: Die Kultur des Stillstands
■ Die Mauer als Mitgift für das 21. Jahrhundert
Gerd Nowakowski
Nein, sagt Manfred und macht eine weite, wischende Bewegung mit dem Arm, als müsse er meinen Einwand abwehren. „Nein, gerade in der Begrenzung wird eine besondere Freiheit spürbar.“ Wir sind einen Moment stehengeblieben, und Manfred winkt dem Mann auf dem Turm aus Beton zu, drüben hinter der Mauer. Der Uniformierte hebt ebenfalls den Arm; man kennt sich offenbar. Wir sind an diesem Samstagnachmittag - warm ist es und eine Ahnung von Gewitter hängt in der Luft - von seiner Wohnung auf dem hellen Asphaltband gelaufen, bis sich die Landschaft auf beiden Seiten einstülpt wie ein riesiger Flaschenhals und nur noch die Straße übrigbleibt und die Mauer auf beiden Seiten.
Manfred liebt Steinstücken, diesen Wurmfortsatz einer ummauerten Stadt, dieses Konzentrat an Beengung. An drei Seiten umschließt die DDR diesen Zipfel im südwestlichen Ende der Stadt, und nur eine mauerbegrenzte Straße läßt den Zugang frei zum Stadtgebiet. Hier unten sind die Mauern von allen vier Seiten dicht an die kleinen Häuser und die wenigen Straßen herangerückt. Die Mauer ist ständig zu sehen, sie kann nicht verdrängt noch übersehen werden wie im restlichen Berlin. Manfred hat sich diesen Ort gewählt: „Gerade deswegen“, sagt er und grinst mich an, als sei das Erklärung genug.
Wir kennen uns seit unserer Kindheit. Hinter seinen Bewegungen, hinter seiner Art zu reden, erkenne ich manche Züge von früher wieder und dennoch ist er mir fremd. „Also Kafka“, beginnt er übergangslos zu sprechen, als wir wieder zurückgekehrt sind in die ummauerte Parzelle am Ende der Stadt und uns im Garten eines Lokals niedergelassen haben, „der hat sich immer ein riesiges, leeres Kellergewölbe gewünscht, im dem er ganz allein sitzen wollte. Der hat das als Inbegriff seiner schöpferischen Freiheit gesehen.“ Ich schaue ihn zweifelnd an, was ihn jedoch nur anstachelt. Freddy haben wir ihn damals genannt; weil er immer mit einem Federballschläger als Gitarre Freddy Quinn nachgemacht hat. Wenn er wie dieser von Liebe, von der Fremde und dem Meer sang, hat uns das mächtig imponiert. Jetzt ist Fred kräftig und ziemlich fett und hat fast eine Glatze. Mich irritiert immer, daß diese Glatze so unordentlich ausschaut, gänzlich unaufgeräumt mit ein paar verstreuten Haarbüscheln.
Fred war denn auch als erster von uns weg von zu Hause, immer unterwegs: ob das mit dem Schiff stimmte, wußte keiner. Aber in Spanien habe ich ihn einmal getroffen, da wollte er mit einer Hühnerfarm bei den Touris sein Geld verdienen. Klappte aber nicht; die Hühner legten nicht genügend Eier. Danach folgten andere Stationen in anderen Ländern. Irgendwann war er dann wieder zurück und hatte bald darauf Pech. „Hast du solche Gedanken im Knast gekriegt?“ frage ich ihn. „Auch dort, aber so eine Ahnung hatte ich schon vorher“, entgegnet er. „Wir erkennen die Chancen gar nicht, die in dieser Begrenzung liegen“, sagt er beschwörend: „Der Stadt könnte man nichts Schlimmeres antun, als ihr die Mauer nehmen: das ist unser Kapital, um aus der perversen Hinterlassenschaft einer verrückten Politik die Kernzelle des Neuen zu machen.“
Bald nachdem er rauskam aus dem Knast, zog er in die Exklave. Mit den Reisen war es aus. Wovon er lebt, weiß ich nicht und frage auch nicht. Von einem Mauersyndrom sei immer wieder gesprochen worden, einem tiefverwurzelten Konglomerat aus psychischer Belastung und Ängsten - nach dem seelischen Zugewinn habe keiner gesucht, erregt sich Fred. Dabei sei der doch offenbar: focussiert von der Mauer hätten sich in Berlin wie unter einem Brennglas immer wieder gesellschaftliche Entwicklungen entzündet. Die Ostpolitik sei hier entstanden, die Studentenbewegung und jetzt das rot -grüne Laboratorium, zählt er mir triumphierend auf. „Laboratorium, von wegen! Du hast doch einen Knastkoller“, erwidere ich unwirsch. Manfred aber läßt nicht locker: „Würdest du den Mönchen, die jeden Tag meditieren hinter ihren Mauern, auch sagen, sie hätten einen Knastkoller? Na also! Ich sage dir: Berlin wird zum Kloster des 21. Jahrhunderts.“
Und bevor ich mich wehren kann, entwirft er mir seine Zukunftsvorstellung. Die Idee der planetarischen Verkehrsströme habe sich als Wahn erwiesen; die Idee des 21. Jahrhunderts sei die Immobilität, die aus der Selbstbescheidung entstehe und dadurch Kräfte freisetze für die geistige Vollendung und ökologische Umgestaltung. Berlin sei dabei Vorreiter, weil die Existenz der Mauer dies neue Denken 28 Jahre lang vorbereiten konnte; fast eine Generation lang auf unbeschreibliche Weise auf die Gehirnwindungen eingewirkt habe.
Klar, sagt er und kommt meinem Einwand zuvor, noch sei nicht viel davon zu spüren. Aber das komme noch. Während sich andere Städte zum unheilvollen Moloch zusammenballten und dem Kollaps entgegentrieben, beginne Berlin mit der Kultivierung des Stillstands. Die geplante Verkehrsberuhigung sei ein erster Schritt zur endgültigen Abkehr von der Hektik der Großstadt. Das gehe weiter, und er spüre dies in seinem Steinstücken am deutlichsten. Berlin werde zum Inbegriff der immobilen Spiritualität. Namen von Klöstern, aus dem Mittelalter und von den griechischen Inseln, sprudeln aus ihm heraus, während ich mich zurücklehne und den Himmel beobachte, der sich langsam zuzieht.
Als Fred endlich innehält in seinem Wortschwall, verzichte ich auf eine Entgegnung. Schweigend sitzen wir zusammen und trinken, und jeder von uns sieht über den Rücken des anderen ein Stück der Mauer. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, er habe in der Welt irgendwann seine Sicherheit verloren und nun beschützt die Mauer seine Ängste. Ich verabschiede mich. Als ich erneut die Straße zwischen den Mauern entlang laufe, erblicke ich wieder den DDR-Grenzer auf dem Wachturm. Ich kann mich im letzten Moment noch zurückhalten, ihm nicht ebenso zuzuwinken wie Manfred. So schaue ich auf die Straße und gehe weiter. Dennoch wallt der Ärger in mir auf über mich selbst.
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