: TRIEBENTMISCHT BESCHISSEN
■ Herzlich willkommen beim American Circus
„Der letzte Applaus ist verklungen, die Scheinwerfer sind erloschen, & das große Zelt ist in Ruhe versunken. Aber ein Echo des Lachens & der Lebensfreude hallt immer noch nach. Denn der Circus lebt vom Miterleben. & solange es Menschen gibt, die bereit sind, sich von dieser bunten Welt verzaubern zu lassen, werden die Scheinwerfer immer wieder aufleuchten & das Circusrund zu neuem Leben erwecken“ (Programmtext und letzte Worte des Moderators).
So schlicht & poetisch! So wahr! Ich entsinne mich meiner Verzauberung anläßlich der bunten Welt Berlin-Kreuzberg am 1.Mai, der aufleuchtenden Scheinwerfer, des lebensfrohen Treibens. & auch ein Echo des Lachens vom Deutsch -Amerikanischen Volksfest hallt noch in mir nach. Nicht zu vergessen jene schöne Stunden, die in lauer Sommernacht während der postindustriellen „Mad Max„-Woodstock-Party der „Mutoid Waste Company“ verstrichen.
„The show out of this world“ knallt es von den Plakaten, die wie Algen die Adria - die Stadt überziehen; der „American Circus“ ist da! Indianer, in Leder, Federn & angespanntes Gesicht gekleidet, zielen mit Pfeil & Bogen auf vorübergehende Passanten. Gutgebaute, ungezähmte Männer & muskulöse, wilde Tiere, schöne Frauen halten Bestien; abgesehen von der begeisterungswürdigen Obszönität dieses Archetypen: „For once, I feel normal. Like millions of others, I, too, love this kind of stuff“ (John Waters).
Erregungen
„Das Plakat hatte etwas Hektisches, etwas angemessen Gewagtes, Stürmisches, dieses lächerliche Bild einer jungen Frau, die wie eine Rakete, huiiii! in einer Explosion erregten Sägemehls zu einem unsichtbaren Trapez hinaufschoß, irgendwo hoch in den hölzernen Himmeln des Cirque d'Hiver. Der Künstler hatte sich für eine Konterfeiung des Aufstiegs von hinten entschieden - Bäckchen in die Höh, sozusagen...“ (Angela Carter). (Über diese Perspektive wird noch zu sprechen sein - d.A.)
„Aber erregend wie diese Mitteilungen auch sein mögen, ein ungehinderter Zustrom in die Arena ist nicht möglich. Die Zahl der Plätze, die sie faßt, ist beschränkt. Ihrer Dichte ist ein Ziel gesetzt. (...) Ihr Beisammensein in großer Zahl ist für eine bestimmte Zeit gesichert, ihre Erregung ist ihnen versprochen worden...“ (Elias Canetti)
„Scheinwerfer tauchen die Pappmache-Mauern in rotes Licht. Die Boys schminken sich Flecken & Geschwüre auf Gesicht & Körper. Juanito, der Zeremonienmeister, klebt sich einen roten Fleischwulst aus Gummi um den Nabel.
'Du siehst aus wie die Venus von Milo mit 'ner Uhr im Bauch, Süßer.‘
Die Boys stelzen mit einem Ausdruck idiotischer Geilheit herum. Die Zuschauer wälzen sich vor Lachen am Boden. Einer wird blau im Gesicht“ (W.S.Burroughs).
„Wege in eine neue Zirkuszukunft!“ (Berliner Abendschau)
Die Cheerleaders kreischen
Immer schon faszinierend, wie solche Massenveranstaltungen die unterschiedlichsten Kleidungsträger aus ihren sozialen Nischen locken; vorbei strömt es am schicken CVJM-Heim, vorbei am „Auto-Imbiß„; die vierköpfige Premieren-Familie in Nadelstreifen & Sommerkleid (pink), die fröhlichen Hau-drauf -prolls aus dem Märkischen Viertel, bornierte Yuppie -Darsteller entsteigen Golf-GTIs, stämmige Neuköllnerinnen mit jahrelanger ALDI-Erfahrung - verteidigen mit grimmigen Blicken Familie & Platz in der Schlange am Kartenschalter.
Ihre Zahl muß groß sein, denn eine Ansage in echtem Zirkus -Patois verkündet: „Ausverkauft!“ 6.000 faßt die Arena, & wir berauschen uns an der Menge um uns herum. Wir sehen Münder, die Popcorn, Wurst, Schokonüsse verschlingen, sehen das Fernsehen, die Logen am Rand der Manege. & ja, einen Käfig darin. Noch bevor die Show beginnt, erfahre ich, daß ich nicht das volle Abenteuer gekauft habe: Die letzten Sitzreihen haben lockere Rückenlehnen, & einer sei schon abgestürzt.
Einige gelangweilte Löwen & Tiger schleichen heran. Wie durch Zufall liegt ein Luftballon im Käfig, die Tiere spielen damit, bis er - zur Freude des juchzenden Publikums
-platzt. Die Musik wummert, & - „sensationell!“ - Jürg Jenny betritt den Raubtierkäfig. Was er da so mit den Tierchen treibt, macht mich stutzig: Sie hüpfen hin & her, auch mal durch einen Feuerreifen oder übereinander; aber das haben wir doch schon alle besser im Fernsehen gesehen. Nachbarn sagen: „Det is ne Schwuchtel!“ Ich denke, der ist besessen von Zoophilie. Eine Löwin legt ihre Pranken auf seine Schultern & leckt ihm das Gesicht. Abschließend macht ein schwarzer Panther das nochmals. Die Abendschau nennt das „spielerisch“ & „ohne Zwang“.
Zwanglos auch der Übergang zur „rot-weiß-blauen Parade aus 'Far West'“. „Einfallsreiche, drollige Clowns“ essen eine Kerze, dann brennt ihnen im Hinterteil eine Glühbirne. Egal, Kreischen hinter dem Vorhang, & adrette Cheerleaders marschieren ein. Sie tragen rote Kostüme & Begleiterin fragt mich, ob die Trikots früher auch schon ähnlich knapp geschnitten waren, daß man so mit dem Arsch wackeln kann. Nun geht plötzlich alles sehr flott, ich kann mir nur noch „anal“ merken, dann kommen ein paar rote Männer mit nackten Oberkörpern, & hinter mir fragen die Jungens ihre Mädchen, ob sie auf so Muskeln stehen würden. Dann kommen weiße Männer, die tragen Hemden. Jetzt ist die Manege schon recht voll. Die Cheerleaders kreischen & grinsen, Männer springen & machen „Hu!“ (manche auch „Ha!“), eine Kutsche fährt im Kreis herum - „Postkutsche! Indianerüberfall!“ assoziiere ich, tut sich aber nix -, immer mehr Leute da unten, zu Fuß & zu Pferde, es rumpelt eine kleine Eisenbahn vorbei (Stunden später wird mir klar, „Klar! Wilder Westen! Eisenbahn!“), & schließlich zieht man noch eine Squaw auf einer Art indischem King-Kong-Thron durchs Zirkusrund. Die Cheerleaders kreischen noch immer, das Publikum ist begeistert, „That's America“. Gelegentlich stürmt ein Kontingent raus, statt dessen erscheinen Lasso-Werfer (wenn 50 Leute Seilchen schwingen, wem fällt es auf, daß sich bei zehn das Lasso locker ums Bein legt?) oder Feuerschlucker (lächerlich!) ... das Ganze erscheint wie eine drittklassige kostümierte Gymnastikgruppe.
Es erklingt „Old McDonald“, & der Berliner zeigt sich rhythmisch begabt, haut die Patschhändchen aufeinander, daß es eine Pracht ist. Die Clowns führen nun mit originalamerikanischen Siedlertieren, einer „fröhlichen Gruppe von Kühen, Ziegen, Schweinen & Gänsen“, artistische Kleinkunst vor. Merkwürdig, daß diese unscheinbaren Wesen ganz offensichtlich mehr beherrschen als die autowerbewirksamen, vitalen & aggressiven Raubtiere. Die Kühe sind stabil, die Gänse entziehen sich - einer anarchistischen Horde gleich - ihrer Kür, & die Schweine sind offen & ehrlich korrupt: Sie tun alles, wenn es was zu fressen gibt.
Dagegen dann anschließend „herrliche Palominos, Anglo -Araber & Appaloosas“, Pferde eben, „in drei Manegen“. Das mit den Manegen, das ist nicht so wie in den großen US -Zirkusfilmen, wo in drei riesigen Manegen gleichzeitig verschiedene Darbietungen geboten werden. Der „National American Circus“ weist im Grunde nur eine einzige ovale Arena auf, die dann - geschickt - mit kleinen, bemalten Holzklötzchen aufgeteilt werden kann. Da laufen also statt in einem großen Kreis die Pferde in drei kleinen. Ich habe nie begriffen, was dieses demütigende „Im-Kreis-Gehen“ so Schönes hat. Ich habe auch nie begriffen, was zweibeinige Säugetiere daran finden, wenn sich ihre vierbeinigen Verwandten auf die Hinterbeine stellen & freakshowartig „Männchen“ machen. Das bringt Applaus, jede Menge, & auch ein Zuckerstückchen. Doch werden diese Pferde berühmt? Können sie wie „unsere“ Fußballer ein Buch schreiben? Noch mehr Geld machen, wenn sie sich einen Markennamen ins Fell brennen? „Shocking! Jupiter wurde vor seinem 2-Minuten -aufrecht-Gang von Dresseur Flavio Togni gedopt!“ (Vielleicht sollten hier auch jene Artisten unter den Zweibeinern Erwähnung finden, die den „aufrechten Gang“ im philosophischen, politischen, medialen Zirkus trainieren. Applaus!)
Flavio Togni „präsentiert“ auch „die Krönung der Tierdressur“: Pferde & Elefanten, „gleichzeitig harmonisch & spielerisch“ (Abendschau) vereint. Gibt es überzeugendere Argumente als die der „Betroffenen“? - eine Elefantenkuh scheißt die Manege zu.
Plötzlich & infantil
„Der Sturm hat mich einfach weggeblasen“, sagte Pennywise, der tanzende Clown. „Er hat den ganzen Zirkus weggeblasen. Kannst du den Zirkus riechen, Georgie?„
George beugte sich etwas vor. Ein Geruch nach Erdnüssen, heißen gerösteten Erdnüssen, stieg ihm in die Nase - & nach Essig von der weißen Sorte, wie man ihn durch ein Loch im Deckel über die Pommes Frites gießt. Er nahm den Duft von Zuckerwatte & den schwachen, aber durchdringenden Gestank vom Kot wilder Tiere wahr.
„Ja“, sagte er. „Ich kann ihn riechen.“
„Willst du einen Ballon?“ flüsterte Pennywise. Er trug ein bauschiges Seidenkostüm mit großen dicken orangefarbenen Knöpfen & große weiße weite Handschuhe. „Ich habe rote & grüne & gelbe & blaue...“
„Fliegen sie?“
„Fliegen, oh ja, sie fliegen, sie schweben..., & es gibt Zuckerwatte...“
Georgie streckte seinen Arm aus.
Der Clown packte ihn am Arm.
& George sah, wie das Gesicht des Clowns sich veränderte.
Was er sah, war so fürchterlich, daß seine schlimmsten Phantasievorstellungen von dem Wesen im Keller dagegen nur süße Träume waren; was er sah, brachte ihn schlagartig um den Verstand (Stephen King).
„Denn gleich hinter der Maske beginnt das Geheimnis. In den strengen, voll ausgebildeten Fällen, von denen hier die Rede ist, also dort, wo die Maske ernstgenommen wird, darf man nicht wissen, was sich hinter ihr befindet. Sie drückt viel aus, aber sie verbirgt noch mehr. Sie ist eine Trennung: Mit einem gefährlichen Gehalt geladen, den man nicht kennen darf, zu dem eine Beziehung der Vertrautheit nicht möglich ist, kommt sie sehr nahe an einen heran; aber sie bleibt, in eben dieser Nähe, scharf von einem abgesondert. Sie droht mit ihrem Geheimnis, das sich hinter ihr staut“ (Elias Canetti).
Alle Schausteller spielen mit Verwandlung & Verstellung. Es gab ja eine Tradition der Verwandlungskünstler. Doch vor allem auf den Clown trifft Canettis Zitat zu; seine Maske ist stilisiert. Man meint, mit ihr umgehen zu können. Doch trifft ebenfalls auf ihn zu, was Canetti über den Zwiespalt der Maske aufdeckt & weswegen er sie der Macht zuordnet. Nee, ich meine nicht den „traurigen Clown“, der die Leute zum Lachen bringt.
Ich denke an eine Tradition darstellender Kunst, in der sich hinter Masken Götter & Dämonen verbergen. Oder an den phallischen Harlekin, an Zippy, die Lust an zerstörerischen Kräften haben. Ich denke nicht an die sozialarbeiterhafte Besetzung des Begriffs „Narrenfreiheit„; der Narr, der im Schutz seiner eigenen Maske seinem Herrn die (soziale) Wahrheit sagt. Gähn. „Schadenfreude“ - das spielt mit rein, der Spaß beim Pech des anderen, die „Freak-Show“ (auch 'ne Zirkustradition). Also das Böse. Pan. Ihn zeichnet aus, was auch dem anderen Spaßmacher der Antike, Hermes, zu eigen ist: Überraschung, Plötzlichkeit.
Plötzlichkeit verbindet ebenfalls Kings „echten“ Clown Pennywise mit denen des „American Circus“. Wie er tragen sie weiße Handschuhe, weiße Gesichter & rote Nasen (diesen Rest -Phallus), & wie er agieren sie plötzlich.
Kurz: „Das Dämonische ist das Plötzliche“ (Kierkegaard).
„Kierkegaard schlug für den Teufel auf der Bühne eine spezielle, wortlos mimische Darstellungsform vor: 'Nicht das entsetzliche Wort, das aus dem Abgrund der Bosheit heraufdringt, vermag eine Wirkung hervorzubringen wie die Plötzlichkeit des Sprunges...‘ Der 'Schicksalsanalyse‘ (Szondi) zeigt Satans 'Sprung‘, daß 'wir in einer weitgehend triebentmischten Welt leben‘. 'Triebentmischung‘ heißt bei Szondi aber auch Regression ins Infantile & Primitive„ (Josef Dvorak).
Dieser kleine Schlenker von Stephen King über Elias Canetti zum dämonischen Wesen des Clowns & schließlich zur Regression ins Infantile macht vielleicht das Folgende etwas klarer, das mir wie ein Zeichen für den „American Circus“ schien & bei den Clowns am deutlichsten wurde: das Anale. Angefangen bei der Glühbirne im Arsch über das Wasser, das daraus im hohen Bogen spritzte, zu dem Rauch, der dicht dem Hinterteil entströmte. Die Betonung des Gesäßes bei den Kostümen. & schließlich die scheißende Elefantenkuh. Das ging mir in der Pause so durch den Kopf. Ja ja, anale Phase, sicher, das bedeutet Regression ins Infantile. Deswegen bin ich ja im Zirkus; strahlende Kinderaugen zu bekommen, über blöde Witze zu lachen. Es gibt das noch in diesem Zusammenhang zwischen Analfixierung & Geld. & was erblickte ich denn nun in der Pause? Schon während der Vorstellung liefen Leute mit Bauchläden rum, brachten Popcorn, Würstchen, Cola, Bier, Amerikafähnchen unters Volk. Jetzt belagerte das Publikum die grell leuchtende „Snackbar“, zur Erinnerung & Information gab's das Programm zu kaufen, zwischen den Vorstellungen soll man die Tierschau sehen - & die Scheißhäuser sind besetzt. Kapitalzirkulation. Der ganze Zirkus nur Nebeneffekt eines Geldstoffwechsels, der wie jede Kulturveranstaltung das Publikum zuscheißt. Sozusagen. Ging mir durch den Kopf.
„slow killing“
Obwohl die Clowns bei all ihrer Dämlichkeit doch einen der schönsten Programmpunkte lieferten. Zwei von ihnen stellen eine Filmhandlung dar, die schnell erzählt ist. Sie begegnen sich, einer von ihnen trägt eine Tasche, der andere entreißt sie ihm. Der Beraubte dreht sich um, will den Dieb schlagen. Dieser zückt ein Messer & sticht zu. Das Opfer fällt zu Boden, zieht aber noch eine Pistole & erschießt den anderen. Das spielt sich blitzschnell ab. Zu schnell. Deswegen verlangt der Conferencier eine Wiederholung - in Zeitlupe. Schön, so geschieht's, alles noch einmal in verlangsamten Bewegungen. Sie gehen langsam, drehen sich langsam, langsam sticht der eine zu, langsam fällt der andere zu Boden, & ganz, ganz langsam entgleitet dem Täter seine Waffe, schwebt dem Boden näher & näher. Langsam zieht der Liegende seine Pistole, ein Knall - & eine dichte Rauchwolke entströmt dem Lauf. Dann löst sich eine Kugel & bewegt sich Millimeter für Millimeter auf die Brust des einen zu, trifft ihn endlich. Nett.
Getrost vergessen dagegen kann man die beiden Artistengruppen, die bulgarische Silaghi-Truppe (Sie schleudern sich mit 'nem Brett aufeinander, bauen Pyramiden & so. Sie haben einen Kleinen dabei, der bei der „Sensation!“ als fünfter Mann ganz oben steht. Der hat sich gefreut, diese Aktion zu bringen, grinst mit stolzgeschwellter Brust. Überhaupt: die Zirkusfamilie.) & die „überragenden Trapezkünstler aus vier Erdteilen“, die Togni-Madison-Flyers (die schwingen halt über einem Netz hin & her, fliegen durch die Luft, zeigen den Salto mortale & so).
Die Früchte
„Es spielt in diesem Zustand (der Festmassen - d.A.) das Gefühl hinein, daß man durch gemeinsamen Genuß bei diesem Fest für viele spätere Feste sorgt. Duch rituelle Tänze & dramatische Darbietungen wird früherer Gelegenheit derselben Art gedacht. Ihre Tradition ist in der Gegenwart dieses Festes mitenthalten. Die Feste rufen einander, & durch die Dichte der Dinge & Menschen vermehrt sich das Leben„ (Elias Canetti).
So auf den roten, abgesessenen Bänken ausharrend, gedachte ich meiner Zirkuserfahrung, um vielleicht doch etwas Begeisterung in mir entfachen zu können. Irgendwie war es früher viel größer gewesen. Es gab da mehr Artisten, viel mehr Tiere, Bären z.B. oder Ponys, ich kann mich an Zauberkünstler erinnern. & das Publikum konnte meist mitmachen; als Trottel bei den Clowns, als Zielscheibe bei Messerwerfern & was weiß ich noch. Im „American Circus“ veranstaltet Schultheiss (!!!) irgendeine Verlosung, doch Ralf Geryk, der „uns durch das Programm führte“, konnte die Namen der Gewinner nicht entziffern, & es schrie auch niemand „Hier! Hier!“.
&, verglichen mit anderen Truppen aus ähnlichen Bereichen, das „Traumtheater Salome“ hatte ein homogeneres Programm & ein entsprechendes Ambiente. Die einzelnen Darbietungen waren wohl klein - im Vergleich zum „American Circus“ kann sich das jedoch einzig auf quantitatives Maß beziehen. Die Vorstellungen von „Fura del baus“ boten mehr Ekstase, mehr direkte Gewalt & - wie das „Traumtheater“ - mehr Poesie (wenn damit jemand etwas anzufangen weiß). „Royale de Luxe“ zeigten in ihrem „spectacle“ mehr Witz & mehr Präzision, bei gleichzeitiger Ent-Deckung der sonst geheimnisvollen, technischen Tricks. Selbst die Berliner „Dead Chickens“ präsentieren eine kompaktere Show, in der die Phantasie verführt wird. Ohne überhaupt auf „Survival Research Laboraties“ zu sprechen zu kommen. Ja ja, die mache alle Kunst. Ich bin da ein recht primitiver Rezipient, mir reicht, wenn die Effekte funktionieren, d.h. Früchte in mir tragen (ach nee. komische früchte, die wir uns hier an den tastaturen abquälen müssen. bin eben primitiver sezza. mir reicht, wenn die finger gut laufen, d.h. verhakelungen in extremität & geist vermieden werden. sezza).
„Der Donner kommt aus der
Erde hervorgetönt
das Bild der Begeisterung. So machten die alten Könige Musik
um die Verdienste zu ehren, & brachten sie herrlich dem höchsten Gotte dar
indem sie ihre Ahnen dazu einluden
(I-Ging)
Das ist alles
„'Bitte die Sicherheitsgurte anschnallen!‘ Sie fliegen jetzt in die Sternenwelt der Dickhäuter: Pachidermia. Eine großartige Darbietung des 'American Circus‘, die Ihnen der berühmteste Künstler unserer Zeit, der zweifache Gewinner des ersten Preises des Monte-Carlo-Circus-Festivals, präsentiert. Der Herrscher des Reiches der Elefanten: Favio Togni. 7.500 Kilogramm schwere, majestätische Dickhäuter, über 30 zauberhafte Weltraumtänzerinnen. Lichter mit einer Gesamtleistung von 300.000 Kilowatt, begleitet von einer unglaublichen Musik!“ (Programmtext) Hier hat die „Berliner Abendschau“ wohl „ein neues Zirkuszeitalter beginnen“ sehen; doch haben die kulturverseuchten Kollegen wohl überhört, daß die begleitende „unglaubliche“ Musik nicht klassisch begann, sondern das Dröhnen & Fiepen & Scheppern das einzig wirklich adäquate Intro war: die Erkennungsmelodie von Dallas.
Dann wird es dunkel, Nebel wallt, Mädchen in mit Leuchtfarbe bemalten Kostümen spielen „Fliegende Untertasse“, Discolights fahren durch das Dunkel. Hölle, es ist die amerikanisch-triviale Version einer Wagner -Inszenierung. Kleine Mädchen in Weltraumuniformen sitzen auf Elefanten, andere gehen so auf & ab. Die Musik dröhnt. Das ist alles.
Schließlich „sind die Ufos da“! Zur Musik von Also sprach Zarathustra (das hat mir wirklich gut gefallen, trash & exploitation at its best) wird ein blinkendes Gerät reingeschoben. Das öffnet sich, & drei goldene Extraterrestische entsteigen ihrem Fahrzeug. Aber was für eine Überraschung! Die „aliens“ wollen gar nicht, wie bisher immer angenommen, die saublöde Erdbevölkerung kolonialisieren, nein! Sie wollen auch nicht, entsprechend den mehr aufgeklärt-funktionalistischen Erwartungen, Erkenntnisse über die Geheimnisse der Natur austauschen, nein! Die Außerirdischen sind da, um uns mit anmutiger „Körperpoesie“ zu erfreuen! Also sprach Zarathustra - in der Tat.
Circus-Circus
„Man nähert sich den Drehkreuzen, die ins Circus-Circus führen, & man weiß, wenn man dort ankommt, muß man dem Mann zwei Dollar geben, oder der läßt einen nicht rein..., aber wenn man dort ankommt, läuft alles schief: Man schätzt die Entfernung zum Drehkreuz falsch ein & rennt dagegen, prallt zurück & hält sich an einer alten Frau fest, um nicht hinzufallen, man wird von einem ärgerlichen Rotarier geschubst, & man denkt: Was geht hier vor? Was ist bloß los? Dann hört man sich selbst murmeln: 'Der Hund hat den Papst angeschissen, is nicht meine Schuld. Vorsicht da...! Warum Geld? Mein Name ist Brinks; geboren wurde ich ... geboren? Schafe über die Reling..., Frauen & Kinder in die gepanzerten Wagen..., Befehl von Captain Zeep.'
Das Circus-Circus ist, was alle mit Durchblick des Samstag nachts täten, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten. Dies ist das Sechste Reich. Zu ebener Erde lauter Spieltische wie in allen anderen Kasinos auch..., aber der Laden hier ist gut seine vier Stockwerke hoch, wie ein Zirkuszelt, & allerlei seltsamer Jahrmarkt/polnischer Kirmes-Wahnwitz spielt sich unter der Kuppel ab. Direkt über den Spieltischen präsentieren die Vierzig Fliegenden Carazito -Brüder ihren Hochseil-Trapezakt, zusammen mit vier maulkorbtragenden Vielfraßen & den Sechs-Lolita-Schwestern aus San Diego ..., & da stehst du zu ebener Erde & bist am Zocken, & die Einsätze klettern, & wenn du plötzlich mal zufällig aufsiehst, dann Zack! - direkt über deinem Kopf ein halbnacktes vierzehnjähriges Mädchen, das durch die Luft gejagt wird & einem fauchenden Vielfraß, der sich plötzlich in einem Kampf auf Leben & Tod mit zwei silberbemalten Polacken befindet, die von gegenüberliegenden Balkons aufeinander zu geschwungen kommen & und sich mitten in der Luft hinter dem Vielfraß im Nacken treffen ... beide Polacken schnappen sich das Tier & fallen dann direkt auf die Würfeltische zu - aber sie werden von dem Netz aufgefangen, sie trennen sich voneinander & werden wieder hinaufkatapultiert zum Dach in drei verschiedene Richtungen, & als sie gerade wieder zu fallen drohen, werden sie aus der Luft gegriffen - von den drei koreanischen Kätzchen & auf jeweils einen Balkon trapezt“
(Hunter S. Thompson).
So hatte ich mir das vorgestellt. Zumindest „The Human Cannonball“! Oder „Zwerge-Werfen“! „folk-trash-art“ eben!
Auf dem Nachhauseweg stolpern wir an einer phänomenalen Leuchtwerbung vorbei; die haben es begriffen! „Sat1“ sagt: „Aufstehen! Fernsehen!“
Rudolf Stoert
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