: „Rücktritt - Logik der Entwicklung“
Reinhard Schult vom Sprecherrat des Neuen Forums zu Honeckers Rücktritt ■ I N T E R V I E W
taz: Vor zehn Minuten wurde Honeckers Rücktritt und Krenz‘ Kür gemeldet. Erste Einschätzung des Neuen Forums?
Reinhard Schult: Das ist nur ein Personenaustausch. Egon Krenz, der Sekretär für Sicherheitsfragen, war für alle Übergriffe der letzten Jahre zuständig, den Überfall auf die Umweltbibliothek 1987 und das Vorgehen gegen friedliche Demonstranten in den letzten Wochen. Außerdem fällt die Wahlfälschung bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 in seinen Verantwortungsbereich. Insgesamt ist er nach unserer Ansicht ein Kandidat Honeckers. Umso mehr sind wir überrascht. Den Personalwechsel halte ich für eine logische Folge der Entwicklung. Man versucht, die diskreditierte Hauptperson abzulösen, ein neues Angebot zu machen und so die gesellschaftliche Entwicklung aufzuhalten. Bevor man strukturelle Reformen angeht, das Neue Forum und andere Gruppen zuläßt, werden Personen ausgetauscht. Das ist einfacher.
Wie wird die Bevölkerung reagieren?
Ich glaube nicht daß der Druck, unter dem die SED steht, sich auflösen wird. Die Bewegung ist schon so politisiert, daß sie sich nicht durch kosmetische Korrekturen abspeisen läßt. Es wird auf grundlegende Reformen ankommen. Außerdem dürfte es nicht reichen, daß Honecker zurücktritt. Noch ist ja unklar, ob noch andere Personen mit ihm gehen. Ich kann mir schlecht vorstellen, daß Egon Krenz als personelles Angebot von der Gesellschaft akzeptiert wird.
Wer müßte mit Honecker seinen Hut nehmen, um eine politische Kursänderung anzudeuten?
Große Teile des Politbüros müßten zurücktreten. Glaubwürdigkeit verspielt haben vor allem Mielke (Stasi -Chef, d. Red.), Hager (Parteiideologe) und Stoph (Honeckers Stellvertreter). Herrmanns frühere Tätigkeit als Chefredakteur ist auch keine Empfehlung für eine politische Zukunft. Ansonsten sind die Unterschiede kaum öffentlich bekannt geworden. Noch vor einer Stunde hätte ich nicht sagen können, wer die Alternative zu Honecker sein könnte. Außerhalb des Politbüros wurden die Namen Modrow und Markus Wolf genannt. Aber deren Verhalten rechtfertigt keinen besonderen Vertrauensvorschuß.
Wird die SED mit einem personellen Wechsel ihre Glaubwürdigkeit wieder herstellen können?
Da bin ich skeptisch. Es wird davon abhängen, ob Veränderungen im Lande passieren und ob die Partei es schafft, sich an die Spitze dieser Reformen zu stellen. Dazu müßte sie konzeptionell etwas anbieten können. Bisher hat man Löhne erhöht, Videorecorder gekauft oder Bananen am 7. Oktober verteilt, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Das reicht jetzt nicht mehr. Doch die Partei hat nicht sehr überzeugend dargestellt, daß sie in der Lage ist, eine andere Politik zu machen.
Es gibt das Gerücht, Krenz habe nach den Verhaftungs- und Prügelwellen vor und während des Republik-Geburtstages das Ruder herum gerissen, sei für die neue Zurückhaltung der Sicherheitskräfte verantwortlich.
Das kannst du glauben oder auch nicht. Für uns vom Neuen Forum bleibt die Meßlatte dort, wo wir sie kürzlich hingehängt haben. Nach unserer Definition bedeutet echter Dialog: 1. Zulassung des Neuen Forums und aller anderen Basisgruppen, Parteien und Bürgerinitiativen, die sich für die Demokratisierung der Gesellschaft einsetzen. 2. Zugang zu den Massenmedien. 3. Pressefreiheit und Abschaffung der Zensur. 4. Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit. Nicht zu vergessen die Freilassung aller Inhaftierten. Das haben wir bereits vor einigen Tagen gesagt und dabei bleiben wir.
Interview: Petra Bornhöft
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen