: Das sogenannte Frühwerk
■ Joseph Roth - eine neue Werkausgabe
Die ersten zwei Bände einer neuen Werkausgabe von Joseph Roth liegen vor. Die Editionsgeschichte des Autors spiegelt offenbar einen Wandel der (nicht nur wissenschaftlichen) Einschätzung seiner Werke. Während die journalistischen Arbeiten Roths noch in der Ausgabe von 1974/75 bruchstückhaft und im letzten vierten Band unter „Kleine Prosa“ liefen, schaffte gerade das journalistische Werk den Sprung in Band 1 der neuen Ausgabe. Rund 500 Artikel, Feuilletons, Glossen, Buch- und Filmrezensionen und Reportagen aus den Jahren 1915-23 sind da zu besichtigen. Und genau 13 frühe Gedichte, die man diskret in den Anhang verschoben hat.
Die Ausgabe ist chronologisch aufgebaut und erscheint editorisch gerecht: ein Band für den Journalisten, ein anderer für den Schriftsteller Roth. (Sechs Bände sind insgesamt vorgesehen.)
Zwei Stationen markieren die frühe Laufbahn des Journalisten Roth: Wien und Berlin. Seine erste Reportage schreibt der 25jährige für eine kurzlebige Nachkriegsgründung, die Wiener Tageszeitung „Der neue Tag“. Er berichtet darin über den Steinhof, die Anstalt für Geisteskranke. Roth sympathisiert mit den Irren, weil sie ihm nicht „verrückter“ scheinen als das desorganisierte Nachkriegs-Wien im Übergang von Monarchie zur Republik. Daß Roth seine ersten Interviews mit Geisteskranken macht, ist kein Zufall: Gesellschaftliche Außenseiter werden ein bevorzugtes Thema bleiben.
Seine Rubrik „Wiener Symptome“ war so etwas wie die maßgeschneiderte Form Rothscher Sehweise. Er durfte den sozialen Alltag beobachten und kommentieren. Viel Kritisches liest man da - die miserable Versorgungslage der Bevölkerung, Arbeitslosigkeit und die politische Unfähigkeit der Regierenden boten genügend Anlaß. („Im Sommer wird sich der Staatskanzler der nützlichen Beschäftigung hingeben können, Kohl zu bauen, wenn er etwa an dessen Hervorbringung durch Reden noch nicht genug haben dürfte.“)
Aber es ginge an den Besonderheiten Roths vorbei, wollte man ihn nur auf soziales Engagement abhören. Wenn er seine Personen von der Straße aufsammelte, verloren sie gleichzeitig ein Stück ihrer Identität. Sie wurden zu unterhaltsamen Figuren des Erzählers Roth, mitunter sogar zu Motiven. Trambahnschaffnerinnen, Toilettenwärter, Portiers, Schieber, Kellner und blinde Geiger dienten ihm zwar zu gesellschaftskritischen Artikeln. Aber auch bzw. gerade diese Randfiguren ließen sich stilisieren und einbauen in kleine Geschichten, die unverkennbar „rühren“ wollten. (Roth wußte Bescheid über seinen Hang zum verklärenden Märchen. Er reflektierte ihn öffentlich am 28.12.1919 im „Neuen Tag“ in „Das Märchen vom Geiger“, das eine Art Kunsttheorie Joseph Roths in nuce ist.)
Trotzdem bleiben die „Wiener Symptome“ nicht nur eindrückliches Panoptikum der österreichischen Metropole von 1919/20. Die Rubrik war vor allem eine Schule Rothscher Schärfe und Ironie... und seines Satzbaues. Wer überlegte gewitzte Grammatik schätzt, wird das nicht übersehen. Die (nicht historisch-kritische) Ausgabe verzeichnet sorgfältig jeweils Erscheinungsort und -datum. Man kann beim Blättern also selbst vergleichen.
1920 wechselte Roth nach Berlin. Seine Produktivität füllt die Werkausgabe bis 1923 mit über 1000 Seiten. Ich gebe zu, nicht alle gelesen zu haben. Dafür einen Artikel mehrmals: „Brunner bleibt - ein Dementi“, eine scharfe Glosse über Zensur und urdeutsche Kleingeisterei bzw. beider Einfluß auf die veröffentlichte Meinung in der Weimarer Republik. Sie erschien im Februar 1922 im „Vorwärts“, dem Organ der Sozialdemokratie, für das Roth über zwei Jahre schrieb: „Der populärste Zensor der deutschen Republik soll in Bayern - wo denn sonst? - seinen Lebensabend verbringen. Er wäre wohl geeignet, in der schönen Natur, am Chiemsee, öffentliches Ärgernis zu erregen. Die Landschaft würde an ihm Anstoß nehmen, ohne ihn verbieten zu können.“ Roth entlarvt ohne Anstrengung und linkshändige Moral eine Mentalität. Zensur hört nicht auf, wenn ein beamteter Zensor in Pension geht. „Alle Brunner in Deutschland sind fanatisch. Fanatische Mittelmäßige. Das Maß, mit dem sie messen, ist ihr eigenes Mittelmaß. Sie sind weder verworfen noch erhaben, sie stehen zwischen dem Idealen und dem Verworfenen und sind beider Gegensatz. (...) Ich dementiere also Brunners Abschied. Brunner bleibt ...“ Vermutlich hatte Roth recht.
Die Spannbreite der frühen Arbeiten, Themen und Gewohnheiten des Journalisten Roth reicht in beide Richtungen von politischen Analysen und bissigen Satiren bis zu sentimentalen Milieustudien. Routinierte Kaffeehausplauderei wechselt mit sachkundiger Polemik. Die Unterschiede spiegeln u.a. diverse Auftragslagen, d.h. die politischen Ausrichtungen der Zeitungen, für die Roth schrieb. Er arbeitete annähernd gleichzeitig für den „Vorwärts“ und für die liberal-bürgerliche „Frankfurter Zeitung“. Roth läßt sich nicht ohne weiteres systematisieren. Aber lesen noch immer.
Jan Nicolaisen
Joseph Roth, Werke 1, Das journalistische Werk 1915-23, herausgegeben von Klaus Westermann und Werke 4, Romane und Erzählungen, herausgegeben von Fritz Hackert, Kiepenheuer & Witsch, Köln und Allert de Lange, Amsterdam, 1989. Beide Bände zus. 132 DM)
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