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Was heißt kritische Theorie der Gesellschaft heute?

■ Eine Kritik des kritischen Theoretikers Jürgen Habermas

Heide Berndt

Als Habermas 1964 als Nachfolger Horkheimers auf dessen Lehrstuhl für Philosohie und Soziologie berufen wurde, waren die Soziologiestudenten der damaligen Zeit, besonders die politisch aktiven, im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) organisierten, der Meinung, daß nun der Mann gekommen sei, der die Kritische Theorie zu ihrer Vollendung führen werde, indem er sie auf aktuellere politische Ereignisse beziehen würde.

Es traf sie darum hart und überraschend, als Habermas anläßlich der Trauerfreier des am 2.Juni 1967 in Berlin erschossenen Studenten Benno Ohnesorg in Hannover der im Entstehen begriffenen antiautoritären Bewegung den Vorwurf „Linksfaschismus“ entgegenschleuderte. Er hat die Linksfaschismusthese bekanntlich rasch und öffentlich zurückgenommen (Hochschulreform und Protestbewegung 149

-152). Von den SDS-Mitgliedern wurde dieser Vorwurf als vorübergehende Affektverwirrung zu später Stunde bewertet, nicht als generelle Kampfansage gegen die neue Bewegung. Zu groß waren Wunsch und Glaube, daß Habermas ein Verbündeter sein werde. Dieser Glaube wurde ein Jahr später einer erneuten Belastungsprobe ausgesetzt. Am 1.Juni 1968 trug er auf einem Frankfurter Schüler- und Studentenkongreß seine Sechs Thesen zur Studentenbewegung vor, die im Vorwurf „Scheinrevolution“ gipfelten. Er begründete diesen Vorwurf mit folgenden Argumenten:

„Jedes, aber auch jedes bisher allgemein akzeptierte Anzeichen für eine revolutionäre Lage“ fehlt (11), der „Gegensatz sozioökonomischer Klassen“ sei durch das Herrschaftssystem, das sich „Massenloyalität“ auf Grundlage „sozialer Entschädigungen“ sichert, derart „gesteuert“, daß der „systemgefährdende“ Klassenkonflikt „latent“ bleibe (10). Auf „emotionaler Ebene hergestellte Identifizierungen“ haben „keinen politischen Stellenwert“. Bei den „neuen Demonstrationstechniken“ handele es sich um „ritualisierte Formen der Erpressung und des Trotzes von Heranwachsenden gegenüber unaufmerksamen, aber relativ nachsichtigen Eltern“ (7/8), sie seien deswegen nur „altersspezifisch“ anwendbar. Fazit: In der Studentenbewegung werden „Symbol und Wirklichkeit verwechselt“ (12), an „die Stelle der allein gebotenen Strategie massenhafter Aufklärung“ trete die „Taktik der Scheinrevolution“, d.h. Aktionen. Darum forderte Habermas die Studenten auf, endlich „realistisch“ zu werden, sich auf die „Grenzen des Aktionsspielraums“ zu besinnen und die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und Gruppen „mit privilegierten Einflußchancen“ zu suchen, die den „Zugang zu den Massenmedien“ ermöglichen (15). (Zit. nach: Die Linke antwortet Habermas, 1968)

Wenige Monate nach diesen Thesen erschien Die Linke antwortet Habermas. Sieht man sich heute die Beiträge dieses Bändchens an, so überrascht die Zahmheit der Antworten. Dies erklärt sich durch den Anspruch, kein „Anti -Habermas“ zu sein. Habermas solle vielmehr „gegen die wachsende Schar falscher Freunde, die mit seinem Denken und seinen politischen Überzeugungen absolut nichts zu tun haben, gegen die er sich bisher kaum gewehrt hat, in Schutz“ genommen werden, wie O.Negt als der Herausgeber dieser Antworten sagte (32).

Dieses Argument ist von einer seltsam verdrehten Logik. Logisch wäre, sich gegen einen Angreifer zur Wehr zu setzen; hier aber wird dazu aufgerufen, ihn gegen seine „falschen Freunde“ in Schutz zu nehmen. Damit empfehlen sich die Angegriffenen als die wahren Freunde und definieren den Angreifer als schutzbedürftig. Anstatt sich zur Wehr zu setzen, wollen sie ihren Angreifer beschützen. Ein gängiger psychischer Abwehrmechanismus - Verkehrung ins Gegenteil war hier am Werke und trübte das Denken. Heute hat sich Negt von dieser Kritik ganz distanziert und öffentlich bei Habermas entschuldigt (FR, 16.6.89).

Als die Neue Linke Habermas 1968 antwortete, entging ihr vor allem, daß er an einem Revolutionsbegriff festhielt, der von Horkheimer bereits Ende der dreißiger Jahre problematisiert worden war. Der weitaus größte Teil der Proteststudenten verstand das Wort Revolution sicher im gleichen Sinne wie Habermas, nämlich gebunden an einen „systemgefährdenden“ Klassenkonflikt. Während Habermas zu Recht annahm, daß „bisher allgemein akzeptierte Anzeichen für eine revolutionäre Lage“ fehlten, weil kein Klassenkampf in Sicht war, versuchten nicht wenige SDS-Genossen, sich in eine etwas rührselige Revolutionsstimmung zu versetzen, indem sie Revolutionsbilder beschworen, die mit den Problemen ihrer damaligen Lebenssituation herzlich wenig zu tun hatten. Verbunden mit diesem Revolutionsverständnis, das letztlich dem 19.Jahrhundert verhaftet bleibt, anstatt die Bedingungen revolutionären Handelns in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts zu bedenken, ist ein unreflektiertes Verhältnis zur Gewalt.

Liest man heute Habermas‘ mitternächtlichen Diskussionsbeitrag aufmerksam nach, in dem der „Linksfaschismus„-Vorwurf laut wurde, so ist diesem zu entnehmen, daß er das „Risiko von Menschenverletzung“ für vertretbar hält, wenn eine „objektiv revolutionäre Situation“ vorläge; alles andere sei „voluntaristische Ideologie“. Auch einem wohlwollenden Kritiker von Habermas fiel auf, daß sich die Argumentation „orthodox-marxistischer Auffassungen von den Bedingungen einer Revolution“ anschloß, indem die revolutionäre Situation „auf die offene Empörung ausgebeuteter Massen“ beschränkt wurde (Rolf Wiggershaus, Kritische Theorie, dtv 689/699). Im Grunde ist in diesen Argumenten unausgesprochen die Vorstellung enthalten, daß es bei einer „echten“ Revolution, wo sich die „offene Empörung ausgebeuteter Massen“ Bahn bricht, auch richtig knallen dürfe. Über solch Revolutionsverständnis war Horkheimer längst hinaus.

Die „Scheinrevolutionäre“ bezogen sich auf die gleiche Kritische Theorie, als deren Repräsentant heute Habermas gilt. Allerdings waren es „die klugen jungen Leute in den späten sechziger Jahren“, die den politischen Gehalt dieser Theorie frühzeitig erkannten und sich die Aufsätze aus der Zeitschrift für Sozialforschung (1932 bis 1941) wieder aneigneten, wie Habermas in einem Interview 1981 zugestand, während ihm die Bedeutung der grundlegenden Arbeiten der Kritischen Theorie damals noch verborgen war. Nicht nur in Frankfurt, auch in Berlin und München gab es unter den Studenten großes Interesse, diese versunkene Fracht zu bergen.

Der für die 68er Bewegung wichtigste Horkheimer-Aufsatz war der Autoritäre Staat. Er war 1940 geschrieben worden, wohl anschließend an den ihm inhaltlich sehr verwandten Aufsatz Die Juden und Europa, der 1939 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen war. Der Autoritäre Staat wurde aber erst 1942 in einer mimeographierten Instituts-Gedenkschrift für Walter Benjamin, der sich 1940 auf der Flucht vor den Nazi -Verfolgern das Leben genommen hatte, veröffentlicht. Die These, die in beiden Ansätzen entwickelt wird, lautet: Im autoritären Staat wird Herrschaft ihrer ökonomischen Vermittlung wieder entkleidet, dadurch wird die ökonomisch bedingte Krise des Kapitalismus beseitigt. Der autoritäre Staat oder auch Staatskapitalismus beseitigt den Markt; „in seiner 'ökonomischen Unabweisbarkeit‘ bedeutet er einen Fortschritt, ein neues Atemholen für die Herrschaft.“

Nicht nur den Nationalsozialismus faßte Horkheimer als eine der Varianten des autoritären Staates auf, sondern ebenso den Staatssozialismus, wie er in Rußland eingerichtet worden war. Der Staatssozialismus oder auch „integrale Etatismus“ sei die „konsequenteste Art des autoritären Staates“, weil er von jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital frei sei. Er breite das „Betriebsreglement“ über die ganze Gesellschaft auf. Die Industrialisierung werde ohne liberale Phase forciert. Nationalsozialismus und Staatssozialismus unterschieden sich also nur von ihren ökonomischen Voraussetzungen her. Gemeinsam gilt: „In allen seinen Varianten ist der autoritäre Staat repressiv.“

Wie sollte es trotz dieser düsteren Diagnose noch Hoffnung auf die Revolution geben, die nach „der Theorie“ aller Herrschaft, aller Ausbeutung und allem Grauen ein Ende machen sollte? Horkheimer warnte schon damals: „Deduzierbar war der ökonomische Zusammenbruch, nicht die Revolution.“ So zerstörte er zwar die Hoffnung auf das Proletariat als objektiv vorherbestimmtem Träger dieser Revolution, weil er zeigte, daß das Proletariat längst durch die Massenparteien und die Gewerkschaften an das kapitalitische System gebunden war, doch trotz aller Verzweiflung klang bei Horkheimer ein Motiv auf, das die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaftsordnung aufrechterhält. Es sei ein „unnatürliches Ende“ der totalitären Ordnung abzusehen, „der Sprung in die Freiheit“. Und weiter: „Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten.“ Sie entspringe dem „bewußten Willen der Einzelnen.“ Das Individuum sei zwar „von keiner Macht berufen und gedeckt“, aber es stelle selbst eine Macht dar, weil alle vereinzelt und darum ohnmächtig sind. Es habe keine andere Waffe als das Wort, das die Wahrheit ausspricht.

Kriterien zur Voraussage der Ereignisse, die zum „Sprung in die Freiheit“ ansetzen, lehnte Horkheimer aus guten Gründen ab. „Man kann nicht bestimmen, was eine freie Gesellschaft tun oder lassen wird.“ Entschieden lehnte er eine „realistische“ Orientierung an geschichtlichen Gesetzen ab. Die Menschheit wurde nicht durch „die unzeitgemäßen Unternehmungen der Umstürzler“ verraten, „sondern durch die zeitgemäße Weisheit der Realisten“. Habermas‘ Ermahnung in den Sechs Thesen zur Studentenbewegung, sich unbedingt realistisch zu verhalten, liest sich wie der ironische Kommentar zu Horkheimers Einsichten.

Horkheimer entwickelte hier einen Revolutionsbegriff, der zwar an Marx und Engels orientiert ist, jedoch die gegenüber dem Vormärz stattgehabte gesellschaftliche Veränderung berücksichtigt: die Angleichung der einst revolutionären Organisationen des Proletariats an die repressiven Organisationsformen der bürgerlichen Gesellschaft und die grauenhafte Entwicklung der sozialistischen Revolution in Rußland unter Stalin. Damit distanzierte er sich von dem „objektiven“ Revolutionsbegriff, wie er in den linken Parteien vorherrschte, und erinnerte an den verdrängten „subjektiven“ Anteil im Revolutionsbegriff von Marx.

Bereits in der Deutschen Ideologie (1847) war ausgesprochen worden, daß die Veränderung der „bisherigen Produktions- und Verkehrsweise“ nur möglich sei, wenn die Individuen sich selbst dabei veränderten. „Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten“ - hier ist die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise gemeint „ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst“ (Marx-Engels-Werke 3, 68). Diese Art der Formulierung, in der objektive und subjektive Prozesse nicht starr getrennt und einander entgegengesetzt erscheinen, ist der Sprache von Habermas fremd. Wie Christoph Türcke kürzlich darlegte (Konkret, 5/89), ist Habermas geradezu davon besessen, sämtliche gesellschaftlichen Erscheinungen in eine „dualistische Weltsicht“ einzuordnen: seine Hauptbegriffe sind dualistisch: Erkenntnis und Interesse, Arbeit und Interaktion, System und Lebenswelt. Dieses dualistische, polarisierende Denken ist weit verbreitet, darum kann sich Habermas trotz seiner nicht gerade ansprechenden Sprache so großer Resonanz sicher sein. II

In welcher Weise Horkheimers Gedanken zum „autoritären Staat“ von der antiautoritären Bewegung aufgegriffen und weiterentwickelt wurden, zeigte ein gemeinsames Referat von Hans-Jürgen Krahl (Frankfurt) und Rudi Dutschke (Berlin) zur 22.Delegiertenkonferenz des SDS Anfang September 1967 in Frankfurt. Diese gemeinsame Rede spielte verbandsintern eine große Rolle. Sie galt mehr als ein Jahrzehnt als verschollen und wurde erst 1980 anhand einer Tonbandaufzeichnung publiziert. Das Konzept der direkten Aktion, das auf dieser Delegiertenkonferenz gegen die sog. Traditionalisten des Vereins begründet wurde, versucht die Lehre aus Horkheimers Einsicht zu ziehen, daß die Revolution nicht von einer neuen proletarischen Massenpartei zu erwarten sei. Die Aktion, nach Habermas Kernstück der Scheinrevolution, sollte eingesetzt werden, um unmittelbar politische Aufklärung zu betreiben. Habermas dagegen setzte auf die Zusammenarbeit mit Gruppen „privilegierter Einflußchancen“ als der „allein gebotenen Strategie massenhafter Aufklärung“. In dem legendären Referat hieß es: „Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer in der Auseinandersetzung mit der staatlichen Exekutivgewalt, bilden die mobilisierenden Faktoren in der Verbreiterung der radikalen Opposition und ermöglichen tendenziell einen Bewußtseinsprozeß für agierende Minderheiten innerhalb der passiven und leidenden Massen, denen durch sichtbar irreguläre Aktionen die abstrakte Gewalt des Systems zur sinnlichen Gewißheit werden kann.“

Dieses reichlich umständlich formulierte Konzept besagt, daß die politische Aktion des Einzelnen durch theoretische Einsicht bestimmt sein soll. Stillschweigend bedeutete dieses Konzept der Aktion auch einen Abschied von den durch eine Parteizentrale bewirkten Aktionen. Das antiautoritäre Aktionskonzept ist etwas anderes als der viel kritisierte Aktionismus, die Aktion um der Aktion willen. Bloßer Aktionismus mündet allzu leicht in Randale, die hinterher politisch rationalisiert wird. Nur die durch Einsicht bestimmte Aktion vermag den Bewußtseinsprozeß zu fördern, der die Masse der Bevölkerung über die Art ihrer Manipuliertheit aufklärt. Habermas meinte nicht erst den Aktionismus, als er den verächtlichen Ausdruck von der „Taktik der Scheinrevolution“ erfand, sondern die antiautoritäre Aktion.

Dieses Aktionskonzept hat eine längere Vorgeschichte. Es stammt aus Kreisen der „Situationistischen Internationale“ Anfang der sechziger Jahre. Auch hier fanden sich Anhänger der Kritischen Theorie zusammen, die in Unverbindliche Richtlinien (1962) kritische Fragen an diese Theorie stellten, weil man sich „durch die ständige Proklamierung der Ausweglosigkeit der bestehenden Situation“ von der Notwendigkeit politischen Handelns freispreche. Programmatisch wurde dagegen gesetzt: „Kritik muß in Aktion umschlagen. Aktion entlarvt die Herrschaft der Unterdrückung.“ Als zwei dieser subversiven Aktionisten daran gingen, außerhalb von München neue Gruppen zu gründen, stießen in Berlin die aus der DDR stammenden Studenten Dutschke und Rabehl zu ihnen.

Noch einmal zurück zu den Thesen des Organisationsreferats, das ja die von Horkheimer aufgezeigten theoretischen Probleme der praktischen Lösung näherbringen sollte. „Die Agitation in der Aktion, die sinnliche Erfahrung der organisierten Einzelkämpfer“ sollen ein Bewußtsein über das Gewaltpotential und die Grenzen des Systems herstellen, das die Massen, die durch „systemkonforme Entschädigungen“ (Habermas) bei der Stange gehalten werden, aus ihrer Apathie reißt. Dieser Einzelkämpfer - er wurde in diesem Referat auch als „städtischer Guerrillero“ bezeichnet - denkt sich eine Aktion zusammen mit Gleichgesinnten aus, durch die ein empörender Tatbestand (Vietnamkrieg, Notstandsgesetze, Springer-Presse) so thematisiert wird, daß eine größere Öffentlichkeit daran interessiert wird. Aufklärung und Tat sind ein und dasselbe Geschehen; es geschieht nicht erst Aufklärung und dann die Tat. Dies würde zudem ein autoritäres Führer-Gefolgschaft-Modell voraussetzen, in dem der Führer/die Avantgarde sich erst etwas ausdenken, das dann die Massen ausführen. Solche Beziehungsmodelle lehnte die antiautoritäre Bewegung ab. Darum ihre Nähe zu anarchistischen Verhaltensweisen. Allerdings spielte der Anarchismus 1968 theoretisch keine Rolle; theoretisch maßgebend waren die Ideen Horkheimers, Adornos, Marcuses. Die Bindung an diese Theorie bedeutete die politische Stärke dieser Bewegung, und diese Stärke reichte so weit, wie die Theorie in den Köpfen einzelner Wurzeln geschlagen hatte, sie zu eigenem Denken und einer eigenen Sprache befähigte, die wirklich neue Aktionen und Projekte inspirierte. Das war freilich nur bei sehr wenigen der Fall. Aber diese wenigen waren in der Lage, eine Aufmerksamkeit zu erregen, die zeigte, wie wenig abwegig Horkheimers Hoffnung auf den „bewußten Willen der Individuen“ war. Auch heute hängt es von dieser Art Individuen ab, ob die Revolutionierung der Lebensverhältnisse zu einer menschlicheren Gesellschaft hin gelingen wird.

Mit den neuen Ideen setzten sich die Antiautoritären innerhalb des SDS durch und stellten den neuen Bundesvorstand mit den Brüdern Wolff als die ersten Vorsitzenden. Das Organisationsreferat macht ferner deutlich, daß der SDS sich als der Brennpunkt der neuen politischen Bewegung verstand, von dessen theoretischen Einsichten ihr Fortgang und ihr Erfolg abhing. Im Sinne Horkheimers wurde die gesellschaftliche Entwicklung als eine hin zum „integralen Etatismus“ gedeutet, durch dessen „gigantisches System von Manipulationen“ die Massen nicht mehr fähig seien, „sich zu empören und zu einer Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche“ zu finden (Dutschke, Geschichte ist machbar, Reinbek 1980, S.93). Darum sei die „Propaganda der Tat“ notwendig. Der „Organisator schlechthinniger Irregularität“ - dieses Begriffsungetüm stammte wahrscheinlich von Krahl, während der Ausdruck „städtischer Guerrillero“ wohl eher Dutschkes Redeweise war - hat nichts mit dem Guerillakonzept der späteren Rote Armee Fraktion (RAF) zu tun, die ja bis heute den bewaffneten Kampf gegen das System will. Der Sinn der „irregulären Aktion“ liegt gerade darin, den Kampf nicht mit regulären Mitteln zu führen; es heißt, den Kampf mit neuen Methoden, an neuen Fronten zu führen. Der bewaffnete Kampf, den die RAF propagiert, unterwarf sie zudem Lebensbedingungen, die sie „zu einer Angleichung gerade an die inhumansten Züge der von ihnen bekämpften Apparate“ zwang. Wahrscheinlich kamen die Happenings der Berliner KI (KommuneI, Langhans, Teufel, Kunzelmann) und geistesverwandter Aktionskünstler wie Hans Imhoff in Frankfurt den von Dutschke und Krahl gemeinten „städtischen Guerilleros“ als „Organisationen schlechthinniger Irregularität“ näher, um das apathische Bewußtsein der Massen anzusprechen, als die „Kader“ des traditionalistisch ausgerichteten SDS.

Hier klang eine neue Sprache an, die völlig frei von verkrustetem Linksintellektuellenjargon oder Revolutionsrhetorik war. Erinnert sei an Fritz Teufels Satz während einer Gerichtsverhandlung: „Wenn's der Wahrheitsfindung dient“, mit dem er die Aufforderung beantwortete, beim Erscheinen des Gerichts aufzustehen. Dieser eine Satz offenbarte mehr über die Fragwürdigkeit tradierter Autoritätsverhältnisse und entsprechender gesellschaftlicher Rituale als viele langatmigen Abhandlungen. Freilich war diese neue Sprache sehr ungewohnt; sie stieß auf Widerspruch und löste vor allem Mißverständnisse aus, weil die Wortspiele und Metaphern größtenteils wörtlich genommen wurden. Dabei sind die inneren Gründe des Scheiterns der KI, überhaupt des raschen Zusammenbruchs der antiautoritären Bewegung Ende 1968, noch nicht hinreichend geklärt.

Als Habermas diese Bewegung angriff, war sie im Entstehen und auf ihrem Höhepunkt, keineswegs im Niedergang. Gewiß war auch zu diesen Zeiten bereits das Moment ihres Scheiterns erkennbar. Eine sinnvolle Kritik an dieser politischen Bewegung hätte sich an deren eigener Selbstverständigung zu orientieren, anstatt sie an einer Meßlatte zu messen, in der die Verelendung und Empörung ausgebeuteter Arbeitermassen der unausgewiesene Maßstab ist. Mit den für die Studentenbewegung so wichtigen Horkheimer-Aufsätzen hat sich Habermas nie gründlich befaßt. III

Es ist eine ungeklärte Frage, warum die Differenzen zwischen „älterer“ und „jüngerer“ Frankfurter Schule nicht schon 1967/68 ausgetragen wurden. Einzig Krahl tat es; er war Habermas ein Greuel. War es so schwer, diese Differenzen zu erkennen? Oder teilten die damaligen Studenten - mehr als ihnen lieb sein konnte - viele der Überzeugungen von Habermas? Denn es bedarf keiner überragenden Intelligenz, diese Differenzen heute zu erkennen; sie waren auch schon vor 1968 vorhanden.

Vergleicht man heute die politischen Empfehlungen, die am Ende von Habermas‘ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) stehen, oder schaut sich die von ihm verfaßte Einleitung zu Student und Politik (1961) an, so findet man erstaunliche Übereinstimmungen mit dem Inhalt der Sechs Thesen zur Studentenbewegung. Dort hatte Habermas gesagt, „ohne Unterstützung durch Gruppen mit privilegierten Einflußchancen ist der Zugang zur breiten Öffentlichkeit, der von den Massenmedien kontrolliert wird, nicht zu gewinnen“. Also müsse der „Anschluß“ an diese Gruppen, vor allem aber die Gewerkschaften, gefunden werden, um „realistisch“ taktieren zu können.

In Strukturwandel der Öffentlichkeit hatte er den Rat gegeben, daß ein „Publikum organisierter Privatleute“ in die Massenorganisationen eintrete, denn „nur auf dem Wege der Teilnahme der Privatleute an einem über die organisationsinterne Öffentlichkeit geleiteten Prozeß“ könne funktionierende Demokratie hergestellt werden. Die Menschen werden aufgefordert, in den Apparaten freiwillig und unentgeltlich mitzuarbeiten, die auch zur ihrer Beherrschung und Manipulation da sind. In der Einleitung zu Student und Politik hatte er die Gewerkschaften als die „wichtigste der Massenorganisationen“ bezeichnet, weil nur sie „dem politischen Streik eine Legitimationsbasis“ verschaffen könnten. Neben den Gewerkschaften, heißt es dann weiter, „existiert freilich eine Reihe von Verbänden, die im Hinblick auf die politische Beteiligung ihrer Mitglieder ebenfalls wichtig sind für die demokratische Entwicklung unseres Staatswesens, so die Vertriebenenorganisationen, die Soldatenbünde, der Mammutverband der Kriegsgeschädigten und Hinterbliebenen (VdK) usw.“. Immerhin hatte er 1967/68 so viel Gespür, daß er den Proteststudenten nicht mehr die Demokratisierung von Soldatenbünden und Vertriebenenverbänden empfahl. Demokratisierungsanstöße sollen sich jetzt konzentrieren auf: Kirchen und Kulturbetrieb, Justiz und Presse, Mitbestimmungspolitik und Gewerkschaften, ja sogar die innere Struktur der Parteien.

Habermas‘ politische Botschaft heißt: mitmachen, unter gegebenen Bedingungen. Nur das sei realistisch. Früh erscheint auch schon das Stichwort, das nach der Studentenbewegung sein zentrales politisches Thema wurde: Legitimationsprobleme. Die Gewerkschaften sind wichtig, weil sie eine „Legitimationsbasis“ für Streiks verschaffen können. Die Ziele bleiben vage oder gleichgültig. Habermas sah ähnlich wie Horkheimer ein neues Verhältnis zwischen Staat und Ökonomie, das heißt eine außerordentliche Zunahme staatlicher Interventionen im wirtschaftlichen Bereich. Die „sozialintegrativen Funktionen der Aufrechterhaltung legitimer Herrschaft“ können heute im Gegensatz zum Liberalismus „nicht mehr über die systemintegrativen Funktionen des Marktes und die abgelebten Traditionsbestände vorkapitalistischer Herkunft erfüllt“ werden, sondern sie gehen „wiederum auf das politische System“ über. Auf Horkheimers Thesen zum autoritären Staat wird in diesem Buch über die Probleme des Spätkapitalismus allerdings nicht verwiesen. Sie würden auch nur stören. Denn Horkheimer versuchte Herrschaft zu denunzieren; Habermas will sie legitimieren.

Habermas‘ Arbeit über Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973) ist angeregt durch eine Aufsatzsammlung seines Schülers Claus Offe über Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. Von Offe stammt die Vorstellung, daß die staatliche Verwaltung immer wieder vor dem Problem stehe, „durch ihr eigenes Handeln Konflikte zu prvozieren, die ihre weitere Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Ihr Ziel müsse deshalb sein, sich das Ausmaß an öffentlicher Unterstützung und Hinnahmebereitschaft zu verschaffen, das sie als operationale Ressource benötigt - und zwar um so mehr, je weiter ihr Interventionsradius ist“. So werden nicht allein die „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“ begründet, sondern zugleich auch gute Ratschläge angedient. Man muß sehen, daß die „Hinnahmebereitschaft“ der Bevölkerung gegenüber Verwaltungsmaßnahmen als „operationale Ressource“ erhalten bleibt. Keine leichte Aufgabe, nachdem die 68er Bewegung gezeigt hatte, was doch noch an spontanem Aktionspotential in dieser Bevölkerung steckte und daß vielleicht noch weitere Studentenbewegungen folgen könnten.

Es geht bei Habermas nicht länger darum, dem Staat gegenüber wachsam zu sein, weil die gesellschaftliche, ökonomische und psychologische Tendenz seine Entwicklung zum „integralen Etatismus“ begünstige, sondern darum, für diesen Staat zu erkennen, wo ihm „fehlender Legitimationsbedarf“ durch rasche „Konsensbeschaffung“ ausgeglichen werden kann. Da der Mensch beziehungsweise seine „Persönlichkeitsstrukturen“ ohne „identitätsverbürgende Deutungssysteme nicht auskommen, ist es nicht möglich, daß „Konformitätsbereitschaft in beliebigem Umfang hergestellt“ wird. Das macht die „Beschaffung generalisierter Zustimmungsbereitschaft“ in politischen Zusammenhängen so schwierig. Die größte Gefahr für das Bestehen des Spätkapitalismus sieht Habermas darin, daß die „immer knapper werdende Ressource 'Sinn'“ einmal für dessen „Legitimationsbedarf“ nicht ausreichen könnte.

Deswegen, so die Habermassche Wendung von Kritischer Theorie, müsse die „Lebenswelt“, der Hort jener so wichtigen „Ressource“, gegenüber dem „System“ verteidigt werden, denn sonst kommt den Menschen der letzte Rest von „kommunikativem Handeln“ abhanden.

Die Gefahr für die Menschen liegt nach Habermas nicht bei Herrschaftsverhältnissen als solchen, sondern nur bei Herrschaft, die nicht mehr über eine ausreichende Legitimationsbasis verfügt. Nur wer die Legitimierung von Herrschaft, nicht aber ihre Beseitigung im Sinne hat, kann sich so viele Gedanken über „Konsensbeschaffung“, „Sicherung von Massenloyalität“, „Beschaffung generalisierter Zustimmungsbereitschaft“, „Bereitschaft zur Konformität“, „motivloses Akzeptieren von Entscheidungen“ als Sache „vorwurfsloser Routine“ etc. machen wie Habermas.

Die derart in ihr Gegenteil verwandelte Kritische Theorie hat jetzt die Aufgabe, eine „philosophische Ethik“ zu entwickeln. Diese sei „heute nur noch zu haben, wenn es gelingt, allgemeine kommunikative Voraussetzungen und Verfahren der Rechtfertigung von Normen und Werten nachzukonstruieren“. Kritische Theorie als Rechtfertigungsunternehmen: Das war nun gar nicht Horkheimers Programm, als er 1937 als das Wesentliche der kritischen gegenüber traditioneller Theorie ein Verhalten beschrieb, das „die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten“, selbst in Frage stellt. Aber für Habermas sind solche Vorstellungen ohnehin nur noch „geschichtsphilosophischer Ballast“, den man möglichst schnell über Bord zu werfen hat. Es sei heute „dringend notwendig“, Horkheimers Theorie, die auch Adorno teilte, von „polemisch-politischem Schutt zu befreien“, und das gehe nicht ohne „Preisgabe überholter theoretischer Inhalte“.

Diese politische Kritik an Habermas reißt mehr Fragen an, als sie beantworten kann. Die nächstliegende ist: Warum fällt es den meisten so schwer, Offenkundiges wahrzunehmen und zu benennen? Am verwirrendsten für mich aber ist die Frage: Warum schweigen Horkheimer und vor allem Adorno, ja selbst Marcuse zu der „Weiterentwicklung“ der Kritischen Theorie durch Habermas? Es gibt einen Brief von Horkheimer an Adorno vom 27.September 1958, in dem er sich äußerst kritisch über Habermas äußert, jedoch zu sehr merkwürdigen Schlußfolgerungen kommt. Dieser noch unveröffentlichte Brief enthält eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Marxschen Revolutionsbegriff. Es gab also Wahrnehmung von Differenzen, die jedoch nicht öffentlich gemacht werden sollten. Irgend etwas in den Formen des Umgangs der Institutsmitglieder hat das verhindert. Die weitere Entwicklung Kritischer Theorie wird sich darum auch der Analyse dieser Formen zuwenden, scheint doch in diese jener „Schleier“ eingewoben, von dem Adorno so häufig sprach, der das bewußte Erkennen der gesellschaftlichen Zustände verhindere.

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