burma oder in der englischen Grafschaft Kent. Enttäuscht kehrt ihnen die Heldin Charlotte den Rücken, „mehr und mehr zieht sie sich von den Menschen zurück, die glaubten, sie wären ihresgleichen“.

Nachdem andere Autoren die Konturen Britisch-Indiens auf die literarische Landkarte eingetragen hatten, beschrieb mit der möglichen Ausnahme von Paul Scott - kaum jemand besser die zugleich arrogante und hilflose Unfähigkeit der Kolonialherren im Umgang mit den asiatischen Kolonien als E.M. Forster. Doch das Burma in John Dollar läßt sich auf keiner Landkarte finden. Es ist ein bloßes Schattenland, das jeder Realität, jegliches Leben der Lektüre dieser Autoren verdankt. Dort, wo es sich für den weiteren Verlauf des Romans anbietet, läßt sich Marianne Wiggins zudem noch auf eine ähnlich schamlose Weise von Robinson Crusoe und dem Herrn der Fliegen unter die Arme greifen.

Charlotte lebt in einem Haus am See, sie kleidet sich einheimisch, hat ein freundliches Wort für die Fischer und wird von ihren Schulkindern geliebt. Nur mit dem Sex klappt es nicht so recht. Einmal hat sie zwar couragiert ein Messer durch eine Hand gestochen, die sich auf der Suche nach ein wenig Vergnügen auf ihre Brust verirrt hatte. Doch Charlotte fühlt sich, „wie es nur einigen Heiligen bestimmt war, sich zu fühlen, sie fühlt, daß jemand auf sie acht gibt, über sie wacht, daß sie zu etwas anderem bestimmt ist“. Es bleibt nicht lange ungewiß, wer damit gemeint ist. Ein Herr taucht auf. Fünfunddreißig, Herkunft unbekannt, Seemann. Sein Name: John Dollar.

Auch den unerfahrensten Leser wird es nicht überraschen, wenn hiermit eine Liebesgeschichte beginnt. Doch die Geschichte von Charlotte und John wird bald von anderen Geschehen in den Hintergrund gedrängt. Denn der Monarch im fernen England hat Geburtstag. Die Bewohner Rangoons beschließen deshalb, zur Feier des Tages und zu Ehren Georg V. eine der vielen Inseln Burmas nach ihm zu benennen. Man feiert dieses kostengünstige Geschenk mit einer Picknick -Expedition zum neuen Namenskind. Eine kleine Flotte von drei Booten segelt zur Insel. In dem einen ankern die Honoratioren, in dem zweiten deren Söhne sowie besagter John Dollar, im dritten Boot dann endlich die Mädchen und ihre Lehrerin Charlotte. Aber soviel Personal ist nur verwirrend. Die Autorin schickt deshalb die männliche Besatzung auf einen Jagdausflug, läßt Charlotte und John die nächste Zeit im Bett verbringen und eine Horde Kannibalen die Jungens massakrieren. Das verschafft Überblick!

Ein Taifun fegt dann die letzte Unordnung aus dem Buch. Es ertrinkt, wer nicht mehr gebraucht wird. Nur acht Mädchen, das Personal für eine Neuauflage des Herrn der Fliegen mit vertauschten Geschlechterrollen, bleiben auf der „Insel der geächteten Träume“ zurück. Sie machen sich ans Überleben. Sie stellen Regeln auf, spielen ein wenig Parlament und vergessen innerhalb weniger Tage, wie man sich ordentlich die Haare kämmt und daß man sich jeden zweiten Tag den Schlüpfer wechseln muß. Keine Erwachsenen, keine Verbote. Kinderträume stoßen sich nicht mehr an den harten Ecken der Zivilisation. Keines der Mädchen will sich an das Vergangene erinnern. Sie weigern sich. Sie wissen, sie sollten sich eine Hütte bauen, sich Vorräte anlegen, sich schützen. Statt dessen geben sie ihren Träumen freien Lauf. Sie verlieren sich an eine pränatale Welt voller Apathie und Wildheit. Doch Kinder verlangt es nach Grenzen ebenso wie nach Träumen.

Erst einige Tage nach dem Sturm finden sie John Dollar. Er ist der einzige männliche Überlebende des Taifuns und des Kannibalen-Barbecue. Sie finden ihn bewußtlos am Strand. Alle ihre Hoffnungen richten sich auf ihn, mit seiner Hilfe soll die Welt der Erwachsenen wiedererschaffen werden. Aber sein Rückgrat ist gebrochen, sein Unterleib gefühl- und bewegungslos. Statt helfen zu können, ist er auf die Hilfe der Mädchen angewiesen. Doch die Mädchen haben mit sich selbst genug zu tun. Sie hungern. Sie leben von eßbaren Lianen, von Obst und Kokosnüssen. Nur ihre Anführerinnen, Nolly und Amanda, bleiben seltsamerweise kräftig. Sie kommandieren ihre Schar, lassen sich bedienen. Eines Nachts entdeckt „Monkey“ ihr Geheimnis. Wenn alle anderen schlafen, nehmen sie einen glimmenden Ast aus dem Feuer und grillen sich ein Stückchen Fleisch aus dem Schenkel des empfindungslosen Unterleibs ihres angebeteten John Dollars. „Nehmet hin“, murmelt Molly, die Predigertochter, „denn dies ist mein Leib und mein Blut.“

Die Hoffnung, es möge sich bei diesem Bild um eine Kritik an der christlichen Religion handeln, wird ebenso wie die Hoffnung, hinter dem Spiel mit dem Textversatz bekannterer Autoren läge eine wohlmöglich brillante, nur gut getarnte Dekonstruktionsabsicht, wird auch durch das Ende des Romans in keiner Weise gestärkt.

Die Mädchen auf der „Insel der geächteten Träume“ sterben. Nur „Monkey“ Menaka bleibt übrig. Sie hebt die Gräber aus. Zuerst für John Dollar, dann für die Mädchen. Später findet sie Charlotte im Urwald der Insel, an einem Fluß. Und sechzig Jahre darauf begräbt sie heimlich und nachts Charlotte auf einem Friedhof.

John Dollar, dieses Gemisch aus Kulturkonflikt, romantischem Frauenroman und Zivilisationskritik wurde außerdem noch mit Extrakten aus einem Leonardo da Vinci-Text gewürzt, mit zahlreichen Überschriften in kleine Text -Häppchen a la nouvelle cuisine unterteilt und mit reichlich Anmerkungen auf einem halbseitig gedrucktem Rand versehen, die offenbar wie frische Petersilie vom verdorbenen Braten ablenken wollen. Warum das alles? Warum sich satte Stückchen aus der englischen Literatur schneiden, um der Handlung eines überflüssigen Romans einen Plot und der Sprache den Anschein literarischer Gewichtigkeit geben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß sich Marianne Wiggins mit dem Roman John Dollar in ärgerlicher und aufdringlicher Manier ihren Vorbildern anbiedert, es nicht für nötig hält, ihre Namen zu nennen und die eingebrachte Beute ihrer Lektüre -Streifzüge als ihr eigen serviert, wo es doch rechtens den Namen Plagiat verdiente.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen