: Erinnerungen an Nikolaj Bucharin
■ Die Erinnerungen der Ehefrau Bucharins liegen jetzt auf Deutsch vor. Der Steidl-Verlag hat sie herausgebracht. Wir drucken Auszüge aus dem 431 Seiten dicken Band
Anna Larina Bucharina
Am 27.Januar 1934, meinem zwanzigsten Geburtstag, trafen wir uns zufällig. Das war etwa einen Monat, nachdem wir uns auf Lunatscharskijs Beerdigung gesehen hatten, zu Beginn jenes Jahres, an dessen Ende ein verhängnisvoller Schuß ertönen sollte... (Gemeint ist der tödliche Schuß auf Kirow, A.d.Ü.) Inzwischen hatte ich in meiner Schreibtischschublade noch einen Zettel gefunden: „Ich war da, Dein N.B.“ Das machte mich endlich entschlußkräftig.
N.I. kam aus dem Bolschoij-Theater von einer Sitzung des XVII. Parteitags und wollte nach Haus in den Kreml. Ich kam von einer Vorlesung aus der Universität: „Stalin, der Lenin von heute.“
Wir blieben vor dem Unionshaus stehen, einem Gebäude, das ich noch heute nicht ruhig ansehen kann und das ich mich zu umgehen bemühe. Aber manchmal zieht der Ort meine Blicke auf sich, an dem wir nach so langer Unentschlossenheit in einem kurzen Augenblick begriffen, daß es keinen Schritt zurück mehr gab und daß wir auch nicht mehr ausweichen konnten.
Wir standen direkt vor jener Tür, aus der genau vor zehn Jahren, am 27.Januar 1924, Bucharin und andere enge Freunde und Mitkämpfer in tiefem Kummer den verstummten, toten Lenin hinausgetragen hatten; in langsamer Trauerprozession waren sie bei bitterer Kälte mit dem roten Sarg auf den Schultern zum Roten Platz geschritten. Dabei hatten die meisten von ihnen auch ihr eigenes Ende auf den Schultern getragen ihren nahen politischen Tod und die spätere physische Vernichtung...
Freudig überrascht von der unerwarteten Begegnung und ahnend, wozu sie führen würde, befanden wir uns also vor dem Unionshaus, in dessen Oktobersaal N.I. vier Jahre später, im März 1938, in einem fürchterlichen Prozeß, der mittelalterlichen Gerichtsverfahren in nichts nachstand, die letzten, qualvollen Tage seines Lebens erleiden sollte und aus dem er nach dem Todesurteil hinausgeführt wurde, um zum letzten mal irdische, freie Luft zu atmen (falls er sie atmete).
Im Januar 1934 kam unser Gefühl gerade vor diesem Gebäude, das mir heute so finster erscheint, endlich zum Ausbruch so spitzfindig ist das Schicksal!
Wir verschwendeten nicht viele Worte:
„Wirst du mir noch lange deine Notizzettel hinterlassen? Denkst du, sie lassen mich kalt?“
Aufgeregt und errötend stand N.I. in seiner Lederjacke und den Stiefeln vor mir und zupfte an seinem Bärtchen, das damals noch deutlich rot war. Das war der entscheidende Augenblick.
„Willst du, daß ich jetzt gleich zu dir komme?“ fragte er.
„Das will ich“, sagte ich fest.
„Aber dann verlasse ich dich nie mehr!“
„Das sollst du auch nicht.“
Vom Unionshaus zum „Metropol“ ist es ein Katzensprung...
Dann haben wir uns bis zum Tag seiner Verhaftung, dem 27.Februar 1937 (wieder die 27 - meine Schicksalszahl) nie mehr getrennt. Das war der Tag, an dem er zur letzten, entscheidenden Sitzung der Februar-März-Tagung des ZK ging. Er wußte, daß er verhaftet werden würde, fiel vor mir auf die Knie und bat mich, kein einziges Wort von seinem Brief „An eine künftige Generation von Parteiführern“ zu vergessen, bat mich um Verzeihung für mein zerstörtes Leben und bat mich, unseren Sohn als Bolschewiken zu erziehen. „Unbedingt als Bolschewiken!“ wiederholte er zweimal...
Der 27.Februar 1937. Abends rief Stalins Sekretär Poskrebyschew an und teilte N.I. mit, daß er zur Sitzung erscheinen müsse.
Wir fingen an, uns zu verabschieden.
Iwan Gawrilowitschs Zustand war unbeschreiblich. Geschwächt vom Gram um den Sohn, lag der alte Mann hauptsächlich. Beim Abschied hatte er Krämpfe. Die Beine hoben sich unwillkürlich hoch und fielen dann wieder aufs Bett, die Hände zitterten, sein Gesicht lief blau an. Es schien, als würde er gleich sterben. Aber dann wurde es besser, und Iwan Gawrilowitsch fragte seinen Sohn mit schwacher Stimme:
„Was geht denn nur vor, Nikolaj, was geht denn nur vor? Erklär mir das!“
N.I. schaffte es nicht, zu antworten, weil das Telefon wieder klingelte.
„Sie halten das Plenum auf, wir warten“, mahnte Poskrebyschew auf Anweisung seines Herrn.
Ich kann nicht behaupten, daß N.I. sich besonders beeilte. Er schaffte es auch noch, sich von Nadeshda Michajlowna zu verabschieden. Dann kam ich an die Reihe.
Der tragische Augenblick dieser schrecklichen Trennung und der Schmerz, der bis heute in meinem Herzen wohnt, sind nicht zu beschreiben. N.I. fiel vor mir auf die Knie und bat mich mit Tränen in den Augen um Vergebung für mein zerstörtes Leben. Er bat mich, den Sohn als Bolschewiken zu erziehen, „unbedingt als Bolschewiken!“ wiederholte er zweimal: bat, um seine Rechtfertigung zu kämpfen und keine Zeile seines Briefes zu vergessen. Und den Brieftext dem ZK zu übergeben, wenn die Situation sich änderte „und sie wird sich ganz bestimmt ändern“, sagte N.I. „Du bist jung und wirst es erleben. Schwöre mir, daß du das tust!“ Und ich schwor.
Dann stand er auf, umarmte und küßte mich und sagte erregt:
„Sieh zu, daß du nicht verbitterst, Anjutka. In der Geschichte kommen bedauerliche Druckfehler vor, aber die Wahrheit siegt!“
Vor Aufregung überkam mich ein inneres Schütteln, und ich spürte, daß meine Lippen zitterten. Wir wußten, daß wir uns für immer trennten.
N.I zog seine Lederjacke an, nahm die Mütze mit den Ohrenklappen und wandte sich zur Tür.
„Sieh zu, daß du nicht über dich lügst, Nikolaj!“ Nur das vermochte ich ihm zum Abschied zu sagen.
Nachdem ich N.I. zum „Fegefeuer“ geleitet hatte, hatte ich mich gerade hingelegt, als man zur Durchsuchung kam. es bestand kein Zweifel - N.I. war verhaftet.
Es kam eine Abteilung, zwölf bis dreizehn Personen, eine davon ein Arzt in NKWD-Uniform und mit weißem Kittel. Durchsuchung mit Arzt... das war etwas ganz Neues! Wie human...
Die Durchsuchung leitete Boris Berman, der damalige Chef der Untersuchungsabteilung des NKWD, der später erschossen wurde. Berman erschien wie zu einem Bankett, in elegantem, schwarzen Anzug und weißem Hemd, mit einem Ring am kleinen Finger, der einen sehr langen Nagel hatte. Sein selbstzufriedenes Aussehen war ekelerregend. Er trat zu mir ins Zimmer, und das erste, was er fragte, war:
„Haben Sie Waffen?“
„Ja“, sagte ich und wollte in die Nachttischschublade neben dem Bett greifen und den Revolver mit der Inschrift „Dem Führer der proletarischen Revolution von Klim Woroschilow“ herausnehmen.
Plötzlich packte Berman meine Hand, als hätte er Angst, ich könnte auf ihn schießen, und nahm den Revolver selbst aus der Schublade, las die Inschrift und grinste, offenbar, weil er eine unerwartete Trophäe gefunden hatte, was dem „Herrn“ sicher gemeldet werden würde.
„Noch mehr Waffen?“
„Ja.“ Wir hatten noch ein deutsches Jagdgewehr, das A.I.Rykow N.I. in den zwanziger Jahren aus Berlin mitgebracht hatte.
Dann wollte Berman gezeigt bekommen, wo Bucharins Archiv sei. Ich fragte, was er darunter verstände. Wie sich herausstellte, einfach alles. Ich ging mit ihm durch das Zimmer von Iwan Gawrilowitsch, neben dem der Arzt saß, ins Arbeitszimmer. Dort traf ich einen ganzen Haufen Männer und zwei Frauen an. Alle machten sich an die Arbeit. Aus dem Safe zerrten sie die Sitzungsprotokolle des Polibüros und die Stenogramme der ZK-Tagungen, leerten alle Schreibtischschubladen und die Schränke mit den Dokumenten von Bucharins langjähriger Arbeit bei der 'Prawda‘, der Komintern, dem wissenschaftlichen Forschungsbereich und der 'Iswestija‘. Bücher und Broschüren, die Bucharin geschrieben hatte, und seine veröffentlichten Reden wurden beschlagnahmt. Aus dem Zimmer, wo wir die letzten qualvollen Monate verbracht hatten, nahmen sie die Mappe mit Lenins Briefen und den Entwurf für ein Parteiprogramm mit - das Projekt war 1919 auf dem VIII. Parteitag der RKP(B) verabschiedet worden. In der Tischschublade fanden sie einige Briefe mit interessanten Beschreibungen von Naturerscheinungen, die ich als Kind von N.I. bekommen hatte... Der handschriftliche Text und das maschinengeschriebene Exemplar des Poems auf Sergo Ordshonkidse wurden konfisziert. Sosehr ich Berman auch bat, mir meine Briefe und das handschriftliche Poem zu lassen, da es Dokumente seien, „die keinen Bezug zur Untersuchung haben“, wie ich es begründete - im übrigen, was hatte schon bezug zu jener schändlichen „Untersuchung“? -, er lehnte es ab. So wurde alles bis auf den letzten Fetzen beschlagnahmt. Sie warfen es auf einen großen Haufen, den sie „Archiv“ nannten und der sich wie ein Berg im Arbeitszimmer türmte. Barbarisch löschten sie die Spuren von Bucharins ehrlicher und engagierter Tätigkeit, um die Gestalt des wirklichen Bucharin von der Erdoberfläche zu tilgen und sie durch die des verleumdeten zu ersetzen, der vor Gericht trat und der doch auch nicht ganz so war, wie Stalin und seine eifrigen Diener gewollt hatten. Dann ließen sie einen Lastwagen vor dem Hintereingang vorfahren, luden ihn bis obenhin voll (ich sah aus dem Küchenfenster) und fuhren alles weg, vermutlich zum NKWD.
Berman, die beiden Frauen und einige Männer blieben. Eine demütigende Prozedur begann: die Leibesvisitation.
Sie hoben Iwan Gawrilowitsch aus dem Bett, bedrückt und erschüttert stand er da. Er erzitterte vor Erregung, als sie in seinen Taschen wühlten und alles im Bett umdrehten. Wie sie Nadeshda Michajlowna durchsuchten, habe ich nicht gesehen. Dann gingen sie in das Zimmer, wo das Kind mit seiner Amme war. Die Kinderfrau Pascha war kämpferisch gestimmt, sie ließ sich nicht durchsuchen, stieß den NKWD -Mann und schrie: „Sucht nur! Sucht nur! Ihr findet hier nichts, ihr Schamlosen!“ Das Kind schlief friedlich. Sie wollten an sein Bett treten, aber das verhinderte ich energisch. Den Kinderwagen durchsuchten sie trotzdem.
Ich blieb von der Leibesvisitation verschont. Ich war im Nachthemd gewesen, als sie kamen, und blieb bis zum Schluß darin, Aber die Betten, meine und N.I.s, prüften sie genau.
Gegen Mitternacht hörte ich Lärm aus der Küche und ging, um zu sehen, was da los war. Das Bild, das sich mir bot, machte mich fassungslos. Die „Kollegen“ hatten Hunger bekommen und veranstalteten ein Gelage. Weil der Küchentisch für alle nicht reichte, hatten sie es sich auf dem Fußboden bequem gemacht. Statt eines Tischtuchs hatten sie Zeitungspapier ausgebreitet, und darauf erblickte ich eine riesige Schinkenkeule und Wurst. Auf dem Herd brieten sie Siegeleier. Fröhliches Gelächter ertönte. Vor Entsetzen verschwand ich so schnell wie möglich wieder in mein Zimmer, und sofort fielen mir die gerade auswendig gelernten Worte aus N.I.s Brief ein: „Heutzutage sind die sogenannten Organe des NKWD in der Mehrzahl entartete Organisationen von ideenlosen, demoralisierten, gut versorgten Beamten“... Genau das waren diese Vollstrecker, aber wer hatte sie verdorben?
Hinter mir betrat Berman das Zimmer und lud mich ein, mit ihnen Abendbrot zu essen.
„Sie haben ja gar nichts gegessen, Anna Michajlowna, wollen Sie vielleicht nach Bucharins Beispiel in Hungerstreik treten?“ fragte Berman.
Ich antwortete schroff:
„Nein, ich beabsichtige keinen Hungerstreik, aber mit Ihnen setze ich mich weder an einen Tisch noch auf einen Fußboden.“
Berman schmunzelte ironisch und teilte mir mit, daß er jetzt ginge und nur die „Kollegen“ blieben.
Ich fragte, bei wem ich mich nach N.I. erkundigen könnte. „Das können Sie bei mir...“, sagte Berman sofort und nannte mir seinen Namen und seine Tefelonnummer. So erfuhr ich, daß er Berman hieß.
Nachdem sie gut gegessen hatte, fingen die „Kollegen“ an zu singen. Neben der Küche befand sich Iwan Gawrilowitschs Zimmer. Wie muß ihm bei alledem zumute gewesen sein! Aus Angst, die fröhliche Gesellschaft würde das Kind wecken, ging ich in die Küche, um sie zur Ruhe zu bringen. Die „Kollegen“ dachten nicht daran, sich zu entschuldigen, aber zu meiner Freude sagten sie mir, daß sie gehen würden. Stille kehrte in der Wohnung ein. Aber es gingen nicht alle, die Frauen blieben. Sie hatten die Aufgabe, alle Bücher in Bucharins Bibliothek durchzublättern, weil man hoffte, vielleicht in den Büchern etwas zu finden, was ihn in Mißkredit brächte. Das Durchblättern dauerte vierundzwanzig Stunden. Ich ging mehrmals ins Arbeitszimmer und in das große, dunkle Zimmer mit gewölbter Decke, wo die Bücherregale standen. Die ermüdeten Frauen blätterten und blätterten unaufhörlich. Ich bezweifle, daß sie alle Bücher durchblättern konnten. Bevor sie gingen, versiegelten sie die Bücherschränke.
Ich lag mehrere Tage wie tot im Bett. Die Reaktion auf die lange Nervenanspannung trat ein. Noch lange quälte mich die Einbildung, das Geräusch des Umblätterns von Seiten zu hören.
Nadeshda Michajlowna legte ihr medizinisches Korsett an (anders konnte sie sich nicht bewegen) und kam zu mir ins Zimmer gekrochen. Wir konnten einander nicht trösten. Wir tauschten unsere Eindrücke von der Durchsuchung und unsere finsteren Prognosen für N.I.s und Rykows weiteres Schicksal aus und beobachteten voller Schmerz das Kind. Jura krabbelte durchs Zimmer und suchte und rief nach seinem Vater.
Niedergeschlagen und von der langen Folter geschwächt, versuchte ich nach einigen Tagen, meine Kräfte zu mobilisieren. Ich mußte mich mit dem Kind beschäftigen, das ein halbes Jahr lang nicht die nötige mütterliche Fürsorge bekommen hatte. Außerdem drängte es mich, Nachricht über N.I. zu bekommen, solange man uns das Telefon noch nicht abstellte. Die Nummer, die Berman mir gegeben hatte, konnte ich nur von diesem Apparat aus erreichen. Eine Woche nach N.I.s Verhaftung beschloß ich anzurufen, um mich nach ihm zu erkundigen. Eine Männerstimme antwortete, ich erkannte Berman. Aber als er hörte, wer am Apparat war, antwortete er selbst: „Berman ist nicht im Dienst.“ Ich rief jeden Tag an. Allmählich erkannte Berman meine Stimme und antwortete weiterhin, daß er nicht da sei, ohne auch nur zu fragen, wer am Apparat sei. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und schrie: „Warum lügen Sie? Ich erkenne doch Ihre Stimme!“ Sofort legte Berman auf. Am gleichen Tag rief er von sich aus an, offenbar mit Jeshows Genehmigung. Er diktierte mir eine Liste mit Büchern, die N.I. aufgestellt hatte. Es waren die deutschen Bücher, die er 1936 in Berlin gekauft und mit denen er schon zu Hause gearbeitet hatte. Ich bekam die Genehmigung, den versiegelten Schrank zu öffnen.
„Geben Sie die Bücher dem Untersuchungsleiter Kogan, ein Passierschein wird bestellt“, sagte Berman.
Als ich gerade losgehen wollte, rief Kolja Sosykin an, bot an, mich zu begleiten, und kaufte unterwegs für N.I Apfelsinen, möglicherweise mit Geld, das das NKWD ihm dafür gegeben hatte. Vor dem Eingang am Lubjankaplatz trennten wir uns.
Koran saß in einem kleinen, schmalen und langen Arbeitszimmer, das einen Sarg ähnelte. Er begrüßte mich betont höflich.
„Sehen Sie, Anna Michajlowna, erst gestern abend habe ich mich in diesem Zimmer mit Nikolaj Iwanowitsch unterhalten, wir haben zusammen Tee getrunken. Er ist ja ein großes Leckermaul, ich mußte ihm sechs Stück Zucker ins Glas tun.“
„Merkwürdig, das tat er zu Hause nie. Es verlangt ihn wohl nach Süßem wegen des bitteren Lebens? Nikolaj Iwanowitsch und ich verstehen uns gut, und die Apfelsinen haben Sie umsonst mitgebracht, er hat alles. Bringen Sie sie lieber dem Kind.“
Aber ich nahm sie nicht zurück.
Dann hielt Kogan mir einen Notizzettel hin, auf dem in N.I.s Handschrift stand: „Mach Dir keine Sorgen um mich. Man schmeichelt mir hier immerzu und kümmert sich um mich. Schreib, wie es Euch geht. Was macht das Kind? Laß Dich mit Jura fotografieren und schick mir das Bild. Dein Nikolaj.“
„Das klingt ja, als wenn N.I. hier im Sanatorium wäre“, sagte ich zaghaft, so verblüfft war ich über den Inhalt des Briefes, “'man schmeichelt und kümmert sich um mich.'“
„Er kann hier sogar arbeiten.“ Und Kogan schob mir ein Manuskriptblatt mit dem Anfang von Bucharins Arbeit „der Kulturverfall des Faschismus“ zu.
Als ich die Überschrift las, bemerkte ich:
„Kommt es Ihnen nicht paradox vor, daß der Faschistensöldling Bucharin an einem antifaschistischen Buch arbeitet?“
Kogan errötete:
„Das geht Sie nichts an! Wenn Sie hier die Untersuchung ansprechen, dann haben wir uns heute zum letzten Mal gesehen. Andernfalls dürfen Sie mich gelegentlich anrufen und zu mir kommen, um sich nach N.I.s Ergehen zu erkundigen.“
Kogan erinnerte mich daran, daß ich N.I.s Notiz erwidern sollte. Ich schrieb kurz von unserem „nicht schlechten“ Ergehen, vor allem von Jura, und versprach, die Fotografien zu bringen. Kogan bestand darauf, daß ich schreiben sollte, daß wir nach wie vor im Kreml wohnten. Ich übersah nicht, welchen geheimen Sinn das vielleicht hatte, lehnte es ab, das zu schrieben, und erklärte dem Untersuchungsleiter, daß ich nur auf den Tag warte, an dem ich den Kreml verlassen könnte.
Wir verabschiedeten uns, der Untersuchungsleiter drückte mir kräftig die Hand. Ich sah ihn an, und unerwartet bemerkte ich in seinen Augen unbeschreiblichen Kummer.
Ich erhob mich, um zu gehen.
„Meine Telefonnummer, Anna Michajlowna, schreiben Sie sie auf!“
Er schrieb sie selbst auf einen kleinen Zettel, bat mich, sie nicht zu mißbrauchen und nicht eher als in zwei Wochen anzurufen und die Fotos zu bringen.
Zwei Wochen später waren die Fotos fertig, und ich versuchte, Kogan zu erreichen. Nach vielen versuchen teilte Kogans Nachfolger mir mir:
„Untersuchungsleiter Kogan befindet sich auf einer langen Dienstreise. Es hat keinen Zweck, ihn anzurufen.“
Wer jene Zeit erlebt hat, weiß, was die „lange Dienstreise“ bedeutete. Man erlaubte mir nicht, weiter anzurufen, mich nach N.I. zu erkundigen oder die Fotos zu übergeben.
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