: Forschung für den Mülleimer
■ Uni-Forschungsprojekt „Spätaufklärung“ kurz vor dem Abschluß finanziell am Ende
Seit über zehn Jahren wird an der Bremer Universität die bürgerliche „Moderne“ in Deutschland erforscht. Was hat die französische Revolution von 1789 in der Kultur, der Literatur, der Politik und im Alltagsbewußtsein jenseits des Rheins bewirkt. „Spätaufklärung“ heißt das Forschungsprojekt, in dem zum Beispiel die Entstehung des „politischen Romans“ in Deutschland oder die typische Reiseliteratur um die Wende zum 19. Jahrhundert herum untersucht wurde. Als vorletzte Abteilung mußte jetzt die Erforschung der „Reiseliteratur“ beendet werden, weil sich zur Verlängerung der befristeten Stelle des einzigen wissenschaftlichen Mitarbeiters beim Senator für Bildung, Wissenschaft und Kunst keine Finanzierung mehr finden ließ. Zwar läuft das Forschungsprojekt offiziell noch bis zum 31.12.1990 weiter, doch wissenschaftliche Arbeit kann nur noch zum Thema „Frauenliteratur“ geleistet werden - mit einer aus dem Schuldienst an die Uni versetzten Lehrerin und einer ABM-Kraft.
Die Gelder würden für neue Forschungsprojekte benötigt, hieß es in den bedauernden Antworten der Uni-Leitung, des Fachbereichs Germanistik und der senatorischen Behörde auf die Bitte nach einer Verlängerung der Arbeit an der „Spätaufklärung“. Doch mit dem Auslaufen der wissenschaftlichen Stellen geht jetzt auch das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit verloren. Eine umfassende Bibliographie mit 8.000 Titeln der Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, mit der monatlich rund zehn Anfragen aus ganz Europa befriedigt werden konnten, existiert nur noch als Magnetband im Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte und als Computerausdruck in einem privaten Schreibtisch. Benutzt werden können die in jahrelanger Recherche zusammengetragenen Daten jedoch nicht mehr, denn mit dem Ausscheiden des letzten hauptamtlichen Mitarbeiters des Projekts wurde im Rechenzentrum der Uni das Programm gelöscht, mit dem die Daten abrufbar waren.
Wer zuvor zum Beispiel wissen wollte, wo im 18. Jahrhundert die Route der Postkutschen zwischen Frankfurt und Leipzig entlangführte, wurde aus der Bremer Bibliographie mit 40 Buchtiteln bedient, in denen Zeitzeugnisse der gesamten oder eines Teils der Route zu finden waren. Doch ohne das entsprechende EDV-Programm sind die Daten wertlos geworden. Zur Publikation waren sie noch nicht geeignet. Schließlich war die Bibliographie noch nicht abgeschlossen und erst die knappe Hälfte der aufgeführten Bücher war tatsächlich auf ihren Inhalt überprüft worden.
Ebenso ist jetzt auch die spezielle Sammlung mit Reiseliteratur wieder im Archiv und den Regalen der Uni -Bibliothek verschwunden. Mit dem Ablauf der Stelle des wissenschaftlichen Mitarbeiters mußten die 1.500 Bände, die jahrelang übersichtlich in einem gesonderten Regal standen, wieder in den allgemeinen Bibliotheks-Bestand zurückgegeben werden.
Erst im Januar hatte Senator Franke bei der Verleihung des Bremer Literaturpreises den Forschungsschwerpunkt „Spätaufklärung“ stolz gelobt. Doch ohne Personal existiert er nur auf dem Papier. Zehn Jahre Forschung wandern jetzt in den Mülleimer.
Ase
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