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„Russen dürfen höher bauen als Deutsche“

Im rheinhessischen Guntersblum sträuben sich die BürgerInnen gegen eine 200köpfige „Pfingstgemeinde“ / Nach anfänglichem Willkommen gerät die deutschstämmige Religionsgemeinschaft aus der UdSSR zunehmend in die Isolation  ■  Von Joachim Weidemann

Guntersblum (taz) - Krumme Nägel liegen auf einem Brett am Boden. Alles wirkt aufgeräumt. Die Deutschen aus der Sowjetunion, die hier seit 7 Uhr an ihren Häusern zimmern und mauern, halten ihre Baustelle sauber. Zwei zehnjährige Mädchen mit Kopftüchern und langen Röcken schaufeln Sand zum Sieben auf einen ausrangierten Bettrost. Der Sand ist für Zement bestimmt - Zement, der einmal 20 Häuser zusammenhalten soll: Die neue Heimat der 200 Seelen zählenden Pfingstgemeinde aus dem ostsibirischen Tschugujewka. Sie will sich nach langer Odyssee am Rhein zwischen Mainz und Worms niederlassen: Im Weinort Guntersblum, das selbst nur 3.100 Einwohner hat. Guntersblum - das gelobte Land der PfingstlerInnen? Doch der Anschein trügt. Schon geifern erste Neider: „Das sind ja doch nur Wirtschaftflüchtlinge.“

Den PfingstlerInnen droht erneut die Isolation. Viktor Walter, „Ältester“ der Pfingstgemeinde, sieht diese Gefahr. Doch die Probleme, die ihnen nun bevorstehen, seien nichts im Vergleich zu ihrer Vergangenheit. Walter verbüßte wegen seines Glaubens fünf Jahre Arbeitslager und „war einmal fast schon tot“. Der Geplagte: „Nur weil wir in unseren Papieren 'deutsch‘ stehen haben, schimpfte man uns drüben Faschisten. Dann wieder sagte man uns, wir sollten unseren Glauben sein lassen, dann wäre ja alles in Ordnung und wir bekämen Arbeit.“

1981 wurde die 1975 gegründete Gemeinde um Walter aus Achan -Garan (Usbekistan) vertrieben und ins ostsibirische Tschugujewka (nahe Wladivostok) verbannt. Dort aber sprengten weiterhin bewaffnete Milizionäre die Gottesdienste. Die Lage wurde schlechter, Ende 1988 wanderten sie deshalb in die BRD aus. In Guntersblum fühlen sie sich jetzt sicher, beteuert ein Junge, der die Hauptschule im nahen Dolgesheim besucht. Seine jüngeren GefährtInnen gehen in den Guntersblumer Kindergarten oder in die Grundschule, wo LehrerInnen ihnen Deutsch-Nachhilfe geben, freiwillig. Der Start war gut. Zu gut vielleicht.

Verflogen scheint die Neugierde, die die Guntersblumer im Februar noch in die Turnhalle getrieben hatte, wo die PfingstlerInnen sich vorstellten. Die Stimmung schlägt um, und den bunten Abend am Anfang des Jahres nennt ein Guntersblumer heute nur noch „Zurschaustellung“. Ein dickbäuchiger Nachbar: „Die sind mir egal, solange sie mir nichts tun. Aber einige Nachbarn haben sich schon beschwert, daß die Russen höher bauen dürfen als die Einheimischen.“

Eine gebürtige Schleserin, die vor 30 Jahren nach Guntersblum gekommen war, hat ihre Erfahrung gemacht: „Die echten Guntersblumer sind ja dagegen, daß die hierher kommen. Sie sagen, die nehmen uns unsere Arbeit weg und kriegen auch noch Geld zum Bauen. So reden die Leut‘ aber nur, wenn sie unter sich sind, sonst trauen sie sich nicht.“ Die Guntersblumer, die man auf der Straße nach den Neubürgern fragt, scheuen zurück und drucksen herum. Der Frau im Bäckersladen fällt nur auf, daß noch keiner bei ihr ein Brot eingekauft hat: „Die gehen wohl lieber in den Supermarkt.“ Der junge „Kronen„-Wirt lobt zwar, wie fleißig die Aussiedler „mit Mann und Maus“ ihre Häuser bauen. Aber: „Diejenigen im Ort, die für ihr Geld hart arbeiten müssen, sind halt sauer und reagieren rechts - wegen der Zuschüsse, nicht wegen der Leute.“

SPD-Ortsbürgermeister Gottlieb Spies weiß von den Neidern. Die Zuschüsse seien aber gar nichts Besonderes, „einfach nur Bundes- und Landesdarlehen, wie sie auch die anderen Flüchtlinge aus dem Osten bekommen haben.“ Der Zinssatz dafür liegt bei zwei Prozent, während bei einem gewöhnlichen Darlehen acht bis zehn Prozent fällig sind. Spies kennt jedoch andere Ursachen der „Zurückhaltung einiger Guntersblumer“. So haben die Männer unter den AussiedlerInnen fast alle einen Arbeitsplatz gefunden, im Zementwerk oder der Autofabrik. Die Meister dort hätten die zuverlässige Arbeitsweise der Neuen schon gepriesen, sagt Spies. „Arbeiten bedeutet für diese Leute noch Gottesdienst. So nehmen sie jede Arbeit an.“ Dann beginnt der Sozialdemokrat Spies plötzlich zu grübeln: „Überhaupt lebt diese Pfingstgemeinde uns etwas vor: eine Gemeinschaft, die uns längst verloren gegangen ist. Bei uns kämpft doch jeder gegen jeden, und ein Freund zählt nur nach seiner Funktion. Diese Menschen aber helfen einander, auch wenn sie gar keinen Nutzen daraus ziehen.“ Die Alten im Dorf geben Spies recht: „So etwas gab es auch bei uns einmal.“

Neben Spies zählt der evangelische Pfarrer Dieter Michaelis zu den wenigen Freunden der Russendeutschen. Setzt Spies sich bürokratisch für die AussiedlerInnen ein und hält Kredithaie und anderes Betrügerpack von ihnen fern, so verhilft Michaelis der Gemeinde zu ihrem Grundrecht auf freie Religionsausübung: Er stellte das Gemeindehaus für Gottesdienste zur Verfügung. Michaelis ist begeistert von Art und Aura dieser Gottesdienste und von Viktor Walters freier Predigt. „Zwei Stunden lang versammeln sich dort an die 200 Gläubige, und nicht ein einziges Kind fängt an zu quengeln. So etwas kann man sich als Pfarrer hier nur wünschen.“

Den Guntersblumern aber sind die PfingstlerInnen ob ihrer Religion suspekt. Sie wundern sich, daß diese Leute ihre Toten beerdigen, ohne daß einer der Ortspfarrer dabeisteht. Und sie fragen sich nach dem Grund des Kindersegens der PfingstlerInnen, die schnell als Sekte abgestempelt wurden, obwohl Michaelis dem entgegenarbeitete. Denn die Pfingstgemeinde zählt zu den evangelischen Freikirchen und zur Ökomene. Richtschnur der Gläubigen ist strikt das Neue Testament. Ihre Lebensweise erinnert an die der christlichen Urgemeinde. Überdies meiden sie Alkohol, Rauchen und Verhütungsmittel. Sie predigen in Deutsch und Russisch.

Bis bei den Guntersblumern Verständnis für eine solche Lebensart wächst, mag es lange dauern. Momentan gibt es noch viele „Leserbriefschreiber“, so Spies, „die dann Reportern in die Arme laufen, ihrem Unmut Luft machen und einen falschen Gesamteindruck hinterlassen“. Michaelis etwa verweist stolz auf eine Hilfsaktion, die spontan ein ganzes Lager von Möbeln erbracht habe. Doch wird man es den Russendeutschen nicht wieder falsch auslegen, wenn sie diese Spende annehmen? Nach dem Motto: „Jetzt nehmen die uns auch noch die Möbel?“. In Guntersblum lebt eine türkische Familie. Es dauerte zehn Jahre, bis sie richtig „dazugehörte“.

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