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Mezzogiorno: Mozzarella, Mafia, mysteriöse Milliardengräber...

Italiens Nord-Süd-Gefälle wird immer dramatischer / Wo versickern die Milliarden Südhilfe? / Kapitalzirkulation steigt gewaltig, ohne daß die Bevölkerung etwas davon hat: Steckt die Mafia dahinter? / Händler aus dem Norden wollen Gefälle zementieren / Niedriglohnbezieher subventionieren Kapital im Norden  ■  Aus Salerno Werner Raith

Professor De Santis brummte, als er vom täglichen Zickzack um die Löcher in der Straße hinab zum Strand von Agropoli bei Salerno zurückkommt. Ich frage mich, was die mit unseren Milliarden eigentlich machen: Bürgersteige fehlen, Wege sind nicht instandgesetzt, die Straßenbeleuchtung kaputt, Abwässerkanäle haben sie auch keine...

Daß die beschworenen Liremilliarden (1 Milliarde 1,35 Millionen DM) irgendwo sein müssen, weiß Professor De Santis als aufmerksamer Leser von 'La Repubblica/Affari e finanze‘ aus dem neuesten Bericht des Haushaltsministers. Der macht geltend, in den letzten Jahren mehr als 50.000 Milliarden Lire in den „Mezzogiorno“, die Gegend zwischen Neapel und Palermo, geschickt zu haben; dazu hat auch noch die EG mehrere Dollar-Milliarden Aufbau- und Umstrukturierungshilfen ausgeschüttet. Doch wo sind sie hinversickert?

Chefkellner Raffaele, vor kurzem zugewandert vom einst durch Hemingway berühmten Acciaroli (wo der wackelige Tonio noch immer behauptet, Modell für den Alten Mann und das Meer gestanden zu haben) weiß auch keine so rechte Antwort. Allerdings kann er, Sprößling einer Gastwirtsfamilie, einiges miteinander vergleichen: „Sehen Sie, in Acciaroli habe ich im Monat knapp 850.000 Lire verdient. Hier, dreißig Kilometer nördlich, kriege ich immerhin eine Million.“ Sein Vetter Giacomo, der „schlau war und vor zwanzig Jahren nach Mailand gegangen ist“, bekommt in einer kleinen Klitsche 1,3 Millionen. Doch selbst in Acciaroli habe er sich noch privilegiert gefühlt - ein Onkel im kalabresischen Castelvetere muß mit kaum einer halben Million auskommen, „und wie der sich dabei schindet!“

Die berühmte „Schere“ zwischen dem Norden und dem Süden klafft, so eine eben veröffentlichte Erhebung des Bando di Santo Spirito und des Nationalen Sozialwissenschaftlichen Instituts CENSIS, immer weiter auseinander - „es ist schon fast keine Schere mehr, sondern wird immer mehr zu Spagat“, wie CENSIS-Direktor Giuseppe De Rita seine Zahlen kommentiert: „Dabei stellen wir im Süden eine deutliche Zunahme der Kapitalzirkulation fest - doch die drückt sich nirgendwo in Form wirtschaftlicher Entwicklung aus.“ Die Ortschaft mit dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen ist Nardodipace, 2.300 Einwohner, in 1.000 Meter Höhe in Ostkalabrien: umgerechnet 4.400 Mark verdient da der Durchschnittseinwohner pro Jahr nur; in Portofino, Provinz Genua, 800 Einwohner, trägt jeder statt dessen durchschnittlich das Zehnfache nach Hause, an die 45.000 Mark pro Jahr. Von den vier Millionen Einwohnern der Region Emilia-Romagna (um Bologna), einst die Gegend der härtesten Arbeiterkämpfe, verdient jeder heute durchschnittlich 24.000 Mark pro Jahr - in der Basilicata, südöstlich von Neapel, nicht einmal 7.000 Mark.

Daß im Süden des Landes, trotz der Armut, dennoch viel Geld zirkuliert - eine Erkenntnis, die die Bando di Santo Spirito über ihre Filialen gewonnen hat -, führen die Experten darauf zurück, daß die großen Mafia-Familien Siziliens und Unteritaliens dabei sind, sich neben ihren Untergrundgeschäften mit Drogen, Waffen, Erpressungen und Entführungen auch solide „zweite“ Standbeine im legalen Bereich zuzulegen, speziell im Tourismussektor und in der High-Tech-Branche. Doch der italienische Süden ist vor allem aufgrund des wenig ausgebauten und schlecht instandgehaltenen Verkehrsnetzes und mangelnder infrastrukturellen Einrichtungen derzeit noch weder für den Fremdenverkehr hinreichend entwickelt, um hohe Einnahmen zu erzielen, noch lockt er im High-Tech-Bereich namhafte Firmen an. So beschränken sich die meisten mafiosen Anlagen bisher auf Spekulationsgeschäfte - die Clans kaufen lange Strandzonen oder ganze Pinienwälder auf, Terrains für mögliche Unternehmenskonglomerate oder nahe neue Flughäfen. Solche Investitionen schaffen kaum einen Arbeitsplatz und verbessern daher weder die Beschäftigungslage noch das Einkommen der Normalbürger: Die Arbeitslosenquote liegt im Süden bei 20, im Norden dagegen weit unter acht Prozent.

Dabei sind die Prognosen noch für lange Zeit eher düster: Da die Gegenden allenfalls als „Billigzonen“ für Touristen und Unternehmen attraktiv werden, liegt den Spekulanten derzeit alles daran, den bestehenden Zustand zu zementieren oder gar weiter zu verschlechtern. Das wirkt sich auf den Kleinhandel und das örtliche Handwerk aus. Franco di Lascio zum Beispiel, der nahe den berühmten Tempeln von Paestum mit einer Mannschaft aus sechs Verwandten und Nachbarn tagtäglich in Handarbeit an die 50 Zentner Büffelkäse („Mozzarella“) formt, muß das Kilo hier um 8.000 Lire verkaufen - obwohl römische Großhändler auch 10.000, Mailänder sogar 12.000 Lire bezahlen würden. Doch als er erhöhen wollte, bekam er sofort düstere Drohungen der Provinzgewaltigen: Die Zone hat, bis mal genug Touristen hier ihr Stammquartier beziehen, als Billigzone zu gelten, basta. „Freie Marktwirtschaft“, knurrt Franco, „daß ich nicht lache.“ Derzeit hofft die Familie auf die Beseitigung der EG-Binnengrenzen - dann will der Familienpatriarch, da mit einer Deutschland-Heimkehrerin liiert, seine Firma nach Singen „ausdehnen“ und dort „direkt herstellen und verkaufen“. Eine Idee, die freilich schon andere haben speziell zwei seiner Brüder, die den Käse bereits heute industriell herstellen, die gesamte Region Campania (mit Neapel als Zentrum) und auch Rom beliefern, dabei tagtäglich gut und gerne auf 200 bis 300 Zentner Absatz kommen; mit einigen Großmarktketten in Baden-Württemberg sind sie, für 1993, schon einig.

Einige Kilometer weiter, in Battipaglia, betrachtet ein anderer Mittelständler die Sache mit der „Schere“ ähnlich verärgert wie der Käse-Padroni aus Paestum, allerdings, im Unterschied zu den Mozzarella-Herstellern, sieht er „noch schwärzer, wenn die EG-Grenzen weg sind“: Renzo Braggio, Pferdezüchter, der für die in Italien derzeit boomende Freizeitreiterei, aber auch für die Großen des Sports hochrassige Tiere züchtet: „Die kommen alle aus dem Norden, einschließlich unsere Cracks wie D'Inzeo und Mancinelli, finden die Tiere großartig - aber weil der Stall hier im Süden ist, wollen sie nicht mal halb so viel zahlen wie die wert sind.“ Versuche eines Kollegen aus der Gegend, seine Haflinger-ähnlichen Avellineser-Pferde in einer eigenen Dependence bei Mailand zu verkaufen, sind „an der dortigen Händler-Mafia gescheitert, die uns einfach boykottiert haben“ - die Schere soll - auch der Norden will das - offen bleiben: Die Händler kommen lieber direkt in den „Mezzogiorno“, transportieren die wertvollsten Tiere zu Niedrigstpreisen ab und verkaufen sie innerhalb weniger Tage ums Dreifache in Turin oder Verona weiter.

Der einzige Trost bisher: Sobald die Tiere als Turnierpferde gemeldet sind, wird jeder Sieg registriert, und der Züchter erhält einen Anteil am Siegespreis - „doch genau das hat uns nun die EG-Kommission gestrichen. Wenn Pferde ins Ausland kommen, gibt es sowieso keine Prämienanteile, und die Sondervergütung nationaler Züchtungen wird auch verboten. Scheiß Europa.“

Professor De Santis, der Sommerfrischler aus dem Norden, ist mit alledem freilich nicht zufrieden: „Wo sind unsere Milliarden hingekommen?“ fragt er hartnäckig weiter. Da reißt dem sonst so sanften Oberkellner Raffaele die Geduld. Unwirsch bindet er sich die Krawatte ab, wirft sie neben die zusammengeräumten Teller mit den Eßabfällen. „Ich weiß, man soll einen Gast nicht angreifen. Aber, verehrter Herr Professor, wir wollen mal was klarstellen: Die Milliarden Lire, die uns die Regierung und die EG geschickt haben, sind sicher in den Händen der Mafia und der Camorra gelandet, viel auch durch die Unfähigkeit unserer lokalen und regionalen Politiker verlorengegangen. Aber seid nur ihr aus dem Norden still: Als vor zehn, fünfzehn Jahren eure Supermanager von Fiat und Olivetti durch eine total verfehlte Marketing- und Typenpolitik realiter Bankrott gemacht haben, da waren es unsere Arbeiter aus dem Süden, die für Hungerlöhne die Produktion aufrechterhalten haben, da waren es unsere Steuergelder, die die Regierung euren Typen dort in den Arsch gesteckt haben, damit die Firmen weiterbestehen. Keiner von uns hat da gefragt, wo unsere Milliarden geblieben sind, und an Rückzahlung denkt von den Agnellis und De Benedittis auch keiner, obwohl jeder von denen heute am Tag mehr Profit macht als eine ganze Provinz hier im Süden zusammen in einer ganzen Woche verdient.“

Nicht sicher, ob sich der Professor De Santis von dem Ausbruch hat überzeugen lassen. Nach „unseren Milliarden“ hat er, immerhin, die Tage darauf nicht mehr gefragt.

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