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Das Ende einer Ehe

Die Führungselite der DDR steht vor einem historischen Schachmatt  ■ K O M M E N T A R E

Der Exodus aus Ungarn, die Stunde Null, mit der das Heer der Trabis und Wartburgs startete, hat die unübersehbare Symbolik und Theatralik eines historischen Ereignisses. Kein Aufbruch ins gelobte Land, schon gar nicht der eines auserwählten Volkes - vielmehr der eines statistischen Samples vom tragenden Teil des realsozialistischen Staatsvolkes. Wer über Ungarn jetzt flieht, hat etwas zu verlieren. Dem ging es „eigentlich“ gut - jenes fürchterliche „DDR-Eigentlich“, jenes Wort vom Alles-Haben und Nichts-Sein, jener tonlose Ausdruck eines gemeinsamen Mangels an Selbstachtung, Lebensfreude und Eigensinn. Wenn es noch eines Kommentars bedurfte, so ist jene Trabi -Karawane der abschließende Kommentar zu den Kommunalwahlen. Die von Anfang an mißratene Ehe zwischen Volk und Partei geht zu Ende.

Es ist müßig zu spekulieren, wie wohl die ungarische Regierung für Menschlichkeit honoriert werde. Die Entscheidung, die DDR-Bürger gehen zu lassen, ist schlicht und einfach vernünftig. Jede andere Entscheidung hätte Ungarn aussichtslos in die deutsch-deutsche Malaise verwickelt. Allerdings: Die brüske einseitige Suspendierung der Verträge mit der DDR muß die Ostberliner Führung nachgerade in Panik versetzen. Ungarns Entschluß hat deutlich gemacht, wie außenpolitisch isoliert die DDR ist; wie wenig die Vertragstreue gegenüber der DDR noch zählt. Das ganze außenpolitische Gerüst, mit dem die DDR-Führung ihr Land wie einen Schnellkochtopf kontrollieren konnte, bricht zusammen. Fortsetzung der bisherigen Politik hieße eine Mauer um die ganze DDR, Festungshaft für die DDR -Bevölkerung mitten in Europa. Das ist so wenig vorstellbar, wie Alternativen vorstellbar sind.

Es fällt auf, daß selbst die erprobten Antikommunisten der BRD diesen Exodus aus Ungarn ohne Häme kommentieren. „Ursachenforschung“ und Reformen rät die Bundesregierung. Die Verunsicherung ist unüberhörbar und leicht verständlich. Schließlich basierte die bisherige Ostpolitik auf einer relativen Stabilität des DDR-Regimes. Aber eben: Reformen sind kaum vorstellbar. Alle sich formierenden Reformkräfte hat die DDR schließlich an den Westen verkauft. Mit wem will sie koalieren, um Reformen glaubhaft zu entwickeln? Allenfalls die Kirche bietet sich an. Aber ist mit der Kirche noch ein Staat zu machen?

Anders als in anderen Ostblockländern muß jede Reform in der DDR mit der elementaren Freiheit, weggehen zu können, anfangen. Aber eine tief resignierte DDR-Bevölkerung, die im Geiste die Sachen packt, wie kann sie von einer Reformchance überzeugt werden, und vor allem von wem? Von Krenz? Nein, die besorgten Reformappelle gehen ins Leere. Alles spricht dafür, daß die DDR-Regierung versuchen wird, von einem Tag auf den anderen zu überleben. Die Führungselite hat über Jahrzehnte jede programmatische und personelle Alternative eliminiert, hat einen Apparat von ihresgleichen geschaffen, der nun kollektiv vor dem historischen Schachmatt steht. Die Information vom allerhöchsten Krankenlager paßt dazu: Der Staatsratsvorsitzende habe „keinen seelischen Auftrieb und keinen Genesungswillen“ mehr. Für die politischen Ideen der denkbaren Nachfolger könnte man die gleiche Diagnose stellen. Aber wenn die DDR-Regierung auch keine Rezepte hat, so weiß sie doch eins: die Freiheit, weggehen zu können, muß sie verweigern. Es ist das letzte Faustpfand des Machterhaltes - denn wenn die Resignation der Zurückgebliebenen in Wut umschlägt, dann läßt sich immer noch die Mauer aufmachen.

Klaus Hartung

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