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Die Ostfront der Neuen Musik

■ Das Festival bundesdeutscher Neuer Musik in der Sowjetunion

Frieder Reininghaus

Moskau dümpelt grau dahin. Warten ist noch immer Haupttätgkeit, Warten auf bessere Zeiten und erst einmal auf das Nötigste. Wenn irgendwo die Musik aufspielt, dann schieben Paare die Tische zur Seite und zum Tanz. Vor allem die Frauen geraten in Fahrt, als müßten sie Jahrzehnte nachholen. Gelegentlich etwas Goldgräberstimmung. Die Künstler starren auf den Westen, Sponsoring ist das Zauberwort der Saison. Wenn sie nicht schon im großen Treck unterwegs sind, Richtung Sonnenuntergang.

Der Rote Platz läßt sich nicht ohne wenigstens zwei Offensiven der Schwarzhändler überqueren. Aus einem langsam vorbeiziehenden Lada wird Militärkleidung angeboten. Kaviar? Der Dollar regiert im Zentrum des Sozialismus - und nicht nur über die niederen Regungen und nach Mitternacht. Ohne die Scheine, die (laut Aufdruck) auf Gott gebaut sind, gibt's in den Superherbergen der Metropole noch nicht einmal ein Süppchen. Im Sowjetskaja kommt kein warmes Wasser, im Rossija funktioniert die Spülung nicht.

Im Übernachtungspreis von 250 Mark ist weder ein Stückchen Seife inbegriffen noch das Frühstück. Für ein Glas Teewasser, kaum lauwarm, heißt es wieder ein Viertelstündchen anstehen, für einen Stempel wenigstens ein ganzes. Und Polizei an allen Ecken, beim Gehen, Sitzen und Stehen. Draußen, irgendwo im Süden an einer Metro -Endstation, in einer nicht enden wollenden Flucht von Betonsilos des unterschiedlichsten Voll- und Verkommenheitsgrades, gestaltet ein Markt den Sonntagvormittag. Wassermelonen und Kartoffeln auf großen Halden; Falläpfel werden aus zerschundenen Rucksäcken verkauft; zwei ältere Frauen bieten ihre Möhrenernte an die eine fünf und die andere sieben Rüben. Das war's dann.

Beim Empfang im Hotel National biegt sich der Tisch durch, und am Rande der Hummer-Platte formuliert der Ehrenpräsident des Deutschen Musikrates, Richard Jakoby, die Erwartungen: von deutscher Seite einen möglichst perfekten Ablauf der 160 Konzerte in Moskau, Leningrad, in den Hauptstädten der baltischen Länder, in Tiflis, Kemerowa (Sibirien) und so weiter, das Funktionieren der Tourneen. „Von russischer Seite sind die Erwartungen, daß ein großer Nachholbedarf erfüllt wird und Informationen geliefert werden, die mindestens vier oder fünf Jahrzehnte vorenthalten wurden.“

Der Rußlandfeldzug der Neuen Musik wurde jedoch keineswegs aus bloßem Altruismus angezettelt: „Wir wollen auch unseren zeitgenössischen Komponisten ein Bekanntheitspodium schaffen“, fährt der erfahrene Musikfunktionär Jakoby fort. Er spielt darauf an, daß das musikalische Interesse und die traditionellen Instrumentalfertigkeiten in den Städten des Sowjetimperiums stark ausgeprägt sind. Der potentielle Markt im Osten ist groß.

Ulrich Dibelius, Musikpublizist in München und auf deutscher Seite federführender Organisator des Festivals Musikalnaja kultura segodnja, betont eher den diplomatischen Rang und die Völkerverständigungsgeste der bundesdeutschen Musiker-Invasion in der UdSSR: „Auf die Fragen nach dem Glück und dem Frieden gibt die Musik einige Antworten.“ Aber gerade die Neue Musik? „Ja, gerade auch sie - als Spiegelbild von Schönheit, wenn auch einer ge- oder zerstörten; sie enthält ja auch die Aufforderung, um diesen Funken Schönheit zu kämpfen und irgend etwas dafür zu tun, um die Gesellschaft aus ihrem Trott herauszuholen.“

Deutsches Neugetön also als Lockerungsübung für russischen Trott? Neudeutsches Wesen zum Genesen? Der Auftakt des Festivals geriet jedenfalls so moderat, daß auch den von Shdanow ausgeputzten Ohren keine allzu großen Zumutungen bereitet wurden. Dafür sorgte Gary Bertini als Dirigent des Kölner Rundfunk-Sinfonieorchesters: Erst eine Orchester -Bagatelle von Wolfgang Rihm aus Karlsruhe (Vorgefühl), dann eine doppelte Null-Lösung von Dieter Schnebel (Mahler -Moment) - Avantgarde Lagerbräu. Welche Schärfe, welches Espressivo, welches Gewicht dagegen in der Zweiten Symphonie von Karl Amadeus Hartmann. Ein Stück, geshrieben in Trauer über Faschismus und Krieg unmittelbar nach dessen Ende.

Das genügte Bertini als Dosis des Neueren, anschließend dirigierte er Beethovens Eroica. Aber wie! Der Westentaschen-Napoleon grinst, wenn der Tonsatz in Dur gehalten ist, er faucht beim tragischen Moll und turnt wie ein Äffchen. Aber leider nicht immer in übereinstimmung mit der Partitur. Und so kommt es vor, daß im Fugato des Eroica-Finales er nicht nur die Orientierung verliert, sondern auch die Arbeit des leistungsfähigen Orchesters ernsthaft in Mitleidenschaft gezogen wird. Diesem Kapellmeister fehlt es elementar an Handwerk und mittlerweile auch an der Kondition für ein Programm mittlerer Länge.

Die Moskauer aber zeigten sich nachsichtig. Vor allem waren sie froh, daß das Fenster zum Westen so energisch aufgestoßen wurde. Der Komponist Alfred Schnittke schwärmte im Tschaikowsky-Saal an der Moskauer Gorki-Straße: „Dieses Festival ist sehr wichtig für uns - ein ganz großer Schritt nach vorn.“ Vor allem die Aufführung der Ekklesiastischen Aktion von Bernd Alois Zimmermann. In Vilnius, der litauischen Hauptstadt Wilna, traf dieses Stück aus dem Jahr 1970 mit seinen herben Musikblöcken und dem Dostojewski-Text vom Großinquisitor auf besonders aufmerksame Ohren.

Im Baltikum gärt es. Auf die Bauzäune in Wilna ist „okupantai lauk“ („Besatzer raus!“) gepinselt - und für die Touristen „red army go home!“ An allen Ecken der Stadt hängen Landkarten der Sowjetunion, in die Stalins Vernichtungslager eingezeichnet sind. Die regionalen Zeitungen schreiben in klaren Worten über den Genozid. In einer solchen Situation hat die Kunst für das vorwiegend junge Publikum im überfüllten Opernhaus Signalwirkung: „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne.“ Mit Lutz Lansemann und Christoph Banzer (als Sprecher) und dem Bariton Andreas Schmidt gelang dem Kölner Radio-Orchester eine anrührende Darstellung der angedeuteten Szene im Kerker, in der die Freiheit des Christenmenschen, der Aufruhr im Namen der Gerechtigkeit und die Unterdrückung im Dienste des Dogmatismus verhandelt werden.

„Ich meine“, erklärte der Direktor des Konservatoriums in Vilnius, „daß wir in Litauen eine besondere Pflege der gegenwärtigen Musik haben und uns in dieser Hinsicht von den anderen Sowjetrepubliken unterscheiden. Als ich den Spielplan der westdeutschen Gastreisen in die Sowjetunion sah, da habe ich mir gesagt: das ist das, was wir in Litauen brauchen - wir leben schließlich in der Gegenwart!“ Das Publikum in der Oper von Wilna gab ihm Recht und zeigte sich begeistert.

Solche Emphase an lauen Septemberabenden ist ohne den gesellschaftlichen Hintergrund kaum begreiflich: die Balten wollen den Anschluß an die „freie Welt“ und fordern eine historische Revision. Man lebt hier nach „litauischer Zeit“, die um eine Stunde von Moskau abweicht - inoffiziell. Nicht die sowjetische, sondern die litauische Fahne hing neben der bundesdeutschen über den Musikern auf der Bühne. Gesprächsweise wird, nicht anders als Polen, die Zugehörigkeit zu Mitteleuropa betont. Das Festival Musikkultur heute ist geeignet, einen solchen Zusammenhang anzudeuten.

Insgesamt unterscheidet sich das Interesse am Neuen, das von den europäischen Nachbarn kommt (und erkennbar nicht amerikanisiert ist), erheblich von der hierzulande vorwaltenden Indifferenz des Kulturpublikums gegenüber Neuer Musik (oder ihrer stillschweigenden Ablehnung). Das bedeutet noch nicht, daß der Markt für Rihm & Co. dort im nahen Nordosten bereits erschlossen wäre. Es bleibt möglicherweise bei einem kurzen, heftigen Windstoß - zu bedenken wäre ohnedies gewesen, ob längerfristiger Austausch nicht produktiver gewesen wäre als der Kraftakt eines flächendeckenden Festivals. Als erstaunliche Erfahrung der ersten Rundreise bleibt in Erinnerung, daß die Leute in Moskau, Wilna oder Leningrad derzeit wohl ungleich aufmerksamere Ohren haben: gerade auch für den Schmerz, die subkutanen Freiheitsverheißungen und das ästhetische Tasten jener einst avantgardistischen Musik, die noch gegen erhebliche Widerstände errungen wurde.

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