: Krenz an die Bürger der DDR
Auszüge aus der Rede des neuen Generalsekretärs der SED ■ D O K U M E N T A T I O N
DDR-Fernsehen, erstes Programm, Mittwoch 20 Uhr: Auf dem Bildschirm erscheint der Schriftzug: „Egon Krenz an die Bürger der DDR“. Sekunden später taucht das Gesicht des neuen Generalsekretärs der SED auf: Hängender Unterkiefer, schiefes Lächeln, schläfriger und trübseliger Blick. Der neue Mann an der Spitze der DDR wirkt, als könne er noch gar nicht glauben, was ihm an diesem Tag widerfahren ist. Doch plötzlich verschwindet der Eindruck, aus Versehen in eine neue Folge von „Spitting Image“ geraten zu sein. Krenz hat das rote Licht an der Kamera erspäht, erschrickt kurz und hebt an zu sprechen:
„Liebe Genossinnen und Genossen!
Ich danke dem Zentralkomitee für sein Vertrauen. Mir ist das Gewicht der Verantwortung bewußt, der ich mich stelle. In eurem Auftrage, im Interesse unserer Partei und unseres Volkes bin ich bereit, diese Pflicht zu übernehmen!
Wenn man mich fragt, was mich in dieser Stunde bewegt, dann gibt es nur eine Antwort: das ist der Gedanke an viel gemeinsame Arbeit. Miteinander zu reden und zu streiten ist wichtig. Sich gegenseitig zu verständigen ist notwendig. Miteinander zu arbeiten, unsere Perspektive zu planen und mit Vernunft zu regieren aber bleibt das Entscheidende.
Es ist mir in diesem Augenblick ein Bedürfnis, Genossen Erich Honecker herzlich zu danken für seine Arbeit, die er in den vergangenen Jahrzehnten an der Spitze unserer Partei geleistet hat. Wir wünschen dir, lieber Genosse Erich, vor allem Gesundheit. Wir sind überzeugt, daß unsere Partei auch künftig auf dich bauen kann.
Fest steht, wir haben in den vergangenen Monaten die gesellschaftliche Entwicklung in unserem Lande in ihrem Wesen nicht real genug eingeschätzt und nicht rechtzeitig die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen.
Wir wenden uns an alle, mitzuarbeiten, mitzuplanen und mitzuregieren. Laßt uns gemeinsam anpacken, was wir anzupacken haben.
Jeder hat in den letzten Monaten gespürt: Wir erleben die Verschärfung von Widersprüchen bei der Verwirklichung des Programms unserer Partei und der Beschlüsse unseres XI. Parteitages. Die Probleme in der Volkswirtschaft, im Binnenhandel und auf den Außenmärkten haben zugenommen. Es häuften sich ungelöste Fragen bei der bedarfs- und qualitätsgerechten Versorgung der Bevölkerung. Ungereimtheiten bei der Durchsetzung des Leistungsprinzips nahmen zu. Lohnpolitik, Subventionen und soziale Leistungen werden lebhaft diskutiert. Sorgen macht auch die Erhaltung der natürlichen Umwelt.
Mehr als hunderttausend - darunter nicht wenig junge Leute
-sind aus unserem Land weggegangen. Das ist ein weiteres Symptom für die entstandene komplizierte Lage. Ihren Weggang empfinden wir als großen Aderlaß. Jeder von uns kann die Tränen vieler Mütter und Väter nachempfinden. Wir haben manchen menschlichen, wir haben politischen und ökonomischen Verlust erlitten. Diese Wunde wird noch lange schmerzen. Nicht wenige Äußerungen von Ausgereisten vor der Kamera westlicher Fernsehstationen haben aber auch die Würde und den Stolz ihrer Eltern, Freunde und Kollegen und vieler von uns verletzt. Das entbindet jedoch niemanden von der Pflicht, bei sich und in seiner Umgebung darüber nachzudenken, warum uns so viele Menschen den Rücken gekehrt haben. Nur wenn wir uns rückhaltlos den Ursachen, die in unserer Gesellschaft entstanden sind, zuwenden, werden wir denen, die sich auch jetzt noch mit dem Gedanken der Ausreise tragen, möglicherweise einen Anstoß geben, ihren Entschluß zu überdenken. Wir brauchen sie.
Mit der Erklärung des Politbüros vom 11. Oktober wurde im Sinne unserer Politik von Kontinuität und Erneuerung die Tür breit geöffnet für den ernstgemeinten, innenpolitischen Dialog. Die sozialistische Gesellschaft braucht den selbstbewußten und kritischen Bürger, den mündigen Bürger. Unsere Gesellschaft verfügt über genügend demokratische Foren, in denen sich die unterschiedlichsten Interessen der verschiedenen Schichten der Bevölkerung für einen lebenswerteren Sozialismus äußern können. Die breite Entfaltung der sozialistischen Demokratie in der DDR sollte jedoch von niemandem als Freibrief für verantwortungsloses Handeln mißverstanden oder gar für Gewalt- und Zerstörungsakte mißbraucht werden. Auf solche Handlungen kann es nur eine Antwort geben: Sicherung von Ruhe und Ordnung, der friedlichen Arbeit der Bürger, der Schutz der Werte, die wir alle geschaffen und für die wir alle zu bezahlen haben. Wer sich gegen die Grundlagen unserer gesellschaftlichen Ordnung wendet, der muß sich indes fragen lassen, ob er ein anderes gesellschaftliches System als die übergroße Mehrheit unseres Volkes will. Für uns ist klar: Der Sozialismus auf deutschem Boden steht nicht zur Disposition!
Die zunehmende Vielfalt ist zweifellos ein Gesetz der Entwicklung des Sozialismus. Gerade diese Unterschiedlichkeit, der Reichtum an Neuem, von sich Erprobendem, mit all den Risiken, die damit verbunden sind, verlangt das Aufeinanderzugehen, den Austausch von Erfahrungen, Meinungen und Problemstellungen. Nie war das Klima dem dienlicher und dafür fordernder als heute. Wir haben die Zeichen der Zeit zu erkennen und entsprechend zu reagieren, sonst wird uns das Leben dafür bestrafen. Diese Erfahrung der sowjetischen Kommunisten, auf die unser Kampfgefährte Michail Gorbatschow zum DDR-Jubiläum hingewiesen hat, wird uns in unserer künftigen Arbeit begleiten.
Das Politbüro hat der Regierung der DDR den Vorschlag unterbreitet, einen Gesetzentwurf über Reisen von DDR -Bürgern ins Ausland vorzubereiten. Wir gehen davon aus, daß dieser Entwurf nach öffentlicher Aussprache in der Volkskammer behandelt und beschlossen werden sollte. Im Zusammenhang damit könnten ebenfalls die zeitweilig getroffenen einschränkenden Maßnahmen zum Reiseverkehr in sozialistische Bruderländer aufgehoben beziehungsweise modifiziert werden.
Unsere Presse kann nicht Tribüne eines richtungslosen, anarchistischen Geredes werden. Sie wird mit Sicherheit kein Tummelplatz für Demagogen sein, und sie muß - wie die Politiker - darauf achten, daß komplizierte Sachverhalte und Fragen nicht durch allzu flinke und simple Antworten verwässert werden.
Es wird in unserer Deutschen Demokratischen Republik keinen anderen Sozialismus geben als den, den wir gemeinsam mit allen schaffen und verteidigen. Alles liegt in unserer Hand, alles liegt in unserer Gemeinsamkeit, alles liegt in der Einheit und Geschlossenheit unserer Partei.
Ich danke euch.“
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