: Miese Datenbasis behindert Weltmarktintegration
RGW-Wissenschaftler auf Malenter Symposium sehr gespalten über Zukunft der Planwirtschaft / Reform des Ostblockhandels jedoch grundsätzlich unumstritten ■ Aus Malente Ulli Kulke
Die Länder des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) sind zwar nach wie vor in der komfortablen Situation, größere Kreditwürdigkeit als die meisten verschuldeten Staaten der Dritten Welt zu genießen. Diese Lage wollen sie allerdings nicht dazu ausnutzen, den mit unterschiedlicher Geschwindigkeit angepackten Reformprozeß in Richtung Marktwirtschaft durch erhöhte Kreditaufnahme zu unterstützen. Auf verstärkte Integration in den westlich dominierten Weltmarkt setzen sie gleichwohl. Dabei erwarten insbesondere Ungarn, Polen und die Sowjetunion von dieser verstärkten Zusammenarbeit eher handfeste Unterstützung als Cash: Technologie-Transfer, Manager-Schulung in Sachen Marktwirtschaft und marktwirtschaftliche Betriebsführung sowie direkte Firmenkooperation im Zuge von Joint Ventures. Zumindest was die Außenwirtschaft angeht, so wird auch die DDR von einigen „Bruderstaaten“ in den Sog der angestrebten Westorientierung von ihren entscheidenden Nachbarstaaten hineingezogen.
Diese Entwicklungen zeichneten sich auf dem Malenter Symposium der Drägerstiftung ab, das am Mittwoch beendet wurde und zu dem teilweise hochrangige Politiker und Wirtschaftswissenschaftler aus Ost und West angereist waren (siehe auch taz von Mittwoch). Die Unterschiede zwischen den reformwilligen Staaten um die Sowjetunion, Polen und Ungarn einerseits und der vorerst traditionell-planwirtschaftlich verharrenden Gruppe DDR, Bulgarien und Rumänien wurden dabei so offensichtlich, daß eine Reihe von Teilnehmern schon vom „ehemaligen“ RGW sprachen.
In der Tat klaffen die Reformüberlegungen sehr weit auseinander. Markantestes Beispiel: Der sowjetische Professor und Moskauer Regierungsberater Ivan Ivanov mahnte an, daß man in seinem Land noch nicht konsequent genug denke, was die Einrichtung eines Aktienmarktes angehe, um unter anderem auch das übergroße Sparvolumen der Bevölkerung abzubauen. In Ungarn gibt es bereits eine Börse, der Chef des DDR-Institutes für internationale Politik und Wirtschaft (IPW), Professor Max Schmidt, lehnte sie dagegen für die DDR strikt ab - wie überhaupt der ungarische und sowjetische Weg in der DDR mit großer Skepsis verfolgt wird. Schmidt war beispielsweise erschüttert darüber, daß in beiden Ländern nicht mehr die Vokabel „sozial“ in der Diskussion auftauche. „Jedes Land geht seinen eigenen Weg“, dies ist stets die stereotype Antwort seitens der DDR-Vertreter. Informelle Gespräche bestätigten dabei die persönliche Überzeugung der DDR-Wissenschaftler, daß es falsch wäre, den Budapester Weg zu gehen. Sie bestätigen aber auch eines: An der Weltmarkt -Orientierung kommt auch sie nicht vorbei.
Hier setzen eindeutig die Reformländer die Maßstäbe. Wenn sie, wie geplant, ihren Außenhandel auf Dollarbasis verrechnen sollten, so ist das ganze Handelssystem des RGW, das auf jeweils streng bilateraler Tauschhandelsebene läuft, gesprengt. „An der Multilateralen Verrechnung des Außenhandels führt doch sowieso kein Weg vorbei“, ist denn auch aus DDR-Mund zu hören, „auch die Dollar-Verrechnung wäre da ein Weg, warum nicht?“ Auch deutete DDR -Oberwissenschaftler Schmidt indirekt an, daß in seinem Land auch vorsichtig über Joint-ventures nachgedacht werde. Entsprechende Gesetze könnten seiner Ansicht nach jedenfalls „schnell“ verabschiedet werden. DDR-Experten gehen davon aus, daß speziell in diesem Land die Angst davor herrscht, die nach dem Krieg in den Westen ausgelagerten Firmenzentralen könnten sich ihre alten Betriebsstätten in der DDR wieder einverleiben.
Über die Handelsverrechnung auf Dollarbasis erhoffen sich Wissenschaftler und - mit Abstrichen auch Politiker, sie geben damit Macht aus der Hand - vor allem eines: Die Ermittlung reeller Preise, die letztendlich auch auf die Binnenwirtschaft durchschlagen soll. Doch um dieses Durchgreifen konsequent zu Ende zu führen, dafür bedürfte es vor allem eines: Die Konvertibilität der jeweiligen Landeswährung: freie Austauschbarkeit auf dem Devisenmarkt. Max Schmidt gesteht für sein Land einen Hinderungsgrund freimütig ein: Die Produktivität vor allem in der Fertigungsindustrie sei bei weitem noch nicht so weit entwickelt, daß man sie dem brutalen Weltmarktpreisgefüge ungeschützt aussetzen könnte.
Letzten Endes steht dem freien Austausch von Gütern und Währungen jedoch etwas viel Grundlegenderes im Wege. Der gesamte Ostblock wird von einer völlig unzureichenden Datenbasis über das wirtschaftliche Geschehen bedrückt. Jan Vanous, Ostwirtschaftsforscher aus den USA, sieht hier durchaus noch keine Besserung seit Einführung von Glasnost: „Es ist jetzt noch nicht festzustellen, was in der UdSSR im ersten Vierteljahr los war. Die Daten sind schlicht verschwunden.“ Ähnlich liegt es in den anderen Länder, wobei sein Institut in der CSSR die Daten von den Betrieben regelrecht abkaufen mußte. Nur in Polen, daß von den westlichen Gläubigern regelrecht auseinandergenommen wurde, liege „alles auf dem Tisch“. Die Professorin Christine Kulke -Fiedler vom Ost-Berliner IPW hofft diesbezüglich auf externe Hilfe: Sie sei „mit der Statistik auch nicht zufrieden“ und hofft jetzt auf Besserung, weil sich ihr Land im Zuge der KSZE-Konferenz dazu verpflichtet habe. An ideologischen Scheuklappen soll es bei der Datenerfassung künftig jedenfalls nicht liegen: Professor Ivanov konnte berichten, daß man in der Sowjetunion jetzt immerhin daran gehe, die verschiedenen Geldmengen-Abgrenzungen „M 1, M2, und M3“ einzuführen, auf die sich vor allem die Monetaristen stützen, „obwohl wir noch nicht zu Milton Friedman übergelaufen sind“. Grundsätzlicher Tenor in Malente: Die Verschuldungslage der RGW-Länder ist nicht besonders prekär. Zwar stiegen die Dollarschulden der gesamten Gruppe zwischen 1984 und 1988 um gut 60 Prozent auf ca. 140 Milliarden Dollar. Dies liegt jedoch vor allem an dem Dollarkurs -Rückgang während derselben Zeit. Da ein Gutteil der Kredite jedoch auch in anderen Währungen - nicht zuletzt in DM aufgenommen wurden, verringert sich die zusätzliche Belastung aus diesem Anstieg entsprechend. Darüber hinaus haben die Ostblockländer insgesamt gehörige Forderungen an andere Länder, insbesondere die Sowjetunion. Der Chef der sowjetischen Außenhandelsbank, Vitaly S. Khoklov, meinte jedenfalls, Drittweltschuldner bereiteten der UdSSR erheblich größere Probleme als die Sowjetunion ihren Gläubigern im Westen mache. Die CSSR ist Nettogläubiger gegenüber der nichtsozialistischen Welt, und Rumänien hat seine Auslandsschulden erstmal auf Null geschraubt - wenn auch unter barbarischen Opfern der eigenen Bevölkerung. Moderator Klaus Engelen, Währungsspezialist des „Handelsblattes“ wandte sich denn auch mit einem bemerkenswerten Vorschlag an die Sowjetunion, der bei deren Schwierigkeiten mit ihren Drittweltschuldnern für Abhilfe sorgen sollte: Ob denn die UdSSR bei der Schuldeneintreibung nicht auf die Erfahrungen und die Institutionen des IWF oder der Weltbank zurückgreifen wolle? Bei aller Perestroika und Glasnost: Nach der Ära des Revolutionsexportes nun die Ära des Exportes der Marktwirtschaft auf der Basis von Gläubiger -Schuldner-Beziehungen, damit würde sich die Sowjetunion in ihrem wirtschaftlichen Reformeifer selbst überholen.
Trotz relativ entspannter Schuldenlage: Neue Kredite wollen die Ostblockländer eher vorsichtig aufnehmen. Das Zauberwort dagegen heißt mehr denn je „Joint ventures“ (Gemeinschaftsbetriebe östlicher und westlicher Unternehmen). Mit dem bisherigen Ausmaß ist man vor allem in der UdSSR noch sehr unzufrieden. Deshalb wurden auch die steuerlichen und rechtlichen Bedingungen für die westlichen Firmen deutlich verbessert. Vertreter bundesdeutscher Joint -venture-Partner belagten indes weniger die rechtlichen Gängelungen in der Vergangenheit als mehr logistische Probleme. Da die Zulieferbetriebe rund nach wie vor der Planwirtschaft unterlägen, könnten sie beileibe nicht den flexiblen Anforderungen westlicher Firmenpartner gerecht werden. Joint-venture-Pionier Salamander, freilich mit jahrzehntelanger UdSSR-Erfahrung, hat sich denn auch ein ganzes Netz eigener Zulieferbetriebe aufgebaut - ganz im Sinne des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth, der in seiner Eröffnungsrede ein ganzes System marktwirtschaftlicher „Inseln“ im Reich der Planwirtschaft entwarf, mit dem letztere nach und nach konvertiert wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen