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Ein Ende der Toleranz in Sicht?

Mit dem Streit um die Berliner Stromtrasse stellt die AL die Koalitionsfrage  ■ K O M M E N T A R

Irgendwann mußte es ja einmal soweit sein. Alles mögliche hat die AL bisher geschluckt, aber beim Bau der überdimensionierten Stromtrasse wollte sie nicht mehr. Die Koalitionsfrage haben die AL-Mitglieder damit unausgesprochen gestellt, aber zu einem „Bruch“ wird es wohl kaum kommen. Die SPD wird sagen: So nicht. Und die nächste Versammlung der AL-Mitglieder wird einberufen. Weil die Frage dann so brisant geworden ist, werden nicht nur knapp 400, sondern um die 1.000 Mitglieder kommen. Und wer die Strukturen der AL kennt, weiß: um so größer die Versammlungen, desto weniger radikal werden die Beschlüsse. Die sonst schlafenden Karteileichen werden dann wohl für die Koalition stimmen - und für die Stromtrasse.

Die Stromtrasse war am Mittwoch freilich nur nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Viele AL -Mitglieder haben die Nase einfach voll, daß die SPD immerfort nur Koalitionsdisziplin und ein Ja zu allen, vom alten CDU-Senat angeleierten Projekten verlangt. Zuletzt beim kommunalen Ausländerwahlrecht hatte die SPD sich so sehr gegen einen konkreten Termin gesperrt, daß selbst den bestgesonnenen Mitgliedern der AL immer größere Zweifel am politischen Willen des roten Koalitionspartners aufkam. Wie so oft hatte die SPD links geblinkt, um dann - endlich an der Regierung - rechts abzubiegen. Insofern hat die SPD selbst schuld an dieser Entscheidung der AL.

Die Berliner SPD hat anscheinend bis heute nicht begriffen, daß sie mit dem rot-grünen Experiment nicht nur Grüne in den Regierungsapparat integrieren kann, sondern ihre bisherige Herangehensweise an Politik zu verändern. Eine gesellschaftliche Mehrheit für Rot-Grün entsteht gewiß nicht dadurch, daß die SPD bei allen konfliktträchtigen Entscheidungen den Kopf in den Sand steckt. An Reformprojekte wagt sie sich nur heran, wenn die Meinungsumfragen eine satte Mehrheit anzeigen. Daß Reformpolitik gerade auch über gesellschaftliche Polarisierung verwirklicht wird, will ihr nicht in den Sinn. Die Berliner Situation ist dafür symptomatisch: Selbst bei den Busspuren weicht die SPD zurück, wenn Gewerbetreibende auf dem „Ku'damm“ erste Proteste anmelden, und die Tempo-100 -Schilder auf der Avus wurden bei Nacht und Nebel aufgestellt.

Die AL ist zu Recht empört. Nur, was folgt daraus? Den ÖkosozialistInnen, die gegen die Koalition gestimmt haben, ging es konsequenterweise darum, die Koalitionsfrage in der AL neu zu stellen. Dies verband sich mit einem lange angestauten Unmut „der Basis“ und mit dem konkreten Interesse der „Spandauer“, dem von der Stromtrasse am meisten betroffenen Bezirk. Sie wollten das Beste, machten allerdings Politik, als ob die AL noch eine Bürgerinitiative wäre, ganz nach dem Motto: „Je radikaler wir auf unseren Forderungen beharren, um so wahrscheinlicher bekommen wir etwas davon durch“. Verrückt daran ist, daß gerade jene, die voller Hauruck-Euphorie in die Koalition gingen und damals den Dissens mit der SPD nicht thematisieren wollten, nun mit dem selben Hauruck die Stoppschilder aufstellen.

Es ist jedoch eine Fehleinschätzung zu glauben, in dieser Situation ohne Aussicht, daß der Senat einen Prozeß gegen die BEWAG gewinnt, könnten mit einem kategorischen Nein der AL die kritischen Kräfte in der SPD gestärkt werden. Das Gegenteil dürfte eintreten, zumal einige in der AL einen Vorschlag entwickelt hatten, der die SPD zum Mitmachen hätte zwingen können. Aber politisch-strategisch zu denken, ist die Sache der AL nicht, wenigstens nicht derer, die am Mittwoch abgestimmt haben.

Ursel Sieber

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