: Laudatio auf Havel
■ Andre Glucksmann sprach in der Paulskirche die Laudatio auf Vaclav Havel / Auszüge
Derzeit macht der nicht nachlassende Strom der Menschen, die den Osten verlassen, Schlagzeilen. Wollen Sie wirklich wissen, warum sie weggehen? Wollen Sie wissen, was den Schritt der Flüchtlinge lenkt? Dann lesen Sie Havel. Er berichtet ganz genau, was jeder Neuankömmling unmißverständlich zu erkennen gibt: „Ich will nicht als Trottel sterben.“
Was ist für Havel der Kommunismus? Antwort: die Tötung der Zeit, die Planung einer abgestorbenen Zeit. Der sozialistische Bürger erlebt das Ende der Geschichte in allen Bedeutungen dieses Begriffes. Die große Geschichte ist abgeschlossen, die kleinen Geschichten sind abgelaufen. Jetzt gibt es nach dem Kalender der Politbürositzungen der Kommunistischen Partei und der rituellen Gedenkveranstaltungen weder Unfälle noch Verschiedenes, sondern bloß noch eine einzige klebrige Beständigkeit. Solch ein abgeschirmtes Leben ist Göttern und Tieren vorbehalten, für die einfach Sterblichen dagegen ist es schlicht Lüge.
Die „Macht der Ohnmächtigen“ (Havel) lebt von der Ohnmacht der Mächtigen. Diese Macht „ist eine Art bakteriologischer Waffe, mit deren Hilfe - wenn die Bedingungen reif werden ein Zivilist eine ganze Division entwaffnen kann“. Havel schrieb dies im Jahr 1978. Im Jahre 1989 löste ein Mann in Peking den Satz ein. Die ganze Welt wird das unglaubliche Bild eines jungen Mannes im Gedächtnis behalten, der in der Rechten ein Bündel hielt, in der Linken seine Jacke, und so einer Panzerkolonne den Weg versperrte und sie wie Charlie Chaplin einige ewig zu dauern scheinende Minuten lang zum Tanzen brachte - ein kleiner Schritt nach rechts, einer nach links, einer nach vorn, einer nach hinten... Ehe die chinesische Volksarmee ihr Massaker beging, erlitt sie ihre schwerste Niederlage in einem sakrilegisch anmutenden Lachanfall.
Mit Vaclav Havel ehren Sie einen unbequemen Intellektuellen, der weiß, daß er stört, und nicht daran denkt, davon zu lassen. „Der Intellektuelle paßt von seinem Wesen her nirgendwohin. Überall stört er oder ragt irgendwie heraus. Er ist in keine Schublade restlos einzuordnen.“ Sie überreichen den Friedenspreis einem, der vom Friedensgerede nicht viel hält. Einem, der auf dem Höhepunkt des apokalyptisch anmutenden Pazifismus ganz unfeierlich erklärte, das Wort „Frieden“ würde in ihm den üblichen Reflex eines sozialistischen Bürgers auslösen - ein ungeheures Gähnen vor lauter Langeweile. Sie ehren zumal einen Schriftsteller, der weiß, daß die Arbeit an den Worten absolut notwendig ist - eine Arbeit, die sich keiner in diesem Jahrhundert ersparen kann, in dem jedes Wort zum Slogan werden kann, in dem der Aufschrei des Herzens so vielen Manipulationen unterworfen werden kann und in dem gute Absichten zur allerschönsten Verpackung schlechter Taten dienen. Übersetzung: Helmut Kohlenberger
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen