: London entsorgt Nazi-Kriegsverbrecher
Gesetzesänderung ermöglicht Mordanklagen gegen nach Großbritannien geflohene Nazis ■ Von Ralf Sotscheck
Nazi-Kriegsverbrecher, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Flüchtlingsstrom unerkannt nach Großbritannien gekommen sind, haben demnächst mit Mordanklagen zu rechnen. Eine unabhängige Untersuchungskommission empfahl der britischen Regierung in dieser Woche, die notwendige Gesetzesänderung schleunigst im Parlament einzubringen, um die Anklagen zu ermöglichen. Bisher können Ausländer in Großbritannien nicht für im Ausland verübte Taten strafrechtlich verfolgt werden.
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, daß bislang genügend Beweise für Mordanklagen gegen vier Kriegsverbrecher vorliegen. Einer von ihnen ist inzwischen jedoch verstorben, und ein weiterer hat ein Attest vorgelegt, das ihm Prozeßunfähigkeit bescheinigt. Insgesamt empfiehlt die Kommission nähere Untersuchungen in 75 Fällen. Die Kommission war erst im Februar 1988 eingesetzt worden und konnte sich seitdem von 301 Fällen wegen der aufwendigen Recherchen nur sieben Fälle detailliert studieren. Die Namen der Betroffenen wurden der Regierung in einem getrennten Dokument mitgeteilt, das jedoch geheim gehalten wird. Bekanntgegeben wurde lediglich, daß es sich bei den Fällen fast ausschließlich um Verbrechen gegen Juden in den baltischen Ländern handelt.
Eine Auslieferung der Kriegsverbrecher an die Sowjetunion lehnt der Untersuchungsbericht mit der Begründung ab, „die Öffentlichkeit (sei) nicht der Meinung, daß sie dort einen fairen Prozeß zu erwarten haben.“ Stattdessen sollen die Zeugen aus der UdSSR zu den Verfahren in Großbritannien herangezogen werden - notfalls auch per Fernsehdirektleitung. Es gilt als sicher, daß das britische Parlament im Herbst den Empfehlungen der Untersuchungskommission folgen und die notwendige Gesetzesänderung verabschieden wird. Die Meinung britischer Politiker ist jedoch geteilt. Während Lord Elwyn Jones von der Labour Party, der an den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen teilgenommen hat, in einer sehr emotionalen Rede die Bestrafung der Schuldigen forderte, sagte Innenminister Douglas Hurd: „Man kann sich fragen, was durch die strafrechtliche Verfolgung alter Männer so lange nach den Ereignissen erreicht werden soll.“
Bis vor zwei Jahren hatte sich die britische Regierung strikt geweigert, die Tatsache überhaupt in Betracht zu ziehen, daß in Großbritannien Nazi-Kriegsverbrecher leben, obwohl seit Kriegsende vor allem aus der Sowjetunion zahlreiche Belege dafür vorgelegt worden sind. Erst als das Simon-Wiesenthal-Center Ende 1987 in Los Angeles unwiderlegbares Beweismaterial präsentierte, setzte das britische Innenministerium schließlich die unabhängige Untersuchungskommission ein.
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