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Räume, Zeiten und Maschinen

■ In den letzten 200 Jahren ist aus der Göttin Natur eine informationsverarbeitende Maschine geworden

Helmut Reinicke

Die Genealogie von Räumen, Zeiten und Maschinen, die ich vorstellen möchte, ist eine Geschichte von Abstraktionen, die Erstaunen, Zweifel oder Angst hervorriefen. Die Welt wird zwar derart abstrakt, daß unser Wahrnehmungsvermögen zu ihrer Anschauung nicht mehr ausreicht, gleichwohl werden Sinnlichkeiten auf je neuer Abstraktionsstufe auch erzeugt. Ich möchte die Sinnlichkeit dieser Abstraktionsgeschichte an einem Schnittpunkt von Entzauberung und Versinnlichung zurückrufen: der Eroberung der Luft durch Maschinen.

Einer der Pioniere in diesem Unternehmen war Parmenides. Er läßt sich in seinem ersten Fragment von Rossen gezogen dahintragen, soweit die Lust ihn nur ankommt. So gelangt er zur Göttin, die ihn huldreich aufnimmt und er der wohlgerundeten Wahrheit unerschütterlich Herz erfährt.

Ein ungeheurer Enthusiasmus ging um die Welt - Goethe sprach von einer „Weltbewegung“ - nachdem die Brüder Montgolfier am 4.Juni 1783 eine Heißluftkugel hatten steigen lassen und vor allem, als am 21.November Pilatre de Rozier und der Marquis d'Arlandes sich in einer Montgolfiere erhoben, dann am 1.Dezember Prof.Charles und Robert in einem Wasserstoffballon. Die neue Zeit, über die Gelehrte nach der kopernikanischen Wende disputiert hatten, war da; die Menschen hatten sich den neuen Raum eröffnet. Der Aerostat, der Ballon, ist Symbol der Umwälzung der Werte: Ästhetik, Philosophie, das Naturrecht, der Frieden - der Ballon trägt diese freiere und schönere Welt. Charles hatte es verspürt während seiner Luftreise: In feine Luft getaucht, fühle man eine Heiterkeit, wie sie uns sonst unbekannt ist. Der Enthusiasmus will sich diese Heiterkeit aus den Lüften zurückholen. Das Prnzip der Philosophie habe mit dieser neuen Maschine gesiegt - so hieß es. Es war ein Sieg der Vernunft; der Luftball steigt als schöner Schein der Vernunft auf und versinnbildlicht den Fortschritt der Epoche.

In der gegenwärtigen Literatur über neue Maschinen und Technologien stößt man immer häufiger auf „Traummaschinen“ oder „Wunschmaschinen“. Doch welcher Theoretiker könnte die heutige Computergeneration derart emphatisch feiern wie die Aufklärer die Luftkugel? Ein uralter Traum der Menschheit sei in Erfüllung gegangen, so hieß es. „Das größte Verdienst der aerostatischen Maschine ist nicht diß“, so die Zeitschrift 'Das graue Ungeheuer‘ (1784), „daß sie uns in Bewundrung setzt, sondern daß sie uns von der Wolthat der Philosophie überzeugt.“

Diese Traummaschine setzt die Menschen über sich hinaus nicht nur mit Magie, List oder handwerklichem Extrageschick, wie in pädagogischer Absicht im Märchen vorgehalten, nein, in praktischer kollektiver Euphorie, von einem Luftsack gehoben, einem Abstraktum, gleichwohl die Vernunft, alle bürgerlichen Hoffnungen tragend - und dabei ohne jeden bürgerlichen Nutzen. Als Verkehrsmittel schied er wegen mangelnder Lenkbarkeit aus; die Höhenmessungen und sonstigen wissenschaftlichen Erkundungen blieben unerwartet mäßig. Im Kriegsfall fuhr er republikanisch. Das alles war es nicht ganz alte Sehnsüchte holte diese Traummaschine ein: der Luftschwimmer ist der Wahrheit näher. Es ist dieses metaphysische Luftschwimmen, das die Gemüter erhaben macht und erheitert. So ist das Luftschwimmen eine philosophische Kunst, die Maschine ein schönes Werk. In der Kantate, die Joseph Montgolfier zu Ehren nach dem Aufstieg des Ballons „Le Flesselles“ (am 19.Januar 1784) im Lyoner Theater gesungen wurde, wird der Eindruck dieser neuen Himmelfahrten gefaßt: „Ein unendlicher Raum trennte uns vom Himmel, aber dank Montgolfier, den der Genius inspirierte, hat der Flügel Jupiters seine Macht verloren, und der schwache Sterbliche vermag sich den Göttern zu nähern.“

Was nun danach kommt, sind keine Traummaschinen, sondern Maschinenträume. Zwar konnten die Zeppelinschen Luftschiffe, auch die Flugzeuge, im ersten Jahrzehnt des 20.Jahrhunderts noch vorübergehend große Begeisterungswellen hervorrufen; doch nun wurden die Maschinen von Motoren getrieben, sie stießen und schossen durch die Luft, sie schweben und schwimmen nicht mehr. Die Maschinen verändern die Räume. Das Luftmeer war 1908 bereits zur Kategorie räumlicher Macht, der Himmel wieder abstrakter geworden - nach dem Himmelreich und dem Luftmeer oder Luftozean, dem Äther, durchqueren die Flugschiffe und -maschinen nunmehr den Luftraum oder Weltraum. Hinter diesem Abstraktionsprozeß des Raumes liegen Motoren - von Hand betrieben (bei Meusnier), dann durch Dampf (Giffard) oder Gas (Haenlein), Elektrizität (die Brüder Tissandier), schließlich Benzin (Woelfert). Daimler bot seinen Petroleum- und Benzinmotor bereits 1886 dem Ballon-Detachement in Berlin für Luftschiffe an; die Erfolge Zeppelins beruhten auf der Stärke der Motoren. Nicht mehr Kategorien von Glück und Erhabenheit bestimmen nunmehr unseren Diskurs von Räumen und Maschinen, vielmehr Vorstellungen eines Sieges über die Natur, die Eroberung und Beherrschung der Lüfte. Mit den Siegen über die Räume verliert sich die Zeit: ein Gefühl des Endes der Zeiten greift um sich; das Geschichtsdenken verhält sich a la Recherche du Temps perdu. Die erfüllte Zeit blieb aus. Das Ende der Zeiten legt sich in die Eroberung immer abstrakterer äußerer und innerer Räume. Die Menschen fliegen in den Himmel, um die Erde vollends zu beherrschen. Der Sinn der alten Himmelfahrten verkehrt sich. Karl Kraus schreibt 1908 in der 'Fackel‘: „Der Aufstieg des Luftballs war eine Andacht.“ Und später: „Den Weltuntergang aber datier ich von der Eröffnung der Luftschiffahrt.“

Der Jubel, der die ersten Luftreisen begleitet hatte, beschrieb die Selbstvergewisserung über eine neue Zeit. Die Euphorie währte nicht lange. In der Rechtsphilosophie (Paragraph 198) konstatierte Hegel bereits die Abstraktion des Produzierens, „daß der Mensch davon wegtreten und an seine Stelle die Maschinen eintreten lassen kann“. Goethe nimmt die Bedrohung des „Maschinenwesens“ in den Wanderjahren (1830) auf. Mittlerweile ist die Maschine nicht mehr nur Stellvertreter, sondern selbst Produzent von Maschinen. Das verkehrt den Status, den Kant ihr zubilligt „sie bringt ihres gleichen nicht hervor“. Bei Descartes waren Tiere Maschinen gleichgesetzt als Automaten ohne Seele. Wir können fragen, ob nicht angesichts einer sich vereinheitlichenden technologischen Skruktur zu einer Megamaschine (Mumford) aus Überschalltransport, kybernetischer Intelligenz und Telekommunikation die autonome Persönlichkeit des Menschen an die Maschine übergeht; ob nicht der Mensch zu einem passiven Tier wird ohne jenes Descartessche Selbstbewußtsein. Der Mensch wäre dann nicht einmal mehr eine Maschine, die - nach La Mettrie

-selbst ihre Federn aufzieht; ein System von Megamschinen zöge an diesen Federn.

Die Macht von Maschinen über Menschen und über Natur ist ins Unkontrollierbare geraten. Die Technik war bereits in der Entwicklung von Flugmaschinen zum Dynamo des Fortgangs geworden; sie erhält ein Eigenleben, das die erkenntnisgebende Stelle des Mythos einnimmt. Hatte früher die Göttin dem erkenntnissuchenden Menschen unter die Arme gegriffen, so stiften die neuen Maschinen nunmehr die Erkenntnisse über die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist nicht mehr erkennbar - wie bei Kant -, weil sie von Menschen konstruiert ist, sondern weil Maschinen Informationen über die Wirklichkeit geben. Aus seelenlosen Maschinen werden allmählich Kommunikationspartner; die Maschinen werden mit Ängsten beladen, mit freundschaftlichen Affekten, mit Hoffnungen. Ihnen werden Räume des Psychosozialen zugewiesen, welches die Menschen selbst - eben durch die Maschinen - als Entleerung ihres Inneren erleben und erleiden: Maschinen erhalten so den Status von Psychoanalytikern. Irgendwie „denkt“ also diese Maschine; fast ist sie bereits jene Göttin des Parmenides, die uns Weisheit und Herz offenbart. Und in der Tat vermag die neue Maschine Weisheit zu liefern als die Totalität vorhandener Information - aber kann sie jene Göttin ersetzen, kann sie Philosophie „produzieren“?

An den historischen Formen von Raum und Zeit läßt sich eine Abstraktionsgeschichte nachvollziehen, die immer wieder durch Maschinen vergegenständlicht wird. Nun ist Zeit nicht mehr verknüpft mit Gezeiten, mit Sonne, Mond, Ebbe, Flut, Sommer oder Winter. Zeit ist auch nicht mehr das, was unsere Hände produzieren und zum Maß machen. In den Metropolen ist selbst ein „guter Abend“ - also sich die „Zeit bieten“ anachronistisch geworden; es genügt ein „Hi“ oder „Hallo“. Die Zeit wird zum digitalen Raum, den es zu erobern gilt; zur Information. Die Maschinen, die diese Informationen bergen, werden mit Gefühlen ausgestattet: sie werden Wunschmaschinen. Sind dies nun Maschinenträume in jener Eroberungsperspektive der Keplerschen Mondfahrt? Die „Kriege der Sterne“ als Video-Spiele, computergesteuerte Bombardisierungsprogramme oder Überwachungsstrategien sprechen dafür. Oder stecken doch Traummaschinen dahinter, phantasievolle Kommunikation, metaphorisches Spiel, etwas wie künstlerische Produktion?

Die Apokalypse war für die Menschen immer vorstellbar, wenngleich nicht als von Menschen gemachter, sondern als göttlicher Eingriff. Deshalb war Rettung noch zu erhoffen. Johannes schrieb die Apokalypse auf der Insel Patmos. Im gleichnamigen Gedicht heißt es bei Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ Freilich, es gab Krisen, die die Welt erschütterten: die Pest und das Erdbeben von Lissabon. Dennoch war Glück vorstellbar, daran hält das Volksmärchen fest - die Grete erwarb sich das Glück durch List und alte Wissenschaften, von denen sie trotz Männerwelt und neuen Herrschaften nicht abließ; Hans durch sokratische Techniken handwerklicher Arbeit, durch Handwerkskünste, mit denen er die Welt durchzog und es den Herrschaften zeigte. Dieser Glaube an die Potenzen der Arbeit unterliegt noch dem deutschen Idealismus und der Arbeiterbewegung. Doch mit der großen Industrie wurden zugleich destruktive Potentiale dieser Arbeit sichtbar, die den Menschen den Atem verschlugen. Brücken stürzten ein, gigantische Luftschiffe und Kriegsmaschinen bedrohten weltweit die Menschheit. Die Katastrophe als Menschenwerk ist möglich geworden. Philosophische Termini tauchen auf: „Gehäuse der Hörigkeit“, „Grundbefindlichkeit der Angst“ oder „Umnachtung der Vernunft“. Aus einer „verwalteten Welt“, einer „Dialektik der Aufklärung“, einer „instrumentellen Vernunft“ oder einer technologisch gesetzten Eindimensionalität des Menschen scheint der Ausweg versperrt. Mit dem Mythos wirklichkeitsstiftender, informationsproduzierender Maschinen schließt sich der Kreis.

Im Mythos stecken ja immer gesellschaftliche Wahrheiten, Verhängnisse oder auch Hoffnungen. Die Philosophie hat sich nicht ein für allemal aus dem Mythos herausgelöst. Dem Logos folgen neue Formen des Mythos. In dieser Selbstreflexion von Vernunft und ihren Vergegenständlichungen bewegt sich die Philosophie. Über einen neuen Mythos der Technik mag es schwierig sein, empirische Aussagen zu machen. Das ist wohl andererseits der Grund dafür, daß immer mehr Techniker philosophische Fragen stellen. Fragen über Technik und Natur, öko-philosophische Fragen schießen aus dem Boden.

Die Philosophie hat natürlich keine Heilmittel zur Hand, schon gar nicht, wenn die Göttinnen fehlen; aber sie kann sich auf eine Geschichte der Erkenntnis berufen, die listenreich Maschinen zum Prinzip der Philosophie hat erklären können. Darin lag jener Eros der Techne, das summum bonum, das höchste Gut hervorbringend, philosophisches Fragen begleitet.

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