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Für eine lustigere Gesellschaft!

Die Kinder des Prager Frühlings betreten die Szene / Happenings aufder Moldau, Lesungen auf der Karlsbrücke / Eine Klagemauer namens „John-Lennon-Peace-Wall“, die immer wieder neu gestrichen wird  ■  Von Margarete Güstrow

Auf dem Stadtplan Prags ist sie leicht zu finden, die „Politickych vesnu“, die Straße der politischen Gefangenen. Parallel zum Wenzelsplatz verlaufend, bildet sie so etwas wie einen Gedankenstrich zwischen Bahnhofsviertel und Altstadt. Das Transitorische scheint ihr auf den Leib geschrieben: Wer sich zur Rush-hour durch diese Gasse schiebt, will in der Stadt noch schnell Zerstreuung finden, wer sich in umgekehrter Richtung empor arbeitet, sieht im Gedanken schon den Zug abfahren.

Kaum jemand denkt wohl daran, daß sich hier einmal das Hauptquartier der Gestapo befand. Ein Umstand, dem die „Politickych vesnu“ ihren Namen verdankt. Das historische Zitat aufgreifend, haben junge Leute den Ort einstigen Naziterrors zum Schauplatz ihres Protests gemacht. Täglich um 17 Uhr findet hier ein gemeinsamer Lauf statt, der an die Inhaftierung von Regimekritikern in der CSSR erinnern soll.

Donnerstag nachmittag, kurz vor fünf: zwei Mädchen liegen im Gras auf der Grünfläche am oberen Ende der Straße. Gehören sie der Gruppe an oder sind es bloß Touristinnen? Die Frage klärt sich von selbst, als immer mehr Jugendliche sich einfinden. Lange Haare, weite Pullover, Jeans, Peace -Abzeichen, Sticker mit dem Porträt Petr Cibulkas, des inhaftierten Musikverlegers, Solidarnosc-Plaketten und Perestroika-T-Shirts in kyrillischer Schrift. „Ahoi!“ Mit dem Gruß der Prager Jugend wird inzwischen auch der Vater begrüßt, der mit dem Kleinkind auf den Schultern und dem Schulkind an der Hand den Treffpunkt erreicht. Als eine Unterschriftenliste herumgeht, besteht kein Zweifel mehr an der Identität der Gruppe. Es sind Leute der SES, der „Gesellschaft für eine lustigere Gegenwart“, die mit ihren Happenings in diesem Sommer schon mehrmals Aufsehen erregten. Einmal mieteten sie sich ein Boot auf der Moldau und entrollten ein Transparent, auf dem zu lesen stand: „Immer seid ihr am Ruder, heute sind wir es!“ Ein anderes Mal mimten sie mitten auf der Straße eine Prügelszene zwischen Polizei und Demonstranten. Anstatt von Schlagstöcken verwendeten sie Salamis, die später gemeinsam verspeist wurden.

An dem täglichen Protestlauf haben seit Mai an die 3.000 Leute teilgenommen. 50 Menschen sind es jedesmal: Schüler, Studenten, Arbeiter, Rentner. Wie die rollenden Steine setzen sie sich pünktlich um fünf in Bewegung und kullern die Straße hinunter, bis der Autoverkehr der Querstraßen sie zum Halten zwingt.

Einen nicht minder unkonventionellen Zugang zu den Problemen des Landes fanden die „Tschechischen Kinder“. Sie tragen Prags schwarzen Löwen im Wappen, nennen ihre Samisdatschrift 'Korona‘, die Krone, und bekennen sich zu Gott, König und Vaterland. Ironisierend meinen sie, ein echter Monarch wäre ihnen lieber als die jetzigen Bewohner der Burg.

Unter den Studenten ist längst nicht mehr die Angst das dominierende Lebensgefühl. Ausschlaggebendes Moment waren die Veranstaltungen im Jänner 1989 anläßlich des Todestages von Jan Palach. Viele der „Kinder des Prager Frühlings“, die während der „Normalisierung“ zur Schule gingen, hörten zum ersten Mal von der Selbstverbrennung vor zwanzig Jahren. An der Uni, wo bei der Aufnahme eine strenge Selektion herrscht (Kinder von ehemaligen 68ern haben keine Chance), und wo 90 Prozent der Inskribierten bei der SSM, dem tschechoslowakischen Komsomol, organisiert sind, gab es bisher kaum politisch Interessierte.

Nun tauchten erstmals am schwarzen Brett Plakate auf mit den Forderungen und Wünschen der Studenten. Dem Studentenmagazin 'E.M.‘ (Medizinische Fakultät) ist es als erstem Publikationsorgan der CSSR gelungen, einen Text von Vaclav Havel zu veröffentlichen. Konnte das Schriftstück zufällig die Zensur passieren oder kündigt sich Tauwetter an? „Ich glaube, es ist schon vorbei“, meint Peter, ein Geschichtsstudent, der vor dem Sommer an einigen Meetings teilgenommen hat und durch die Verhaftungen und Suspendierungen demoralisiert ist. Als dringliches Anliegen gilt unter anderem die Einführung des Zivildienstes, da bis jetzt jeder Student zusätzlich zum Militär muß, wobei die Beurteilung der Ausbilder über den Fortgang der Studien mitentscheidet.

Neun Uhr abends auf der Karlsbrücke: im Dämmerlicht wird dieses Wahrzeichen Prags zum Treffpunkt der Jugend. An die Brüstung gelehnt steht ein schmalgesichtiger Mann, er hält ein Buch in Händen und referiert über den Hitler-Stalin -Pakt. Um ihn herum haben sich Menschen gruppiert, einige erkenne ich wieder, doch die meisten sind Passanten. Eine Kerze erhellt die Gesichter. Der Vortrag hat kaum begonnen, da sind auch schon Uniformierte zur Stelle. Sie kontrollieren die Ausweise der Leute, während der Vortragende mit monotoner Stimme weiterspricht.

Unweit der Karlsbrücke am linken Moldau-Ufer liegt die Kampa-Halbinsel. Wer hier durch die engen Gassen flaniert, steht früher oder später vor einer etwa zwei Meter hohen Mauer in Schönbrunnergelb. Eine Toreinfahrt, ein Lindenbaum, ein Kandelaber. Wir befinden uns vor der „John-Lennon-Peace -Wall“, an der sich die Mitglieder der gleichnamigen Gruppe versammeln. „Let the sunshine in“, steht da zu lesen, und weiter unten: „All we are saying is give peace a chance!“ Auf Russisch hat einer geschrieben: „Es lebe die freie Meinungsäußerung!“. „Laßt die Unschuldigen frei!“ fordert jemand mit ungeduldiger Handschrift. Die Namen der inhaftierten Bürgerrechtskämpfer tauchen immer wieder auf, darunter auch der des vor zwei Tagen verurteilten Stanislav Devaty.

Mehrmals wurde die Mauer neu gestrichen. Vergebens! Die Schreibwütigen gehen um. Auch an Lesern mangelt es nicht. Sie stehen davor wie vor den Bildern einer Ausstellung. Schrittweise bewegen sie sich weiter von einer Inschrift zur nächsten. Sie lassen keine aus. Das Mädchen mit dem Dalmatinerhund an der Leine genausowenig wie die weißbeschuhte alte Dame oder der junge Mann mit dem sorgfältig gescheitelten Haar. Dem Andachtsort gegenüber befindet sich ein Mietshaus. Zwischen den Fenstern der Belle Etage entdeckt das ans Barocke gewohnte Auge des Touristen einen eisernen Arm mit einer Videokamera. Ungeniert ist sie auf das subversive Stück Mauer gerichtet.

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