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Wieder Massenfestnahmen in Leipzig

128 Personen gestern nachmittag noch in Haft / Mehrere tausend Menschen vor Leipzigs Nikolaikirche / Polizei verhaftete überall in der Stadt / Gründungsmitglied des Neuen Forums nach seiner Freilassung: „Breite Solidarität nötig“ / Neues Forum planmäßig angemeldet  ■  Von Petra Bornhöft

Berlin (taz) - Weit über hundert Personen, die am Montag abend in Leipzig nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche festgenommen worden waren, befanden sich gestern nachmittag noch in Polizeigewahrsam. „Es ist zu befürchten, daß weit mehr als die 128 Personen, von denen wir wissen, festgenommen wurden“, erklärte Michael Arnold, Leipziger Koordinator der Gruppe „Neues Forum“, nach seiner Freilassung zur taz. Arnold (25) war beim Verlassen eines Pfarrhauses festgenommen worden. Er bestätigte, daß am Dienstag in Leipzig - wie in insgesamt zehn von 14 DDR -Bezirken - die Zulassung des „Neuen Forums“ bei den Behörden offiziell beantragt wurde.

Verschiedenen Augenzeugenberichten zufolge sperrten Hundestaffeln und Polizeiketten am Montag nachmittag die Leipziger Innenstadt hermetisch ab. Die ersten vier Verhaftungen erfolgten, als sich Schaulustige hinter den Polizeiketten über das martialische Aufgebot empörten. In der mit etwa 1.500 Menschen total überfüllten Kirche forderte ein Pfarrer dazu auf, nach dem Gebet schnell und ruhig nach Hause zu gehen sowie sich auf keinerlei Provokationen einzulassen. Rasch zerstreute sich die Menge und wich hinter die Polizeiketten zurück. Nur wenige hundert Menschen standen noch auf dem Kirchvorplatz herum und unterhielten sich, als die Polizei plötzlich die Ketten öffnete: rund 3.000 strömten auf den Kirchplatz, sangen die „Internationale“ und „We shall overcome“.

Plötzlich begannen an einer Ecke Betrunkene zu randalieren. Weil dies das Signal für die Verhaftungen war, wird in Leipzig vermutet, daß es sich beim Auftritt der Suffkis um „eine gezielte Provokation“ handelte. Die Festgenommenen wurden auf bereit stehende Lkws verfrachtet und wegtransportiert. Zur gleichen Zeit und bis in den späten Abend hinein griffen „Sicherheitskräfte“ an anderen Stellen der Stadt zu. Es wird von Festnahmen am Bahnhof - er liegt rund zehn Fußminuten von der Nikolaikirche entfernt - und in Seitenstraßen berichtet. „Wir haben immer noch keinen genauen Überblick“, hieß es gestern nachmittag aus Kirchenkreisen.

Während etliche Personen, darunter viele Schaulustige, willkürlich festgenommen wurden, traf es Michael Arnold vom „Neuen Forum“ gezielt. „Man hat einen Grund gesucht, mich zu inhaftieren“, so Arnold in einem taz-Interview, „ich war im Pfarrhaus und habe von dort die Ereignisse draußen beobachtet. Nachdem die polizeilichen Maßnahmen auf dem Nikolaikirchplatz beendet waren, verließ ich das Pfarrhaus. Vor der Haustür wurde ich dann mitgenommen. Die Behörden wollten mir eine Straftat, das Fotografieren polizeilicher Maßnahmen, nachweisen. Aber ich hatte weder Fotoapparat noch Filme bei mir.“ Gestern mittag wurde er freigelassen. Fortsetzung auf Seite 2

Interview auf Seite 6

Siehe auch Seite 7

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Eigentlich hatte Arnold morgens persönlich die Gründung des „Neuen Forums“ den Behörden mitteilen wollen. Die Initiativgruppe hatte sich vor gut einer Woche mit dem Dokument „Aufbruch 89“ (taz vom 13.9.) zu Wort gemeldet. Seither unterzeichneten 1.500 Menschen den Aufruf.

Unterdessen hat die Ostberliner Zionsgemeinde die jüngsten Festnahmen scharf verurteilt. Die „Übergriffe“ seien als „vorsätzlich herbeigeführte allgemeine Verschärfung der innenpolitischen Situation“ angeordnet worden. Das Schreiben bezieht sich auch auf die

142 Festgenommenen vom letzten Montag, von denen immer noch elf eingesperrt sind.

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