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Drei Dampfer voller Generäle

■ 50 Jahre nach der Mobilmachung streitet die Schweiz über ihre Armee

Pavel Kohout

Dämon der Zustimmung“ nannte der nach 20 Jahren Berufsverbot unlängst gestorbene slowakische Schriftsteller Tatarka die Neigung des Durchschnittsmenschen, Parolen für richtig zu halten, die genügend laut und oft vorgetragen werden. Ein Mensch mit meiner Erfahrung, der einem der Dämonen dieses Jahrhunderts knapp davonlief, hat deshalb seine Mühe mit allen Behauptungen, die „in“ sind.

So hatte mich ein Brief zur Wachsamkeit gerufen, von zwei jungen Schweizern geschickt, die mir in den letzten Jahren halfen, den amtlich zerrissenen Kontakt zu meinen Prager Freunden aufrechtzuerhalten. Jetzt brauchten sie endlich was von mir: den moralischen Beistand vor jener Volksabstimmung, durch die am 26.November die Schweizer Armee abgeschafft werden soll.

Was lag da näher, als ihn wenigstens verbal zu leisten. Es wäre noch dazu opportun gewesen: ist doch der Zeitgeist, wie es die Diskussion über „Bundeswehr light“ beweist, auch in Österreich gegen das Militär gerichtet. Meiner Erfahrung treu, unternahm ich zunächst die Überprüfung vor Ort, gerade im kritischen Moment.

Am Freitag, dem 1.September, stach von Luzern eine kleine Flotte in den Vierwaldstätter See, die den Armeegegnern scharfe politische Munition lieferte: über 1.200 hohe Soldaten der Nachkriegszeit samt Politikern, ob sie nun noch zur Disposition stehen oder sich bereits im Ruhestand befinden, davon eine Hundertschaft im Generalsrang, gedachten mit der Fahrt auf die Rütli-Wiese, wo vor 698 Jahren der berühmte Schwur geleistet wurde, der fünfzigsten Wiederkehr jenes Tages, an dem die Schweizer Armee mobil machte.

„Ist es nicht grotesk“, rufen ihre Kritiker, „daß die ganze Welt diesem Datum, an dem der Zweite Weltkrieg begann, nachtrauert, während das schweizerische Militär es feiert?“

Die Zahl der Geladenen, die gleich drei Dampfer „requirieren“ ließ, als auch die Sorge, dieses Fest könnte gestört werden, schlossen Fremde aus, nota bene einen wie mich, der Hauptmann einer östlichen Armee war. Daß er dann doch auf eine böhmische Weise dabei war, hat er, neben alter Freundschaft einiger Schweizer, die sich als Reserveoffiziere erkennen ließen, der Tatsache zu verdanken, daß er für seinen politischen Einsatz im Prager Frühling 1968 degradiert worden war.

Was wurde in der Tat gefeiert? Eine aus meiner Sicht filmreife Begebenheit: am 25.Juli 1940, kurz nach der Kapitulation Frankreichs, als sich die Schweiz umzingelt sah und deutsch-österreichische Soldaten bereits sangen „Die Schweiz, das kleine Stachelschwein

nehmen wir auf dem Rückzug ein“,

bekamen 800 Kommandanten den Befehl, sich in der Früh am Luzerner Bahnhof einzufinden. Das Dampfschiff „Stadt Luzern“, das auch heute dabei ist, brachte sie auf die historische Wiese mehr aus Gründen der Geheimhaltung: Sie ist nur über Wasser und Felsen zugänglich. In der riskanten, aber richtigen Annahme, unter seinen Männern befinde sich kein einziger Agent Hitlers - was allein Bände spricht! gab der damalige Armeechef General Guisan den Befehl zur kompromißlosen Landesverteidigung. Eine Million Gewehre, samt Munition hauptsächlich in Wohnungen disloziert, machten es möglich, daß das Land am selben Tag voll kampfbereit dastand. Die Führung gab bekannt, daß die beiden Hauptverbindungen nach Süden - der Simplon- und der Gotthard -Tunnel - beim Versuch, die Schweiz einzunehmen, in voller Länge zerstört und somit den Sinn der Operation vereiteln würden.

Heute weiß man, daß Hitler von diesen Beschlüssen überrumpelt wurde. Die wahrscheinliche Blamage eines zermürbenden Groß- und Dauereinsatzes gegen einen zu allem entschlossenen Bengel wollte er nicht eingehen. Die Schweiz blieb weiterhin frei.

Damals ist auch ein junger Bauer eingerückt, der erst unlängst als Generalstabschef ausschied. Ihn, einen ruhigen Riesen mit dem philatelistischen Namen Zumstein, frage ich nach seinen Gefühlen, wenn er jetzt den Ruf nach der Abschaffung „seiner“ Armee hört.

„Schauen Sie sich nur um. Sie war und bleibt die Volkskraft, mit der man den 'Aggregatzustand‘ unserer Gesellschaft im Notfall von Wasser auf Dampf ändern kann. Ich habe sechs Kinder und verstehe ihren Traum vom ewigen Frieden ohne Waffen. Nur: damit sie ihre Armee einmal abschaffen können, muß sie uns heute noch erhalten bleiben.“

„Wie haben Sie Ihre Militäraufgabe praktisch verstanden?“

„Als einen effektiven Friedensdienst an Landsleuten. Mein erster Befehl im Jahre 1978, als ich gleich Manöver mit 30.000 Mann bestritt, lautete, daß sie statt einmal, wie früher, jetzt dreimal täglich warm verpflegt werden müssen. Das Resultat war eine Art Perestroika der ganzen Armee, die dadurch an Mobilität der Etappe enorm gewann, als auch eine Art Glasnost, denn die Durchführung wurde dreimal täglich von 30.000 Mägen streng kontrolliert.“

Auch der Ehrenpräsident der Internationalen Musikfestwochen H.R.Meyer, der einst Herbert von Karajan nach Luzern brachte und vor dem gestrigen Konzert von ihm Abschied nahm, fährt plötzlich in Uniform mit, als General zu Dienst.

„Dampfer voller Generäle mögen unter den veränderten Begleitumständen museal wirken wie der Rütli-Schwur bei Schiller. Tatsache bleibt, daß die Eidgenossenschaft als einziger Staat Europas ihre Selbständigkeit nie verlor!“

„Ein antiquierter und noch dazu gefährlicher Schießverein“, witzelt ein junger Schweizer, „der sich anmaßt, über allem, auch über der Demokratie zu stehen, und das Land durch Protektion korrumpiert!“

Ein Veteranflugzeug überfliegt die vorwiegend grauen Köpfe auf der Wiese, dazu schmettert die Militärkapelle Märsche, es wird „Spatz“ serviert, der berühmte Eintopf aus Rind, Kartoffeln und Kohl, und dabei ununterbrochen patriotisch geredet, was alle, die das Spektakel von den umliegenden Bergen mit Feldstechern betrachten, in ihrer Kritik stärkt. Ich denke dabei an ein Bild, das mich mein Leben lang verfolgt:

Ich schreite als Zehnjähriger an der Seite meines Vaters durchs nächtliche Prag. Es ist Ende September 1938, und in München wird ohne uns über uns gehandelt. Hunderttausende strömen zum Parlament, den kurzen Reim rufend, den ich nie vergessen kann:

„Dejte nam zbrane - dali jsme si na ne! Gebt uns die Waffen - wir haben sie bezahlt!“

Kämpfen wie die Schweizer wollten meine Landsleute, sich Hitler entschieden stellen. Die Pazifisten Englands und Frankreichs sind ihm auf den Leim gegangen und haben der Prager Regierung ihre Zustimmung verweigert. Und die Gewehre lagen in den Kasernen und Festungen unter Verschluß. Die Tschechoslowakei wurde okkupiert, die Welt dem totalen Krieg und Holocaust ausgeliefert.

Dreißig Jahre später, als sie „die Grenze des sozialistischen Friedenslagers“ gegen den Westen bewachte, wurde jene Armee, in der ich noch Reservehauptmann war, von den Verbündeten aus dem Osten überfallen, und das Land stürzte das zweite Mal ins historische Loch.

Die verheißungsvolle Entwicklung der letzten Zeit darf über eines nicht hinwegtäuschen: Die Anstrengungen, unter denen das demokratische Verständnis im entmündigten Teil Europas Gestalt annimmt, sind erst der Anfang. Eine blutige Niederschlagung wie in Peking ist auch in Moskau noch möglich. Und sollte es trotz aller Gefahren glimpflich ausgehen, dann bleibt immer noch der Rest der Welt da, von unberechenbaren Machtgruppen regiert, die vor Kurzschlußhandlungen kaum von „Armeen light“ gewarnt sein können.

Keine Frage, daß jene Armee, die hier heute so opulent feiert, an negativen Erscheinungen kränkeln wird, die eine Wohlstandsgesellschaft leider mit sich bringt. Kein Wunder, daß sie für manche zum Selbstzweck, zur Karriereleiter oder sogar zum Druckmittel geworden ist. Kein Zweifel jedoch für mich, daß ein Heer, über dessen Abschaffung man öffentlich abstimmen darf, nach wie vor einen notwendigen Schutz für die Demokratie darstellt und sich auch selbst unter ihrer Kontrolle erneuern kann.

Ich halte es - und nicht nur in der Schweiz! - für ungerecht, daß Soldaten, die jene relative Freiheit, die eine menschliche Gesellschaft überhaupt erreichen kann, seit dem Kriegsende zu erhalten halfen, plötzlich en bloc als lästiges Insekt behandelt werden.

Deshalb muß ich meinen jungen Freunden aus der Schweiz weiter in der Schuld bleiben und - so gern ich einmal „in“ sein möchte - das Urteil ihnen überlassen. Für mich sind die Schweizer Bürger in Uniform heute wie damals auf dem richtigen Dampfer gefahren.

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