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„Ein Verbrechen an den Frauen“

Trotz katastrophaler Abtreibungspraxis haben die Frauen in der UdSSR keine Alternativen / Verhütungsmittel sind teuer und rar, von offizieller Seite gibt es nur bedauernde Worte / Immerhin greift die Presse verstärkt die Zustände an  ■  Von Ute Keppler

Feierabend in einer Moskauer Abtreibungsklinik, eine Ärztin kommt in den Warteraum. „22 Abtreibungen pro Stunde. Heute ist wieder mal wahnsinnig viel los“, seufzt sie, sich die Hände reibend. Dann betritt eine junge Frau das Zimmer. Sie hat gerade eine Abtreibung nach der in der Sowjetunion sehr seltenen Absaugmethode hinter sich. Sie ist völlig erschöpft, aber mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen erklärt sie, daß sie diesmal keine Schmerzen gehabt habe. Vor einem halben Jahr habe sie eine „richtige“ Abtreibung machen müssen und noch Tage später gelitten.

Tatsächlich werden über 80 Prozent der Abtreibungen in der Sowjetunion entweder ohne Betäubungsmittel vorgenommen oder in einer Dosierung, die gerade dafür ausreicht, daß die Frauen nicht ganz so laut schreien. Schmerzlinderung erscheint überflüssig (Medikamente sind in der UdSSR auch rar! - d.Korr.in). „Pro blatu“ - Vitamin B - lautet die Bestechungsformel für Ärzte, damit sie eine Vollnarkose geben.

„Ich möchte nicht bedauern, eine Frau zu sein“, war vor einigen Wochen ein Erfahrungsbericht einer jungen Frau überschrieben, den die Zeitung 'Moskovskie Novosti‘ veröffenlichte. Die zuständige Redakteurin kommentierte, erschüttert: „Wie Abtreibungen in unserem Land durchgeführt werden, ist barbarisch. Es ist ein physisches, psychisches und moralisches Verbrechen gegen die Frauen.“ Die in dem Bericht geschilderten Erniedrigungen sind kein Einzelfall. In Gesprächen mit sowjetischen Frauen tauchen immer wieder die gleichen Erlebnisse auf. Es beginnt schon in der Beratungsstelle, wo die Schwangerschaft festgestellt werden kann. Der Umgangston ist grob. Frauen werden generell mit „Du“ angesprochen, arrogante Ärztinnen und Ärzte geben mit jeder Geste zu verstehen, daß die Frauen ihren Spaß gehabt hätten und nun dafür bezahlen müßten. Fällt der Schwangerschaftstest positiv aus, müssen zahlreiche Untersuchungen, unter anderem ein Aids-Test durchgeführt werden. Jedesmal ist dafür stundenlanges Schlangestehen erforderlich, die Frauen müssen Arbeits- und Verdienstausfall in Kauf nehmen. Dafür ist die Behandlung immerhin kostenlos. Zur Abtreibung selbst werden sie dann in die Bezirkskliniken bestellt. „Vor hauchdünnen Wänden, hinter denen du die Patientinnen schreien hörst, mußt du warten, bist du an der Reihe bist“, berichtet eine Betroffene. „Beim Eintritt ins Operationszimmer fällt als erstes ein Eimer ins Auge, in dem das Blut und die Reste der vorangegangenen Abtreibungen gesammelt werden.“

Die Zustände sind katastrophal, doch sowjetische Frauen haben keine Alternative. 6,5 Millionen Schwangerschaftsunterbrechungen wurden vergangenes Jahr registriert, damit treibt jede Frau in der Sowjetunion durchschnittlich viermal in ihrem Leben ab. „Die Sowjetunion hält den Weltrekord in Abtreibungen“, lautete der Titel einer Reportage in der Wochenzeitung 'Ogonek‘ Anfang des Jahres.

Für viele Frauen sind die beengten Wohnverhältnisse bzw. die Unmöglichkeit, eine neue größere Wohnung zu bekommen, ein Grund für die Abtreibung. Andere haben finanzielle Schwierigkeiten, können sich ein weiteres Kind oder einen längeren Verdienstausfall nicht leisten. Oder sie haben wenig Zeit, denn ein Kind verlangt Fürsorge, die ein berufstätiges Ehepaar nicht geben kann.

Die Alltagssorgen stehen für sowjetische Frauen im Mittelpunkt der Überlegungen für und wider Abtreibung. Über psychische und moralische Probleme oder über gesundheitliche Folgen wird entweder gar nicht gesprochen oder auf Fragen dazu nur müde abgewinkt. Für diese Art der Auseinandersetzung bleibt keine Zeit.

Mit der fehlenden Sexualaufklärung nennt Natalija Kraminowa einen weiteren wichtigen Punkt für die hohe Abtreibungsrate. Zwar gibt es für Mädchen in der Schule das Fach „Ethik und Moral des Familienlebens“, wo am Beispiel literarischer Figuren wie Anna Karenina versucht wird, den jungen Frauen die „geistigen und moralischen Grundlagen“ für den Eintritt in die zwischengeschlechtliche Beziehung zu geben. Über Sexualität und Verhütung wird allerdings kein Wort verloren.

Doch selbst wenn man dies täte, taucht sofort der nächste Problemberg auf: die Versorgung mit Verhütungsmitteln. Besuche mehrerer Moskauer Apotheken, in denen die rezeptfrei erhältlichen Verhütungsmittel samt Preisschild unter einer Glasvitrine aufgebahrt sind, zeigen, was geboten wird: Da gibt es samentötende Zäpfchen zu 40 Kopeken, eine Creme für 32 Kopeken, ein Diaphragma für 24 Kopeken (allerdings nur in einer Größe und ohne Creme!) und sowjetische Kondome, die eine Freundin mit alten Lederschuhen verglich: dick und durchlässig. Ausländische Erzeugnisse (Wie wär's denn mit 'nem Joint-venture-Projekt „Kondom-Fabrik“ im Rahmen der Frauensolidarität?, d.Korr.in), die qualitativ besser sind, gelangen nicht in die Guckkästen der Apotheken, sondern verschwinden inoffiziell unterm Ladentisch.

Zu diesen gehört auch die finnische Spirale. Spiralen dürfen übrigens nur Frauen eingesetzt werden, die bereits Kinder haben. Damit erklärt sich unter anderem die hohe Schwangerschaftsrate bei unverheirateten jungen Frauen.

Meine Frage an die Verkäuferin, ob das denn alle Verhütungsmittel seien, erzielt einen merkwürdigen Effekt: Die junge Frau errötet bis zu den Haarwurzeln, tritt hinter ihrem Tresen hervor und flüstert mir zu, daß über solche Produkte nicht laut gesprochen würde. Ich bräuchte nur zur Kasse zu gehen, den gewünschten Betrag bezahlen und ihr den Bon auszuhändigen. Sie verstehe dann schon, was gemeint sei. Freundlicherweise beantwortet sie noch meine Frage. Es gäbe auch Verhütungsmittel auf Rezept, sagt sie, verschwindet und bringt mir eine Packung „Pille danach“ - zehn Tabletten zu 47 Kopeken. „Höchstens viermal im Monat verwenden“, besagt die Packungsbeilage und mich packt das Grauen, wenn ich daran denke, welche Hormonstöße sich die Frauen damit einverleiben.

Für das Gesundheitsministerium sind diese himmelschreienden Zustände kein Geheimnis. Auf den Artikel in der 'Moskovskie Novasti‘ reagierte es mit einem bedauernden Schreiben und verkündete den Ankauf mehrerer Millionen finnischer Spiralen. In welchen Kanälen diese gelandet sind, wird nicht bekanntgegeben. Ferner wird eine erst seit 1987 eingeführte „Verhütungsmethode“ angepriesen, die zu einem drastischen Sinken der Abtreibungszahlen führen soll: der Mini-Abort. Diese bei uns als Absaugmethode bekannte Form der Schwangerschaftsunterbrechung gilt in der Sowjetunion als „Korrektur des Menstruationszyklus“ und nicht als Abtreibung. In Großstädten wie Moskau, Leningrad, Kiew und Eriwan gibt es bereits Kliniken, die über die entsprechenden Apparaturen verfügen. Innerhalb der ersten sechs Wochen nach Ausbleiben der Regel darf die ambulante Abtreibung vorgenommen werden. Für einen späteren Eingriff seien die Apparaturen nicht tauglich, erklärt eine Ärztin der 23.Moskauer Poliklinik, der bislang einzigen staatlichen in Moskau, in der die Absaugmethode angewendet wird. Damit kommt das nächste Problem auf die Frauen zu. Sofort nach Ausbleiben der Regel muß ein Termin beantragt werden, um überhaupt innerhalb der Fristen zu bleiben. Und bei der bereits beschriebenen Behandlung in den Kliniken bedeutet das eine ziemliche Überwindung.

Seit letztem Sommer ist es auch möglich, den Mini-Abort in „selbstwirtschaftenden“ (chozrascet) Kliniken oder medizinischen Kooperativen durchzuführen. Vier Stunden dauert der Eingriff inklusive Schwangerschaftsfeststellung und Voruntersuchungen, bedeutet also nicht einmal Arbeitsausfall, weil die meisten der privatwirtschaftlichen Kliniken abends arbeiten. Dafür müssen aber 60 Rubel bezahlt werden. Ein Besuch einer solchen Klinik, die tagsüber eine ganz normale Werksklinik ist, abends in ein selbstwirtschaftendes Unternehmen umgebaut wird, läßt bei mir den Eindruck entstehen, daß die Gynäkologinnen zwar nicht freundlicher sind, den tagsüber angeschlagenen Ton abends nicht mildern können, aber schnell und gründlich arbeiten und absolute Anonymität wahren. Eine Ärztin erklärt, daß die Frauen keinen Paß vorzuzeigen bräuchten, keine Statistiken geführt würden. Daher kämen auch viele Frauen aus anderen Städten oder anderen Wohnbezirken, die hoffen, unerkannt zu bleiben.

„Ich möchte nicht bedauern, eine Frau zu sein“ - bei Betrachtung des Alltags einer sowjetischen Frau gibt es wenig Gründe, sich darüber zu freuen.

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